Was bisher geschah: Bundesrat Liechti hat es schwer. Die Nachbarn nerven, der persönliche Assistent hat Verdauungsprobleme und seine jahrelang ausgearbeitete Gesetzesänderung wird abgelehnt. Auf einer Helikopterreise ins Liechtenstein schreibt er bereits sein Testament. Fehlt nur noch das bundesrätliche Berglager.
Bundesrat Liechti ist deprimiert. Er sitzt auf der Latrine in der Blüemlisalp-Hütte ob Kandersteg auf 2800 Meter Höhe und friert sich den privatversicherten Hintern ab.
Auf Einladung von Bundespräsidentin Müller-Chirat verbringt die Regierung der Schweiz ihre traditionelle zweitägige Bundesratsreise in den Kantonen Bern und Wallis, die Nacht in der SAC-Hütte. Wäre Bundesrat Liechti nicht hochkonzentriert damit beschäftigt, sich mit der in Längsstreifen gerissenen Berner Zeitung zu säubern, würde er in Tränen ausbrechen ob der Vorstellung, diese Nacht mit den von jeglichen Sachkenntnissen unbeschwerten Bundesratskollegen Kocher, Möri und Alberti schlaflos im Männerschlag zu verbringen.
Bundesrat Liechti hasst den jährlichen Bundesratsausflug. Am Nachmittag sind sie beim Tellerli-Lift des Sunn-büels gestanden. Liechti und Bundesrätin Gökdal haben verhaltensgestörte Skilager-Skischüler aus Pruntrut mit Bällen, Reifen und Skistockrennen in die Schweizerische Zivilgesellschaft integriert. Die Skischüler haben die Bälle, Reifen und Skistöcke im Schnee vergraben, und weil der holländische Fotograf der Schweizer Familie den Helm zuhause vergessen hatte und ohne diesen der Bundespräsidentin nicht die Schwarze Piste ab folgen mochte, musste Liechti der Skilehrerin helfen, alles wieder auszugraben und dabei landesväterlich in die Kamera zu lächeln.
Im Bergrestaurant am Mittag gab es Fitness-Salat und Roggenbrot-Sandwich mit Gurken und Margarine. Da kratzte Bundesrat Liechti die Etikette am Rivella ab und begann, auf der Rückseite das Für und Wider eines Rücktritts zu notieren. Eine Liste, die er nun auf dem Plumpsklo hervornimmt und in der Pro-Rücktritts-Spalte um den Punkt «Der Bergind weht mir das Schiissi-Papier den Rücken hoch» erweitert.
Zurück in der Hütte ruft ihm Bundespräsidentin Müller-Chirat zu, er solle erstens die Tür schliessen und zweitens Hüttefinke anziehen und drittens den Knoblauch fürs Fondue schneiden. Bundesrätin Gökdal hat seit dem nachmittäglichen Scharmützel mit den jurassischen Béliers eine schwere Migräne, und Gesundheitsminister Alberti pflegt sie mit Arnika-Kügeli und Notfall-Täfeli.
Bundesrat Kocher diskutiert mit Bundesrat Möri, wohin wohl die Crémant-Schokolade fürs Dessert verschwunden ist. Beide blicken vorwurfsvoll zu Bundesrätin Bonnet, und zumindest Kocher nimmt sich vor, in der nächsten Bundesratssitzung Bonnet mit ihrer Steuerrevision hängen zu lassen.
Bunderat Liechti schneidet Knoblauch mit dem Hüttenwart, der ihm zum dritten Mal erzählt, dass er mit Adolf Ogi verwandt sei, und Liechti sehnt sich nach Teigwaren daheim bei seiner zweiten Frau und den drei kleinen Kindern. Lieber als ein Fondue mit den Regierungskollegen wären ihm nun sogar Linsen und Bohnen bei seiner ersten Frau und den erwachsenen zwei nichtsnutzigen Kindern. Als der Hüttenwart seine Nase mit der Rückhand abputzt und danach das Brot schneidet, da wäre Liechti sogar lieber bei einer Parteiversammlung seiner verhassten Partei, die das bundesrätliche Ruhegehalt kürzen will – dies ein Kontra-Punkt auf Liechtis Rücktrittsliste.
Liechti schüttet das fünfte Glas Weiswein hinunter und seine Prostatavergrösserung zwingt ihn, im Licht der Öllampe nach seinen schwarzen Winterstiefeln unter sieben Paar schwarzer Winterstiefel zu suchen und den vereisten Weg zur Latrine erneut in Angriff zu nehmen. Die Latrine ist besetzt. Bundesrat Kocher schaut sich auf dem Handy sein Streitgespräch mit dem deutschen Aussenminister auf SRF an und hört den klopfenden und klagenden Liechti nicht. Voller Zorn ob all der unkollegial ausgelebten Partikularinteressen Kochers stapft Liechti in den Schnee hinaus und würde gern ein Hakenkreuz in den Schnee schiffen. Wenigstens einmal möchte er auch einfach wieder Bubsein dürfen und die Sau rauslassen. Er ist sich aber nicht sicher, ob morgen früh die Journalistinnen mit ihnen hier oben frühstücken werden, Enthüllungsjournalismus betreiben und seine Regierungsbeteiligung in Frage stellen könnten.
Frühstück, denkt Liechti, wenn es nur schon so weit wäre! Dann nur noch einen sinnlosen Ausflug ins sinnlose Wallis auf den Simplon, und der Bundesratsausflug wäre ein weiteres Mal überstanden. In der Stube sieht Liechti den Hüttenwart an den Fondue-Rechauds hantieren. Bundespräsidentin Müller-Chirat erklärt Migräne-Rätin Gökdal die Regeln des Brettspiels Helvetia, und Liechti erinnert sich an den letzten Bundesratsausflug, wo er dieses verfluchte Spiel zwei Stunden lang hat lernen müssen und am Ende keinen blassen Schimmer hatte, weshalb wer wieso und wie gewonnen hat. Es war wie an einem Abstimmungswochenende.
Wenn er ehrlich ist – und Liechti ist jetzt auf 2800 Meter Höhe im Licht der Sterne und mit der zurückgezogenen Vorhaut keinen Wählerschichten verpflichtet – wenn er ehrlich ist, hasst Liechti Brettspiele, Bundespräsidentin Müller-Chirat, Direktzahlungen an Tellerli-Lift betreibende Bauern und überhaupt alles über zehn Meter über Meer. Er brunzt etwas, das wie die Stimmungskurve seiner ersten manisch-depressiven Frau aussieht in den Schnee, und mit Erfrierungen dritten Grades an der Eichel betritt Liechti die Stube in der Hütte, sucht sein Weisweinglas und findet den Kirsch, mit dem er sich auf den Ofen zurückzieht und sich zwischen dem Haufen Skihosen und Handschuhen verbergend eine politische Auszeit nimmt.
Ein Hot Pot, denkt Liechti, ein Hotpot wäre nun genau das richtige: Sich ins heisse Wasser legen und sich wie ein römischer Senator die Pulsadern aufschneiden.
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Liechti sei ein Heuchler, heisst es hier und da. Beim Sponsorenlauf rund ums Bundeshaus unter dem Motto «Ich laufe, damit Minenopfer wieder gehen können» habe er den Organisatoren geizige zehn Franken pro Runde zugesagt und noch vor Vollendung der vierten Runde mit vorgetäuschter Atemnot aufgegeben.
Solche Charakterschwächen will sich Liechti nicht länger nachsagen lassen. Er besucht das Antikenmuseum in Basel, um sich einmal ernsthaft für Kultur zu interessieren. Nicht nur beruflich und dem Anschein nach, sondern privat und mit offenem Herzen. «Nie ist es zu spät», hat er am Vorabend in seine Autobiografie-App getippt, «dem Gemälde seines Lebens ein paar belebende Striche zu geben, auf dass darauf wenigstens Spuren guten Willens sichtbar werden.»Unter all den Relikten untergegangener Kulturen ist Liechti nicht wohl in seiner Haut. Die orientalischen Göttinnen, syrischen Idole und ägyptischen Katzenmumien geben ihm das Gefühl, dass da etwas über ihm steht, was gesellschaftspolitisch nicht zu lenken ist. Während ich Budgets debattiere, Steuerschlupflöcher stopfe und mein bundesrätliches Ruhegehalt verteidige, spielt ein «Jenseitiges» mit mir, denkt Liechti.
Ein Lindwurm aus Schülerinnen schiebt sich an ihm vorbei. Am Schwanzende des Lindwurms ist ein Mädchen stehen geblieben und staunt mit unverhüllter Neugier einen meterlangen, zweitausendjährigen Papyrus an.
«Was ist denn das für ein Plakat?», fragt die Schülerin.
«Das ist das Totenbuch eines Pharaos», liest Liechti von der Wand ab. «Eine Sammlung von Sprüchen, die dem Verstorbenen mit ins Grab gegeben wurde. Ein Pharao ist der Bundesrat der alten Ägypter.» «Aber was steht da?», fragt die Schülerin.
«Grüss dich, Pharao, steht da», improvisiert Liechti beschwingt. «Wir bieten dir in dieser Info-Broschüre leicht verständliche Tipps für die Reise ins Jenseits. Tipps zum Umzugskartonkistenfalten findest du auf Papyrus Abschnitt 4. Infos zur Übergabe der Pyramide – was heisst eigentlich besenrein? – findest du auf Papyrus Abschnitt 6.»Die Schülerin grinst von einem Ohr zum anderen. Im nächsten Moment scheucht sie eine aufgeregte Lehrerin weg. Die Schülerin wendet sich kurz um und zwinkert einem glücklichen Liechti zu. «Das Gewicht des Tages ergibt sich selten aus den Hauptgeschäften», tippt Liechti am Abend ins Autobio-App. «Die Begegnung mit einem jungen, bildungshungrigen Menschen gibt dem Tag seinen Glanz, liegt wie Goldstaub über ihm.» Und bar jeden Zusammenhangs endet der Eintrag: «Es hat etwas Subversives, in Basel zu sein und den Rhein nicht zu sehen.»
Ende