Geh hinunter nach Chinatown und versetze dort deinen tibetanischen Geisterdolch und den magischen Spiegel. Beides wirst du unterwegs auf dem Pfad nicht brauchen können. Das Zeug bringt dich unweigerlich in Schwierigkeiten, hilft dir aber nur selten wieder hinaus. Tausche sie gegen den geflickten grauen Mantel. Wenn dir die ersten eisigen Regentropfen, die Vorboten des Sturms, ins Gesicht klatschen, brauchst du keinen Wettermann mehr, der dir sagt, woher der Wind bläst. Es ist der Wind der Veränderung, der Wind der Wandlung. Du weisst es, ohne ins Buch der Wandlungen, ins I Ging, zu schauen. Letztes Mal hast du die Nr. 18 gezogen, das Zeichen «Gu», die Arbeit am Verdorbenen. Dort heisst es:

«Unten am Berg weht der Wind: das Bild des Verderbens.
Fördernd ist es, das grosse Wasser zu durchqueren.»

Worauf also wartest du? Mach dich auf den Weg und wirf die chinesischen Schafgarbenstengel ins Feuer; dann erhältst du das 65. Hexagramm, das keinen Namen mehr hat, kein Zeichen und keinen Makel. Warum willst du erst Hemingway fragen, wem die Stunde geschlagen hat? Leih dir eine von Dalis weichen Uhren und zieh los. Notfalls indem du dich nicht von der Stelle rührst. Suche nicht nach Wasser, werde durstig. Und falls deine Sehnsucht aufrichtig ist, wird der Weg auch zu dir kommen.
Der Pfad liegt offen vor dir, der Mond scheint hell, noch bevor der Morgen anbricht, wirst du verschwunden sein. Lass sie sitzen, du schuldest ihnen nichts. In den Tresoren und den Katakomben ihrer Paläste und Fabriken haben sie hunderte Fässer mit flüssigem Nitro eingelagert. Sie wissen es bloss nicht. Die Lunte glimmt bereits, und wenn ihr Laden hochgeht, solltest du fort sein, weit, weit fort. Seit alters her führt unser Pfad durch die abgelegenen Gebiete. Die Wege kreuzen sich stets weit draussen, vor dem zur Nacht verschlossenen Stadttor. Dort liegen die verdächtigen Wirtshäuser, die Gerbereien und die Mühlen, wo manche schwarze Kunst gelehrt und Freikugeln gegossen werden. Unweit davon verläuft der Wechsel der gefallenen Alchimisten des Wortes.
Die Erschöpfung schlägt zu und schlaftrunken wankst du wie Morpheus durch die Oberwelt, aber dein Tempo ist hoch und nur die Dichter und Poeten bleiben dir auf den Fersen. Sie flüstern direkt in dein benebeltes Bewusstsein, sieh, dort hinten, in der kleinen dunklen Seitengasse, dort sind die Lichter des alten Orientcafés, das schon dort stand, als es die Stadt noch nicht gab. Dort findest du Einkehr und Rat. An den Tischen sitzen die Menschen lauteren Herzens und spielen mit hohem Einsatz längst vergessene Brettspiele. Der Ober ist dein Gefährte. In seinem Gesicht stehen keine Fragen mehr, er hat sie irgendwann mal jemanden gegeben, der mehr damit anfangen konnte. Den Besitzer bekommt man nie zu Gesicht, es heisst, er wäre in der Werkstatt bei der Arbeit, worauf weder du noch die Dichter sich einen Reim machen können. Hier bist du unter Freunden, dein Herz wird leicht und die Zeit hört auf, zu verstreichen, das heisst, draußen vergeht sie jetzt doppelt so schnell, und es wird Herbst sein, wenn du wieder auf die Strasse trittst. Es erfüllt dich mit Freude und Zuversicht, dass du einen solchen Ort gefunden hast, und du nimmst dir fest vor, am nächsten Abend wiederzukehren. Doch am nächsten Abend liegt die Gasse verödet da, der Ort der gestrigen Verzückung ist verwaist, das Haus steht seit Jahren leer, die Fenster sind mit Brettern verrammelt und ein einbeiniger Bettler lehnt am Türrahmen und verteilt Almosen an Leute, die ihrer nicht bedürfen. In deiner Bestürzung fragst du in der Nachbarschaft, doch niemand hat je von einem Café gehört, weder Orient noch Okzident. Der einbeinige Bettler gibt dir zwei Goldstücke aus Messing und zitiert den Alten von der Furt: «Die Hunde bellen, das Orientcafé zieht weiter.» Du wirst die Witterung erneut aufnehmen müssen, es ändert ständig seinen Ort und seine Gestalt, ist ein Café am Strand von Viareggio, eine Dönerbude in Kreuzberg und ein Gas, Food & Lodging an einem amerikanischen Highway, vor dem Dean Moriarity gestern noch einen Pick-up gestohlen hat. Den Zugang und den Schlüssel zu diesem Café, den trägst du jedoch immer in dir. Gib acht!

Axel Monte (1962–2016), Übersetzer, Autor, Herausgeber des Little Mags «Rude Look», dessen Kulturen verbindendes Konzept er in seinem Kleinverlag Books Ex Oriente, München, ab 2009 bis zu seinem Tod weiterführte. Im Austausch mit Hadayatullah Hübsch schrieb Axel Monte «Asphalt Derwisch» (Heinz Wohlers, 2007). Seine Novelle «Trespass City» (Stadtlichterpresse, 2016) ist eine Erleuchtung; sie kann auch im Internet, gelesen von Christian C. Kruse und Lars Sinda, angehört werden. Axel Montes Mesostichon HADAYATULLAH ist inspiriert von Hübschs autobiografischem Bericht «Keine Zeit für Trips» (Koren & Debes, 1991).
«Café Oriental» erschien postum erstmals in der «MAULhURE» #6, Berlin 2018.

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