Es waren seltsam einförmige, von Bildern gerade nur in solchem Mass ausstaffierte Tage, als dass die unscharfen Flächen und Formen den Eindruck eines Fortdauerns von Zeit gerade noch herzustellen vermochten, doch darüber hinaus keine Momente oder wenigstens Augenblicke anhafteten, wenigstens nicht länger, als über ebenjene Dauer, die sie bedeuteten. Der Übergang von der einen in die nächste Jahreszeit lag bereits Tage zurück und doch schien das Abklingen dieser und das Anklingen der nächsten in unvorstellbarer Ferne zu liegen und die Behauptung geradezu anmassend, dass wir auf die Mitte irgendeines Monats und in derselben Bewegung gar auf die nächste Sonnenwende zusteuerten. Angesichts der Tatsache, dass ich seit Tagen keinen Finger rührte – natürlich ging ich den üblichen, teils von anderen, teils von mir selbst an mich gestellten Erwartungen nach, versuchte zu erfüllen, was nicht ganz zu ignorieren war – und dass ich überhaupt keine Anstalten machte, womöglich dergleichen im Schild zu führen – hatten diese Umstände in ihrer Unmöglichkeit, sie zu leugnen, etwas gar übergriffiges, wie deplatziert dieser Ausdruck angesichts dieser Sache auch erscheinen mag. Denn wenn sich in mir darüber gar kein Gefühl einstellte, so rückte mir doch stetig, vielleicht schon seit jeher, näher, was ich für immer auf Distanz wissen wollte. Ich wehrte mich nicht, wogegen auch. Also unterschied ich mich immer weniger von diesen unförmigen Tagen. Weder nach dem Aufstehen, noch vor dem Zubettgehen war ich müde, doch wach war ich bestimmt auch nicht. Nie war ich hungrig, noch fühlte ich mich nach dem Essen satt. Gewiss hätte ich eine Mahlzeit auch einfach auslassen können, damit sich ein Gefühl von Hunger einstellte, doch hätte dies wohl zu stark einer irgendwie gearteten Form von Initiative entsprochen. Gelegentlich trank ich Alkohol. Tatsächlich in der Hoffnung, mich also entweder aus einer Empfindung heraus oder eben gerade in eine solche hineinzuschleusen. Denn ich wusste wirklich nicht, ob all dies ein einziges, wochenlang anhaltendes Gefühl war oder, im Gegenteil, Gefühle seit langer Zeit ausblieben. Doch auch am Alkohol wurde ich nicht trunken. Wir beschlossen deshalb, übers Wochenende die Stadt zu verlassen und buchten eine Fähre.
Die Kabine war fensterlos. Um mich mit Licht zu versorgen, stieg ich vor der Abfahrt aufs Aussendeck. Mit den Stunden glich die Sonne einer dunkel brennenden Zitrusfrucht, die noch immer weit über dem Horizont das Wasser in sprudelndes Blei verwandelte. Die meisten Menschen hatten ihren Aperitif schon lange getrunken und sassen inzwischen wohl auf dem Speisedeck oder in ihrer Kabine. Als hinter mir die Lichter der Diskothek angestellt und die Frequenzen der Lautsprecher abgeglichen wurden, verliess auch ich den Aussenraum. Im Schlaf wurde ich von einem Traum heimgesucht, in dessen Verlauf ich mich einige Male selber gebar. Völlig schmerzfrei und nach Art eines aus einem unbeschriebenen A4-Blatt gefalteten Vogels, der immer weiter ineinander gekehrt wurde. Eigentlich bloss, wie mir erst nach dem Aufwachen und beim Verlassen der Kabine einfiel, um ständig mehr Flächen aufzuweisen.
Im Hafen holten wir an einer Hotelrezeption den Schlüssel für den Mietwagen ab. Vor der Schiebetüre schliefen zwei Männer sehr tief und auf Asphalt. Sie trugen beide einen Rucksack, eine halblange Hose und ihre Gliedmassen erinnerten in ihren abrupt unterbrochenen Bewegungen erlegtem Wild. Morgens um halb sieben brannte ihnen die Sonne auf die Augenlider.
Während der Autofahrt verlor ich gerade mal einen Gedanken, oder zwei – dann sprach im Radio ein Feuerwehrmann von den Waldbränden und ich sah in den Spiegelungen des neben der Strasse immer wieder aufscheinenden Wassers das Feuer. Beim Umschalten des Radiokanals las ich auf dem kleinen Bildschirm, wie zwei Sender fast identisch hiessen. Während sich der eine «Welle» nannte, so nannte sich auch der andere Welle, doch im Partitiv. Das Gespielte indes schien sich beim ersten Hören nicht sonderlich zu unterscheiden und so wechselte ich regelmässig zwischen diesen benachbarten Frequenzen hin und her, in der Hoffnung, den Unterschied doch noch benennen zu können, um schliesslich wegzudösen. Als ich erwachte, standen wir in der Autoschlange vor der kleinen Fähre, die uns auf die Insel bringen würde. Der Himmel war auch hier wolkenlos und natürlich ging bei der Überfahrt ein leichter Wind. Und während wir, wieder an Land, zu dem kleinen Ort fuhren, blinzelten die Birkenblätter eine Zeichenfolge, die deshalb nicht zu entschlüsseln war, weil sie ganz offensichtlich nichts verschlüsselte und somit also, ganz augenfällig, alles preisgab. Ich zählte dennoch eine Weile mit. Als wir wenig später, kurz vor Mittag, das Haus erreichten, beobachtete ich einen Mann in Kochbekleidung auf einem Golfcart hinter das benachbarte Museum einbiegen. Wenngleich es auf dieser Insel in den beiden Dörfern insgesamt nur eine Kirche, einen Gästehafen und ein kleines Lebensmittelgeschäft gab, so stand neben dem Haus ein kleines Museum, das sich der Kunde gewisser mittelalterlicher Gruppierungen widmete. Vom weiteren Tagesverlauf blieb mir später nur noch die kurze Hitze im Gedächtnis, die sich im Garten des Hauses versammelte und die sommerliche Wärme der restlichen Umgebung deutlich überstieg. Auch als wir uns nach diesem in der Erinnerung entsprechend kurzen Tag in der Dämmerung hinlegten, standen noch immer keine Wolken am Himmel.
Ich erwachte vom Druck meiner Blase. Leise stieg ich in meine Hose und ging nach draussen. Das trockene Gras war jetzt feucht und in der Umgebung hing ein Morgennebel, der die Gegenstände sehr geschickt mal zeigte, dann verschwieg. Doch war es nicht immer noch Nacht? Im diesigen, sonnenlosen Licht wollte kein Zeitgefühl aufkommen. Ich ging auf ein Gestrüpp zu, öffnete meine Hose und pisste zwischen die Blätter, als ich die Umrisse eines weissen Tieres erkannte. Es kam auf mich zu und gab sich dann jedoch als der Museumsdirektor zu erkennen. Er sprach ansatzlos auf mich ein und erklärte mir die Bedeutung dreier bunter Streifen, die auf dem weissen Stoff unter seiner Brust in der From von Adern aufgenäht waren. Er sprach von «Bedeutung» ganz so, als ob es sich um Schriftzeichen handelte, tatsächlich aber hatte er den Wasserweg ab der Karte gepaust, der mitten durch die Insel führte und diese eigentlich, wie er nun etwas langsamer sagte, zu zwei Inseln teilte. Dieser Weg sei schon vor einem Jahrtausend befahren worden, als ebenjene Wassernomaden, denen er sein Museum gewidmet habe, als diese von Insel zu Insel und von Küste zu Küste segelten. Er sprach im selben Atemzug auch von Ausgrabungen. Ich wusste, den Reissverschluss meiner Hose hochziehend, nicht so recht, wie ich den Ausführungen dieses Direktors folgen, noch den ihnen etwaig zustehenden Respekt zollen konnte, da es mich in die Bettstatt zurückzog und ich mich aber gleichzeitig vom sonderbaren Glanz faszinieren liess, der seinen Umrissen eine verführerische Unschärfe verlieh – und dies, obschon er bereits sehr nahe an mich herangetreten war. Vielleicht sah er mir diese Unentschlossenheit an den Augenlidern an, die sich ihrerseits vielleicht ebensowenig entscheiden konnten zwischen loser Trägheit und einem unsteten Zwinkern. Er verliess jedenfalls sehr rasch seine weiteren Ausführungen zu den eingesetzten Datierungsmethoden und offenbarte sich mir, wie er es nannte, als der Künstler, der er eigentlich sei. Schon zu Beginn seiner Schaffensphase habe sich seine Kunst, zu seinem eigenen Erstaunen, sehr gut verkauft. Nicht dass er an sich gezweifelt hätte, doch habe er sein Talent als kleiner und den bevorstehenden Lehrweg als länger eingeschätzt, als bei seinen Kollegen. Die Welt habe also seine Kunst gewollt und da habe er gegeben. Sein Werk habe die Menschen aber nach den Jahren immer weniger interessiert und stattdessen habe man seine Person gewollt. Ganz im Wortsinn, sagte der Museumsdirektor, der ein Künstler war, und zeigte seine rechte Hand, an der er nun mit der linken die Finger nach hinten bog, dass diese den Handrücken berührten. Ach so, antwortete ich ihm und er fühlte sich verstanden. Dann aber, sagte er, sei auch diese seine Person uninteressant geworden und die Menschen hätten sich für seinen Schaffensprozess interessiert. «Ganz unabhängig vom Werk, verstehst du? Erst wollten die Sammler noch wissen, wie ich arbeite. Fantasievoll, riefen sie, wenn sie durchs Fenster ungefragt in mein Atelier hinein stiegen. Ihr Interesse galt mehr und mehr meinem Biorhythmus, meinem Tagesablauf, meiner Ernährung. Ich liess sie gewähren, ja, freute mich über ihr Interesse, dachte es gälte meiner Poetik. Wie schön, dass diese netten Menschen wissen wollen, was ich hier zum Ausdruck bringe, dachte ich. Dabei, musste ich wenig später ernüchtert feststellen, wollten die nur wissen, was in mir abgeht. Erst pinselte ich. Dann musste ich erklären, was ich da pinselte und schliesslich musste ich auch noch ausführen, wie ich dazu kam, so etwas zu pinseln. Aber sie sagten mir auch: Deine Kunst ist schön. Das gefiel mir. Erst später würde ich verstehen. Verstehst Du? Sie kamen in der Nacht und klebten mir kleine Dinger an die Schläfen und Armbeugen. Bei einem Glas Wein sagte mir die Galeristin spasseshalber, Fiktion sei alles. Erst, als sie diesen Satz dreimal wiederholte, verstand ich, dass sie von Distinktion sprach. So vergingen die Tage und Wochen. Und ich wurde gut bezahlt. Das machte Spass. Auf dem Bildschirm meines mobilen Telefons drückte ich bunte Knöpfe und kriegte Farben zur Antwort. Ich lachte in die Kamera. Erst wurde ich ja nur beobachtet, aber nun war ich es, der hier sendete. Das machte mich doch autonom. Einzig an die Bedingung, die Kleber nicht zu verrücken, musste ich mich halten, beim Duschen konnte das anstrengend sein, und daran, dass ich mein mobiles Telefon über Nacht nicht und eigentlich nie ausschaltete. Deine Kunst ist kein Geld, sagte mir die Galeristin bei einem anderen Essen im Zusammensein mit den Sammlern. Deine Kunst ist die Kunst. Das verstand ich im selben Mass, wie es mich mit Stolz erfüllte. Eigentlich könnte ich heute gar nicht mehr sagen, was die Galeristin von den Sammlern unterschied, sie trugen dieselben Kleider und führten in ungefähr denselben Bewegungen ihr beladenes Besteck vors Gesicht. Und das Geschäft läuft, das sagten sie mir dann auch immer beim Bezahlen der Rechnung», sagte der Museumsdirektor, der also ein Künstler war und den ich endlich, etwas wacher jetzt, als den Koch erinnerte, den ich am Mittag noch gesehen hatte. Hinter dem Garten stand sein Golfcart und ich sollte ihm also folgen. Um die Füsse herum war es mir inzwischen kalt, doch war es mir ebenso müssig, ins Haus hinein zu gehen und dabei die Anderen zu wecken. Auch würde dies den Künstler wohl etwas zu lange in seiner Rede unterbrechen, der ich doch sehr lustvoll und gebannt zuhörte. Ich kannte ja nur die einfältigen, für eine kleine Ortschaft geradezu beispielhaften Gerüchte über ihn, dass ihn seine Frau für einen jungen Studenten verlassen habe, der über die Semesterferien im Museum gearbeitet hätte etc. etc. Die Beschleunigung, mit welcher der kleine Golfcart losfuhr, kam dann aber doch etwas unverhofft. «Ich solle ruhig weiter malen, auf Ideen kommen, solle ich, sagte man mir. Aber die Bilder brauchte man nicht mehr aufzuhängen. Eine schnelle Foto genügte. Viel wichtiger war, dass ich an der Autodokumentation festhielt. Monate später erfuhr ich auch weshalb. Natürlich war es erst ein Gefühl, dann eine Vermutung, doch heute weiss ich, dass ich mich nicht täuschte. Es fing an mit den Düften: Sie waren immer ununterscheidbarer von meinem Eigenduft. Das Geschirrwaschmittel, aber auch die verschiedenen Flüssigkeiten zur Körperpflege. Natürlich, vertraute Gerüche nimmt man weniger bewusst war. Aber ich konnte beim Detailhändler nach irgendeinem parfümierten Produkt greifen; sogar was eigentlich nach Kokos oder Lavendel riechen sollte, roch nach mir. Dasselbe mit den Uhren. Jetzt nicht vom Geruch her. Aber der Rhythmus, in dem sie schlugen, das war mein Puls! Die Farben der neuesten Elektronik, der Klang beim Öffnen des Dosenbiers, die Bewegungen, mit denen sich die Knospen der Zierpflanzen in der Gartenabteilung öffneten. Ich begriff. Bruchstücke davon kannte ich aus meinen Bildern, der Rest, das war ich. Es ging schon lange nicht mehr um meine Kunst, aber man wusste aus meiner angeblichen Fantasie Kapital zu schlagen.» Der Künstler, der im Parkieren seines Golfcarts und Herausholen seiner Schlüssel jetzt wieder ganz der Museumsdirektor war, vertraute mir beim Aufschliessen seines kleinen Museums schliesslich eine weitere Sache an: Die Funde, die Töpfe, Schwerter und Figuren, die man auf den Inseln hier ausgegraben habe, seien sein Werk. Er habe doch eigentlich Kunst machen wollen und nun gelänge ihm dies nur noch unter dem Deckmantel vermeintlich archäologischer Funde. «Sei es drum», sagte der in diesem Moment jugendhaft wirkende Mann. «Ich produziere mehr denn je.»