Das Buch «No to Racism – Grundlagen für eine rassismuskritische Schulkultur» soll Schulakteur*innen dabei befähigen ein rassismuskritisches Klima in Bildungseinrichtungen zu etablieren. Was das genau bedeutet und inwiefern Bildung zu Care-Arbeit gehört, erklären Tilo Bur und Mani Owzar, zwei der drei Koautor*innen, im Interview mit der Fabrikzeitung.
Fabrikzeitung: Was versteht ihr unter rassismuskritischer Bildungsarbeit?
Mani Owzar: In erster Linie, dass Rassismus an Bildungsinstitutionen überhaupt thematisiert wird. Erst mal müssen anerkennen, dass wir ein Problem mit Rassismus haben. Rassismuskritische Bildungsarbeit versteht Rassismus als System anstatt als individuelle Handlung. Es beinhaltet auch, dass Menschen ihre eigene Bildung als Prozess verstehen und nicht denken, dass sie ausgelernt hätten, sobald sie ihre pädagogische Ausbildung beendet haben. Denn Rassismuskritische Bildungsarbeit – wie jede andere Bildungsarbeit – ist nie abgeschlossen.
Tilo Bur: Wir wollen dort ansetzen, wo die Menschen besonders vulnerabel sind: In der Schule, wo alle Kinder und Jugendlichen hinmüssen und den Strukturen komplett ausgeliefert sind. Um diese Strukturen zu verändern, müssen sich alle Akteur*innen im Bildungskontext bewusst sein, dass Rassismus nicht einfach eine Handlung zwischen zwei Personen ist.
FZ: Wieso ist antirassistische Arbeit gerade im Bildungskontext wichtig?
MO: Grundsätzlich ist es so, dass diese Bildungsarbeit nicht geleistet werden kann, wenn nicht alle Personen im Raum als gleichermassen wertvoll erachtet werden. Und solange diskriminierende Systeme in den Klassenzimmern wirken, sind wir nicht an diesem Punkt. Das heisst, die Grundlage für unsere Arbeit ist eigentlich nicht gegeben. Das lernt man sogar an der Pädagogischen Hochschule: Man kann nicht lernen, wenn man Angst hat. Und genau das ist der Fall, wenn man sich in einem Schulsystem mit rassistischen Strukturen befindet.
TB: Wir müssen uns ins Gedächtnis rufen, dass wir uns als Gesellschaft erst vor Kurzem dazu entschlossen haben, dass alle Menschen gleichwertig sind. Die alten Vorstellungen wurden noch nicht komplett dekonstruiert. So können wir nicht behaupten, dass wir «Schule für alle» machen, wenn wir uns nicht mit den Lebensrealitäten der unterschiedlichen Personen auseinandersetzen. Und Rassismus ist dabei nur eine der Diskrimierungsformen, denen wir uns widmen müssen. Die Idee der inklusiven Schule, dass man zum Beispiel möglichst keine Sonderschulen für neurodiverse Personen möchte, ist ebenfalls sehr neu.
FZ: An wen richtet sich euer Buch und was wird
darin vermittelt?
MO: Das Ziel des Buches ist es, möglichst vielen Schulakteur*innen mit auf den Weg zu geben, dass sie unbewusste Stereotypen im Kopf haben, denen sie sich bewusst werden müssen. Das Buch widmet sich vor allem an erwachsene Personen, die im Bildungssystem arbeiten. Aber auch an Eltern, die etwas zur Hand brauchen, weil sie Rassismus erkennen, sich aber auf nichts beziehen können. Viele Leute denken beim Thema Rassismus in der Schule an rassistische Beleidigungen. Die sind zwar ein Problem, aber nur ein kleiner Teil davon. Ein grosser Teil ist der unbewusst reproduzierte Rassismus: Aussagen in Lehrmitteln, die verwendet werden oder auch Rassismus im Teamzimmer.
TB: Es geht auch um Fragen wie: Welche Personen werden an einer Schule angestellt? Wen würde ich auf den ersten Blick als Putz- oder Hortpersonal einordnen, wen als Lehrperson? Unser Buch möchte die Leute bei sich selbst abholen, damit sie diese Strukturen in ihren eigenen Köpfen erkennen. Denn das ist der eigentlich wichtige Kampf gegen Rassismus.
FZ: Mit eurem Buch leistet ihr also Care-Arbeit für diejenigen, die wiederum Care-Arbeit für andere leisten.
MO: Genau, das war unser Ansatz. Das kam daher, dass wir an einer Schule für einen Workshop angefragt wurden, um Jugendlichen das Thema Rassismus näherzubringen. Leider ist genau das passiert, was wir befürchtet hatten: Die Jugendlichen, die teilweise selbst von Rassismus betroffen waren, haben zwar unseren Workshop besucht und wurden sensibilisiert. Aber die Lehrpersonen, das Hortpersonal oder die Schulleitung nahmen nicht aktiv daran Teil. So befanden sich die Schüler*innen weiterhin in einem diskriminierenden, unaufgeklärten Umfeld.
TB: Die Intention solcher Workshops kann nach hinten losgehen, weil man mit Aufklärung auch den Schutz der von Rassismus Betroffenen angreift. Viele Personen – auch ich – haben ihre eigenen Erfahrungen lange negiert, was überlebenswichtig sein kann. Das Ergebnis von solchen Workshops ist im schlimmsten Fall also, dass die Jugendlichen besser über ihre Situation Bescheid wissen, ihr aber trotzdem nicht entfliehen können, weil sich die Umstände nicht geändert haben, denen sie ausgesetzt sind. Deswegen wollen wir dort ansetzen, wo diese Umstände geschaffen werden: bei Personen in Machtpositionen.
FZ: Was sind es für konkrete Situationen, in denen Schüler*innen in Bildungsinstitutionen Rassismus erfahren?
TB: Es gibt verschiedene Ebenen von Rassismus. Da wäre die interpersonelle: Wenn ich dich rassistisch beleidige, deine Fähigkeiten in Frage stelle, deine Erfahrungen abspreche oder mir keine Mühe gebe um zu verstehen, wieso du denkst, was du denkst. Dann ist das eine Handlung von mir zu dir – also zwischenmenschlich. Diesen Situationen sind Kinder und Jugendliche sehr häufig ausgesetzt, aber sie sind nur ein Teil davon.
Es gibt auch den gesellschaftlichen Aspekt: Als das mit Georg Floyd passierte, wurde es nicht in allen Schulen behandelt, obwohl es die ganze Schweiz bewegt hat. Teilweise kamen Schüler*innen Wochen nach dem Ereignis zu mir, um darüber zu reden, weil sie es im Unterricht nicht getan haben. Zum Vergleich: Es wäre kaum denkbar, dass eine Mobilisierung wie der feministische Streik nicht angesprochen würde.
Wichtig ist auch der Aspekt der Repräsentation unter den Lehrpersonen: Wie viele von ihnen sind of color und in welcher Position arbeiten sie? Dort habe ich schon heftige Reaktionen von Kindern erlebt, weil sie völlig überrascht waren und nicht damit klar kamen, dass ich «aussehe wie sie». Sie haben sich darüber gefreut – aber es war klar, dass sie nahezu schockiert waren. Viele Erwachsene haben das Gefühl, dass Kinder so etwas nicht merken oder es ihnen egal sei – natürlich aber merken sie es, wenn ihnen in ihrem Leben keine einzige Lehrperson ähnlich sieht.
FZ: Inwiefern wird das Thema Rassismus in der pädagogischen Ausbildung thematisiert?
TB: In meinem dreijährigen Studium wurde es vielleicht zwei Nachmittage lang behandelt. Wichtig wäre aber, dass die Personen, die neue Lehrpersonen ausbilden, in diesen Themen versiert sind, weil sie unter anderem darüber entscheiden, wer zukünftig unterrichten wird und wer nicht. Und das Beste wäre natürlich, wenn Lehrmittel wie unser Buch direkt als Pflichtlektüre für alle zukünftigen Lehrpersonen definiert würden.
FZ: Wie gross ist die Bereitschaft einzelner Lehrpersonen, sich Bücher wie eures zur Hilfe herbeizuziehen?
MO: Ich habe an unterschiedlichen Schulen gearbeitet und es gibt solche, an denen immer noch darüber gestritten wird, ob es zum Beispiel so etwas wie Sexismus gibt. An solchen Orten ist es schwierig. Aber es gibt auch Schulen, die eine gute Fehlerkultur etabliert haben. Wenn Personen nicht für «schlechte Menschen» gehalten werden, weil sie eine problematische Aussage gemacht haben, ist es einfacher sich gemeinsam auf neues Terrain zu begeben und zu lernen – zum Beispiel über rassistische Strukturen. Momentan ist es aber noch so, dass das Thema Rassismus durch Einzelpersonen wie uns – vermutlich oft solche, die selbst Rassismus erfahren – ins Team hereingetragen wird. Dann können wir darauf hoffen, dass das Team empfänglich für diese Inputs ist.
TB: Es gibt bei Lehrpersonen sehr viel Verunsicherung beim Thema Rassismus. Wir haben zahlreiche dramatische Auseinandersetzungen erlebt, in welchen weisse, unreflektierte Personen sehr abwehrend darauf reagiert haben. Offensichtlich gibt es einen Leidensdruck von Lehrpersonen: Sie haben Angst und wissen nicht, was sie sagen sollen, um nicht als rassistisch abgestempelt zu werden. Diese Angst sollten wir nutzen.
FZ: Bei Erwachsenen stösst das Thema Rassismus also schnell auf Abwehr. Ist es einfacher mit Schüler*innen darüber zu sprechen?
MO: Das ist je nach Alter sehr unterschiedlich. Teilweise reagieren sie wie Erwachsene, nur vielleicht nicht ganz so starr. Meine Berufsschüler*innen, die einen Pflegeberuf erlernen, können nun nach drei Jahren sehr gut benennen, wenn etwas rassistisch ist.
TB: Die Kinder, die ich unterrichte, haben ein sehr grosses Gerechtigkeitsgefühl. Sie merken sehr genau, ob sie selbst oder andere benachteiligt werden. Sehr oft werden diese Erfahrungen und Beobachtungen allerdings von anderen verneint. So stirbt diese Wahrnehmung immer mehr ab und die Kinder lernen, das System, in dem wir alle sozialisiert wurden, immer mehr anzunehmen. Je jünger die Kinder sind, desto offener sind sie im Erzählen ihrer Erfahrungen. Das sind teilweise wirklich schlimme Geschichten und es ist völlig klar: Sie merken es, wenn ihre Mutter im Supermarkt beschimpft wird, weil sie ein Kopftuch trägt. Diese Erfahrungen prägen.
FZ: Was braucht es, um rassismuskritische Bildungsarbeit umzusetzen?
TB: Zum Beispiel die Bereitschaft, sich als Lehrperson weiterzubilden: Die Gesellschaft verändert sich nämlich. Zwar sind Weiterbildungen alle vier Jahre obligatorisch, doch wie diese aussehen sollen, wird institutionell nicht gefordert. Da reicht dann auch ein Yoga- oder Töpferkurs als Nachweis. Neben dem Engagement einzelner Personen an den jeweiligen Schulen müssen auch auf politischer Ebene Forderungen gestellt werden.
MO: Wir als Lehrpersonen haben wenigstens noch so etwas wie eine einkalkulierte Vorbereitungszeit – auch wenn das sehr wenig ist – die uns als Ressource zur Verfügung steht. In der Betreuung sieht es ganz anders aus: Ihre Zeit ist noch viel knapper kalkuliert. Das heisst, dass solche essentiellen Weiterbildungen an einem sowieso schon völlig überfüllten Tag komplett auf Eigeninitiative gemacht werden müssen. Es müssen also Gefässe geschaffen werden, in denen es überhaupt möglich ist, sich weiterzubilden.
FZ: Es müsste also mehr bezahlte Zeit dafür zu Verfügung gestellt werden?
TB: Eigentlich würde es diese Zeit bereits jetzt geben. Die Frage ist, wie sie genutzt wird. Es ist ja schön und gut, wenn man als Team einen Ausflug nach Luzern macht, aber vielleicht könnte man dort mal eine Tour machen, die sich mit Antikolonialismus auseinandersetzt, anstatt eine Nagelfabrik zu besuchen.
MO: Oft hat man zwar einen «Weiterbildungstag» in seinem Team, aber die Betreuung in der Schule muss ja weiterhin sichergestellt werden. Das heisst, dass das Lehrpersonal zwar einen «Weiterbildungstag» für die Schule hat – das Hortpersonal beispielsweise ist aber nicht mit dabei.
FZ: Wenn wir Rassismus als strukturelles Problem anerkennen: Was kann eine einzelne Person auf individueller Ebene leisten und wo sind ihre Grenzen?
MO: Bereits das Bewusstsein und andere darauf hinzuweisen, bringt sehr viel. Ich habe selbst erlebt, was es mit Jugendlichen macht, die sich dahingehend verstanden fühlen. Klar, es ist nur ein einzelnes Klassenzimmer, aber für die Lernenden dort bedeutet das sehr viel. Aber man muss sich auch nichts vormachen: Man kann so nicht die ganze Gesellschaft verändern. Dafür braucht es verschiedene Ebenen, die an diesen Strukturen rütteln – zum Beispiel eben auch die Politik.
TB: Und wenn man selbst zu den Personen gehört, welche die Erfahrungen der Schüler*innen nicht teilen können, kann man sich das eingestehen und ausformulieren. Diese Anerkennung bringt auch schon viel. Denn eines der grössten Probleme ist, dass Menschen ihre Rassismuserfahrungen meistens abgesprochen werden. Lernende hören dauernd: Du bildest dir das ein, das stimmt doch nicht und so weiter. Und wenn man nicht auf diese Weise reagiert, merken sie das sofort – weil es das Gegenteil davon ist, was sie sonst erleben.
FZ: Ihr seid im Oktober 2022 ebenfalls Teil der Care-Konferenz in der Roten Fabrik. Inwiefern hängt (antirassistische) Bildungsarbeit und Care-Arbeit zusammen?
MO: Das Bild von Care-Arbeit beschränkt sich oft auf Bereiche wie Pflege, Betreuung oder die Arbeit in einem Krankenhaus. Für uns ist der Begriff viel breiter: Es ist ein Dienst am Menschen grundsätzlich. Somit ist Bildungsarbeit also auch Care-Arbeit – vor allem wenn sie in Zwangsinstitutionen stattfindet.