Was der heutigen Schriftstellerin fehlt, ist das Selbstverständnis der Schriftstellerin als Genie in einer langen Reihe der schriftstellerischen Genies.

1—Die Schriftstellerin im Café

Die Schriftstellerin sitzt im Café und denkt nach. In ihrem Stuhl ist sie heruntergerutscht. Es sind gewichtige Gedanken, die sie sich macht. Kurz ächzt sie, so gewichtig sind ihre Gedanken. Die Schriftstellerin möchte einen guten Text schreiben. Einen Text über die grossen Schriftstellerinnen der Vergangenheit. «Alte Meisterinnen» soll er heissen. Ein gewichtiger Titel.
Bevor sie beginnt, beobachtet sie das gemeine Volk. Das gemeine Volk trinkt Schokoladenmilch. Bevor das gemeine Volk die Schokoladenmilch trinkt, fotografiert es sie mit einem Telefon.
Die Schriftstellerin nimmt einen kräftigen Schluck Rotwein. Wenn man Schriftstellerin ist, darf man schon am Nachmittag trinken. Das ist einer von sehr wenigen Vorteilen.
Man hat dann abends nicht genug Geld, um die Rechnung zu bezahlen, da man schon nachmittags mit Trinken begonnen hat. Aber es gibt Cafés und Bars, bei denen man anschreiben lassen kann. Leider werden solche Bars und Cafés sehr schnell sogenannte Künstlercafés oder auch Schriftstellerinnenbars genannt, wobei man das Wort Künstlercafé seltsamerweise ein wenig häufiger hört. Solche Cafés und Bars existieren in der Regel einige Jahre, bis sie aus schwer nachvollziehbaren Gründen plötzlich Insolvenz ankündigen müssen oder bis sie Gaffer anziehen. Wobei mit Gaffer anziehen keine Kunstperformance gemeint ist, bei der sich Künstlerinnen mit Klebeband einkleben, auch das etwas sehr Erheiterndes, was in so einem Künstlercafé selbstverständlich ständig spontan passiert.
Zugegebenermassen hat die Schriftstellerin so etwas schon seit ein paar Jahren nicht mehr erlebt. Wenn sie ganz ehrlich ist, hat sie das seit 2002 in dieser Bar da in Berlin, als diese sehr sympathische Musikerin, eine Inderin aus London war das, die tatsächlich ein wachsbeschichtetes Tischtuch als Kleid trug, also eben seit diese Gaffer Tape um sich gewickelt hat, und so ihre selbstgebrannten CD’s an sich klebte und dann schrie: «Kauft alle meine CD!» Ja, auch Schriftstellerinnen sind nicht vor Das-waren-noch-Zeiten-Nostalgie gefeit, und was wäre das überhaupt für eine Schriftstellerin, die sich nicht sicher wäre, dass sie die wilden Zeiten hinter sich hat? Vielleicht eine Science Fiction Schriftstellerin.

Gewichtige Gedanken.

Die Menschen, die mit ihren Telefonen gerade noch erhitzte Milch mit Schokoladengeschmack fotografierten, sind mittlerweile verschwunden. An ihrer Stelle sitzt ein Vater mit seinem Sohn, auch sie trinken Schokoladenmilch. Warum trinken alle Schokoladenmilch, fragt sich die Schriftstellerin. Der Wein macht die gewichtigen Gedanken allenthalben etwas schwerer. Der Schriftstellerin wurde bei ihrer Geburt der Vorname Anaïs gegeben. Dazu der Nachname Meier. Man will nicht mutmassen, was sich ihre Eltern dabei gedacht haben. Höchstwahrscheinlich nichts. Mit einem solchen Namen zu schreiben, das wurde ihr früh bewusst, das wird schwierig.

2—Anaïs Nin

Anaïs Nin ist aus Sicht der Schriftstellerin keine herausragend gute Autorin gewesen, also keine alte Meisterin. Umso trauriger ist sie, ihren Namen tragen zu müssen. Als sie mit Anfang zwanzig an Lesungen teilzunehmen begann, war sie einige Jahre lang gezwungen ein Pseudonym zu benutzen, um das «Anaïs-Phänomen» zu vermeiden. Das «Anaïs-Phänomen» tritt dann auf, wenn eine Autorin um die zwanzig mit dem Vornamen Anaïs an einer Lesung teilnimmt. In der Folge erscheint ein, manchmal auch mehrere wohlwollende ältere Herren, die mit grossen Augen erklären, mit wem Anaïs Nin alles eine Affäre gehabt hätte. Mit ihrem Cousin, ihrem Vater, sogar mit wohlwollenden älteren Herren habe Anaïs Nin geschlafen, eine ganz hervorragende Schriftstellerin sei das gewesen!
Das «Anaïs-Phänomen» wird mit fortschreitendem Alter der Schriftstellerin immer schwächer, bis es ganz abflacht. Ein interessantes Phänomen.

3—Agota Kristof

Agota Kristof ist aus Sicht der Schriftstellerin eine sehr, sehr gute Autorin. Eine wirkliche alte Meisterin.
Über Jahre hat die Schriftstellerin einen Besuch bei ihr geplant. Es würde ein kurzer Besuch werden; aus Agota Kristofs Büchern hatte sie geschlossen, dass die alte Meisterin Besuche lieber kurz und knapp mag. Natürlich wäre Agota Kristof nicht vorgewarnt worden, es wäre ein Überraschungsbesuch geworden, ein Fanbesuch. Die Schriftstellerin wäre mit einem üppigen Blumenstrauss nach Neuchâtel gefahren. Mit den Blumen hätte sie dann vor der Wohnung Agota Kristofs gewartet. Sobald Kristof erschienen wäre, hätte die Schriftstellerin, ohne sich vorzustellen oder eine Erklärung abzugeben, Agota Kristof den Blumenstrauss vor die Füsse gelegt und gesagt: «Merci pour écrire». Das war der Plan. Enorm originell war er nicht. Vielleicht wurde er deshalb nie umgesetzt. Einige Jahre später ist Agota Kristof leider gestorben.

4—Sue Townsend

Sue Townsend ist ebenfalls eine alte Meisterin, und man könnte sagen, so wie Agota Kristof der Schriftstellerin eine Art Mahnmal dafür ist, was Schreiben sein könnte und bedeuten kann, so hat Sue Townsend in ihr als Jugendliche die Lust am Schreiben geweckt. Die Schriftstellerin las Townsend während ihrer Gymnasialzeit, was schulische Probleme verursachte. Sue Townsend zu lesen ist immer ein Risiko, denn wenn man einmal damit angefangen hat, kann man nicht mehr damit aufhören. Ausserdem kann man sich unmöglich gleichzeitig auf etwas anderes konzentrieren, ja, man kann nicht einmal so tun als ob. Der grösste Risikofaktor einer Townsend-Lektüre ist aber sicher, dass man immer wieder von schrecklichen Lachanfällen geschüttelt wird.
Sowohl Townsend als auch Kristof begannen erst spät mit dem Leben als Schriftstellerin. Davor waren sie damit beschäftigt gewesen, in Fabriken zu arbeiten und ihre Kinder grosszuziehen.

5—Nachwort

Alte Meisterinnen gab es viele, aber nicht genug. Solange die Welt nicht gerecht ist, wird die potenziell mögliche Anzahl an herausragenden Köpfen, die die Literatur prägen könnten, nie erreicht werden.
Wer die Literatur wirklich liebt, ist bestrebt, dass in jedem Land dieser Welt alle Menschen die gleichen Chancen haben, um ihr Können der Literatur zu widmen.
Bis dahin bleiben uns die immer gleichen alten Säcke. Alte Säcke, die teilweise brillant waren, manche so brillant, dass sie mich während meiner Jugend und jungen Erwachsenenzeit vor der Verzweiflung an dieser Welt gerettet haben. Dafür bin ich ihnen bis heute dankbar.
Etwas, was diese brillanten und auch die weniger brillanten und sogar die gar nicht brillanten alten Säcke gut konnten, war, sich selbst und ihr Schreiben sehr ernst zu nehmen. Jeder ihrer Gedanken war wichtig und aus ihren Becken gebaren sie den Begriff des schriftstellerischen Genies.

RAUF beschloss, Texte über alte Meisterinnen der Literatur zu schreiben. Die Idee begeisterte mich sehr, aber sobald ich darüber nachzudenken begann, wurde es problematisch. Ich fand tatsächlich, mir würde keine alte Meisterin einfallen, deren literarisches Werk ohne Ausnahme sprachlich visionär, inhaltlich atemberaubend, leichtfüssig und doch tiefsinnig und auf jeden Fall, und das ist das Wichtigste, durch und durch genial ist. Gleichzeitig fielen mir aber einige männliche Schriftsteller ein.
Und dann merkte ich, dass ich auch das Werk dieser Herren nicht hundertprozentig hervorragend finde. Trotzdem hatte ich viel weniger Probleme damit, diese als Genies zu betiteln und bei ihnen über textliche Ausrutscher hinweg zu sehen. Als ich das erkannt hatte, schämte ich mich zwei Wochen lang schrecklich und beschloss, nie jemandem davon zu erzählen.
Dann beschloss ich darüber zu schreiben, denn die genialen Gedanken einer Schriftstellerin sind nie dumm und ausserdem immer schauderhaft interessant! Das, was mir fehlte, war ein Selbstverständnis der Schriftstellerin als Genie in einer langen Reihe von Genies.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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