Bundesrat Liechti ist deprimiert. Seine Nachbarn, also die Steiners, fangen immer an zu pöbeln. Sie stehen am Gartenzaun und beschimpfen den Salat und die Schnecken und Liechtis zweite Frau. Mehr als einmal ist Herr Steiner über den Zaun gestiegen und mit einer Konservendose durch ihr Gemüsebeet gegangen.
Bundesrat Liechti hat den Kantonalen Polizeichef gebeten, ihm Tränengas zu besorgen. Das nächste Mal sprühe ich Steiner weg, sagt Liechti.
Liechti denkt: Verkaufen wir das Haus, starten wir neu in einer besseren Agglo, aber es geht nicht. Seiner zweiten Frau gefällt es hier. Es ist schön hier, am Hang, sagt sie, und wegen den Protestwählern da drüben räumen wir nicht das Feld. Ein Bundesrat rennt nicht weg, überhaupt hat jeder Mensch sein Los zu tragen. Die einen haben den Beruf oder eine Krankheit, und wir haben die Steiners, sagt sie.
In solchen Momenten wäre Bundesrat Liechti gern Mitglied einer Regierung in einer strenger geführten Demokratie, er denkt, einem Minister in Moskau werden nicht die Schnecken vom Lollo Rosso und der Brunnenkresse eingesammelt, im Bier ersäuft und vor die Haustür gestellt. Er denkt, vor russischen Ministern nähmen sich sogar Steiners Eichen in Acht. Drei Eichen haben Steiners. Der Wind weht und das Laub fällt. Und alles kommt herüber auf Liechtis Rasen. Die Schnecken stören sie, aber das Laub nicht. Die Eichen lassen sie wachsen. Seit Jahren liegt ihnen Bundesrat Liechtis zweite Frau in den Ohren: Nehmen Sie die Eichen doch weg. Schneiden Sie die Äste wie in einer Solidargemeinschaft üblich. Aber Steiners denken gar nicht dran.
Vor zwölf Jahren, als der damalige Nationalrat Liechti hierher zog, da hatte er selbst Eichen auf dem Grundstück. Aber Liechti ist ein Macher. Er hat sich gesagt: Gegen diese Ungeheuer muss ich was machen. Und er hat beschlossen, Rasen zu machen. Nun haben sie die Arbeit, und Steiners rühren keinen Finger. Es erinnert Liechti an die Zeit im Gemeinderat und den Kampf für die Evaluation der Gemeindefusion oder zumindest der Kläranlage-Fusion. Am liebsten würde er Steiners verklagen. Aber Frau Steiner würde den Journalisten den Dachbalken zeigen, an dem sich der Sohn aufgehängt hat, und Herr Steiner würde seinen schneckenfreien Blattsalat servieren, und Bundesrat Liechti wäre der Goliath und Steiners die Davids und wenn man ihn jemals zu einem Rücktritt zwingen wird, dann nicht wegen Steiners, sondern wegen einer Sexaffäre mit der Direktorin der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt, hofft Liechti.
Wo bleibt da der Rechtsstaat, fragt sich Liechti. Wieso kann man sich nicht schützen vor Steiners Laub? Eichen gehören in den Wald.
Die Schnecken und die Eichen und die bellfreudigen Appenzellerhunde. Sobald Liechtis vorbeifahren, schiessen die Viecher los und bellen wie wahnsinnig. Von Liechtis Pekinesen bellt nur einer. Den beiden anderen muss der Tierarzt mal in den Rachen schauen.Steiners lasssen die Meute draussen frei herumlaufen, Liechti hat die Parteikollegen vom Gemeinderat gebeten, Unterschriften zu sammeln, um Steiners Hunde einschläfern zu lassen. Aber die Parteikollegen sind Menschen, die ihre Miete immer noch per Einzahlungsschein auf der Post einzahlen, von ihnen erwartet Liechti nur politischen Aktivismus, wenn ihm sein nichtsnutziger Sohn aus erster Ehe heimlich eine farbige Pille in die Guacamole reibt.
Leicht hat es Bundesrat Liechti nicht. Weder mit Steiners noch mit seinem Erstgeborenen noch mit der Bundesversammlung, die in einem Vorstoss wissen will, ob die fleischfressenden Löwen und Leoparden in Schweizer Zoos genug Vitamin C bekommen.
Bundesrat Liechti raucht eine Parisienne aus dem Fenster in seinem Büro im Bundeshaus West und blickt neidvoll auf den Bundesplatz. In den Fontänen des Wasserspiels rennen Kinder umher, Väter schiessen Fotos und Mütter bücken sich unter Kinderwagen und klauben fröhlich Ersatzkleider aus Kitchenersäcken hervor.
Einen einzigen Tag lang möchte ich wieder wie ein normaler Bürger leben, denkt Liechti sehnsuchtsvoll. Dem Chauffeur frei geben, den Wagen selber fahren und fürs Benzin bezahlen! Statt Dossiers den Blick lesen! Statt im Cafe Valloton vom welschen Fraktionspräsidenten geärgert in einer ländlichen Gaststube von einer slowakischen Kellnerin bewirtet werden!
Da im Vorzimmer des Nationalrats nur noch das ennuyante NZZ-Feuilleton verfügbar ist und ihm in der Wandelhalle ein Privatradiomensch auflauert und seinen Standpunkt zum Security-Konzept Aarbergergasse erfahren will, setzt Liechti seine Utopie in die Realität um, stellt das Telefon ab, stiehlt sich aus dem Bundeshaus ins Parking, merkt, dass ihm für eine Spritzfahrt mit der Limousine ein eigener Zündschlüssel fehlt, verlässt das Parking und geht munter grüssend über den Bundesplatz, während die persönliche Mitarbeiterin ihm erfolglos simst, whatsappt, mailt und anruft, den für ein Gespräch bestellten Nationalratspräsidenten und den Privatradiomensch mit Kaffee vertröstet und sich auf die Suche nach einem Repräsentanten der Bundeshaus Security macht. Liechti hastet derweil auf den Bus zu, der am Bärenplatz wartet, obwohl alle Personen schon eingestiegen sind. Er glaubt, der Chauffeur warte auf ihn und beginnt zu laufen. Als Liechti nur noch ein paar Meter vom Ziel entfernt ist, fährt der Bus los. Liechti läuft um die Ecke und rennt in paralleler Richtung noch eine Weile weiter Richtung Bahnhof, damit etwelche Zeugen des Vorfalls glauben, der Lauf gehöre zur magistralen Morgengymnastik. Da ihm sein erwachsener Sohn aus erster Ehe das Generalabo aus dem Portemonnaie gestohlen hat und damit betrügerisch herumfährt, muss Liechti am Billet-Automaten ein Bahnticket lösen, einmal retour nach Herzogenbuchsee, einmal ermässigt, 50 Franken, was ihm, verglichen mit den Preisen, die er noch als gemeiner Bürger für den öffentlichen Verkehr bezahlt hat, ein wenig verteuert vorkommt. Da ihm zwei Tickets ausgegeben werden, vermutet sein bereits zurückgekehrter gesunder Menschenverstand, einen Fehler gemacht zu haben. Eine Vermutung, die sich als stimmig herausstellt. Nach einer Odyssee durch das Labyrinth des Berner Bahnhofs findet Liechti im zweiten Stock die letzten Schalterbeamten der Bundesbahnen, wo er sich erst eine Nummer ziehen muss, um später die Tickets rückerstattet und beim Lösen des richtigen hilfreich unterstützt zu werden. Auf die stornierten Tickets notiert er die Frage an Bundesratskollege Möri: «Service Public bei seiner SBB noch genügend?»Im Zug entziffert Liechti die Titelseite der Zeitung in den Händen seines Nachbarn: «Keuchhusten breitet sich aus – das BA für Gesundheit will Impfschutz erhöhen.» «In St. Gallen transportieren Diebe von einer Baustelle Keramikplatten, Metall und Kübel voll Schnellkleber ab.» Diese Nachrichten katapultieren Liechti sofort in seinen Krisenmanagement-Modus. Er widersteht der Regung, sein Smarthpone hervorzunehmen und Ideen für Arena-Einwürfe festzuhalten. «Wie können wir eine Gesellschaft, in der Grosis auf dem Totenbett beraubt werden, zurückführen auf den Pfad von Anstand und Tugend?»
Liechti geniesst die vierzig Minuten Mittellandlandschaft bis Herzogenbuchsee und entdeckt in sich ein Gefühl, das er von früheren, vielleicht elternhäuslichen Zeiten noch zu erkennen glaubt, aber nicht zu benennen weiss. Ein Gefühlsgemisch aus Ungeordnetheit, träger Lustlosigkeit oder lustloser Trägheit, gewürzt mit einer Prise wohltuender Melancholie. Was mag dies für ein Gefühl sein, fragt sich Liechti und erschrickt glücklich, als ihm die Lösung plötzlich einfällt: Die Langeweile! Das ist es – ich langweile mich! Es freut ihn ungemein, so rasch und energisch in die Volksseele eingetaucht zu sein und sich wie ein ganz herkömmlicher Mensch an einem ganz herkömmlichen Tag zu langweilen. Es ist Jahrzehnte her, dass er sich gelangweilt hat – vielleicht zuletzt bei diesem Gymerlehrer, als dieser die ganze Theorie zur Übersetzung des Wortes Kleeblatt im Lateinischen vorgetragen hat. Es kommt zwar öfters vor, dass Menschen an einer Rede Liechtis mit gespieltem Gähnen rufen: «Um Himmels Willen, hören Sie auf uns zu Tode zu langweilen, wen interessiert das schon?» Was Liechti selbst aber noch nie dem Reden abgewandt und einer Gefühlserkundung zugewandt hätte.
Als der Zug in Herzogenbuchsee hält, steigt Liechti aus, zufrieden und erleichtert, hat doch die erste Stunde als normaler Mensch ganz gut geklappt. So hart ist das Leben der Masse gar nicht, denkt er, vor allem erschweren ihr keine Fraktionspräsidenten, Bundesratskollegen, Chefbeamte und Privatradiomoderatorinnen das Leben.