Laurenz* sitzt auf dem Sofa. Bart, lange Haare, schwarzes ärmelloses Shirt. «Jetzt könnt ihr eigentlich den Strom anstellen!» Während des Gesprächs koordiniert er parallel zwei Leute, die die Soundanlage für eine Privatparty einrichten. Das hat er so geplant, denn dem Handwerker fehlt momentan Zeit: Er balanciert zwei Jobs und ist dieses Jahr Vater geworden. Daneben macht er Musik und ist an verschiedensten Orten engagiert. Deshalb findet das Gespräch unter diesen Umständen statt, aber dass es stattfindet, war Laurenz wichtig. Denn Politik ist ihm wichtig; politische Positionierung ebenso. Er stimmt ab, seit kurzem ist er auch Gewerkschaftsmitglied. Doch Laurenz wählt nicht. Nicht in der Gemeinde, nicht im Kanton, nicht im Land. Wenn es nicht um Ja/Nein-Fragen geht, sondern um die Frage «Wer soll mich vertreten?», landet das Couvert im Altpapier. Ein heikles Thema sei das, besonders in linken Kreisen. Das Nichtwählen ist ein doppeltes Tabu: Man könnte ihm vorwerfen, dass er die Gesellschaft, die er ablehnt, mitverantwortet, weil er sein Wahlrecht nicht nutzt. Diejenigen, die noch weniger als er an die Demokratie glauben, könnten ihm aber ebenso mit dem gegenteiligen Vorwurf kommen: Weil er abstimmt, erhält er das politische System.

Mit Menschen über das sprechen, was sie nicht tun, ist oft nicht einfach. Ich fahre nicht Auto, Autofahren ist schlecht für die Umwelt. Aber: Ich kann auch nicht Auto fahren. I am not able to drive a car, war zu faul, um mir etwas beizubringen, was ich nicht unbedingt können wollte. Bin ich nun überzeugter Nicht-Autofahrer? Kann ich im Detail erklären, weshalb ich nicht Auto fahre? Knapp 5,4 Millionen Menschen waren 2017 in der Schweiz stimmberechtigt. Sie sind «der Souverän». Ein (zum Glück nicht ganz) allmächtiger Herrscher aufgeteilt auf 5,4 Millionen Körper, vielleicht ein Schwarm, aber kein Ameisenbau. Denn Ameisen tun für den Bau, was sie für den Bau tun sollen, komme was wolle. Dem Souverän hingegen fehlt das Pflichtbewusstsein, er ist mehr als halbseitig lahm.

Weniger als die Hälfte der Schweizer Stimmberechtigten haben 2015 über das neue Parlament bestimmt: 48,5 Prozent. Mehr als die Hälfte bleiben zuhause. Weil sie zu zufrieden oder zu faul sind. Weil sie sich nicht interessieren oder die Politik als zu kompliziert empfinden. Weil sie so unzufrieden sind, dass sie nicht mehr an die Wirkung ihrer Stimme glauben.

Aber dann gibt es noch eben auch solche, die jedes Abstimmungsbüchlein durchlesen und wissen, wie rum der Stimmrechtsausweis ins Couvert gehört, die aber trotzdem nicht wählen. Gemäss den Politologen Matthias Fatke und Markus Freitag sind fast 13 Prozent der Nicht-Wählerinnen Abstimmerinnen, so wie Laurenz. Und wie Laurenz sind laut Fatke/Freitag die Mehrheit dieser abstimmenden Nicht-Wählenden eher jünger und wohnen in grossen Städten. Das ist besonders deshalb spannend, weil es in kleinen Landkantonen mehr Gründe gibt, als politischer Mensch nicht zu wählen: Wenn es nur einen Sitz gibt und es fast zur stillen Wahl kommt, kann man es gleich lassen. In Nidwalden ist der FDP-Ständerat bereits ohne Abstimmung wiedergewählt, weil niemand gegen ihn kandidiert. Der bisherige SVP-Nationalrat muss sich der Wahl stellen – gegen einen CVPler, dem die eigene Partei die Unterstützung verweigert. So eine Ausgangslage demotiviert wahrscheinlich viele Stimmberechtigte.

Wahrscheinlich können auch nicht alle abstimmenden Nicht-Wählenden ihre Gründe erklären, aber immerhin kann man mit ihnen über Politik diskutieren. Sie setzen sich ja mit den Themen auseinander. Sie wären Nicht-Auto-Fahrer, that would be able to drive a car. That are allowed to drive a car. Laurenz setzt sich mit dem Klimawandel ebenso auseinander wie mit Stadtentwicklungsfragen und der Hornkuh-Initiative. Da hat er «Ja» gestimmt; die Kühe haben einen sozialen Mehrwert, wenn sie mit den Hörnern leben dürfen. Darum soll man Hornkühe fördern. Das sei ein Fall gewesen, bei dem er sich eine Meinung durch das Abstimmungsbüchlein gebildet hat. «Es ist schon ein Luxus: Du bekommst einen Brief nach Hause, kannst dich einlesen und dann entscheiden, was du für sinnvoll hältst und was nicht.» Laurenz tut aber mehr als das: Er ist regelmässiger Demogänger. Wenn ihn ein Anliegen stört, geht er auf die Strasse. Er stimmt ab, was er für richtig hält. Wieso schickt er das Abstimmungscouvert ab, aber das Wahlcouvert nicht? Wenn Wahlen nichts ändern, aber kein Aufwand sind, wieso nicht trotzdem wählen? Die meisten Demonstrationen ändern auch nichts – und bedeuten mehr Aufwand als eine Wahl.

One Dollar, one vote – sagt Laurenz. Die Schweiz ist keine echte Demokratie – sagt Laurenz. Sondern? Eine Diktatur des Kapitals. Laurenz sagt, dass er ausser sich selbst nie jemanden wählen würde. Fairness und Transparenz in der Politikfinanzierung seien entscheidend. Die Politik in der Schweiz sei käuflich. Laurenz hat klare Haltungen, aber auch konstruktive Vorschläge. «Kennst du das Draftsystem aus dem American Football?» Im American Football können alle Teams abwechslungsweise Nachwuchsspieler aus einem Nachwuchsspielertopf auswählen. So soll man es mit den Parteifinanzen machen. Das wäre seiner Meinung nach ein Weg, um die Schweiz demokratischer zu gestalten.

Würde er dann wählen? Er zaudert, er zögert. «Nur ich vertrete wirklich meine Interessen. Ich könnte immer nur mich selber wählen.» Selbst wenn jemand in den Themen, über die im Wahlkampf gesprochen wird, vollkommen deckungsgleich mit ihm sei, heisse das nicht, dass diese Person in allen Themen seine Interessen vertrete. Zum Beispiel bei Elektroautos: Laurenz hasst Elektroautos, viele Linke mögen Elektroautos. Es folgt eine Tirade über Elektroautos, aber der Konflikt ist wohl grundsätzlicher: Laurenz stört Repräsentation an sich. Obwohl er weiss, dass es sich nicht ändern lässt. Ok, aber wenn er nur sich selbst wählen würde, was würde er als Politiker denn tun? Er würde einen Vermögens- und Einkommensdeckel einführen. Und da wäre er radikal: Alles abschöpfen über 100 Millionen. Das fehle ihm an der Politik: die Radikalforderungen. Wie bei einem Streik müsse man auftreten, nicht so wie es Politikerinnen im Parlament tun. Noch weniger hält er von Exekutivpolitikerinnen. Er nennt das Beispiel Richard Wolff. Wenn dieser als Polizeivorsteher radikal agiert hätte, hätten ihm das nur schon die Polizist*innen selbst verunmöglicht, glaubt Laurenz Bei Abstimmungen sei es so: Hast du die Fragestellung mal verstanden, mal erkannt, wie du abstimmen musst, geht es ganz klar um eine Abbildung deiner Haltung. Wenn du jemanden wählst, so Laurenz, weisst du nicht, was diese Person dann tut.

Aber die Gewählten setzen immerhin die Abstimmungsergebnisse um, wende ich ein. Wir stimmen nur über die wenigsten Fragen ab, meist entscheiden die Gewählten, wie was gemacht wird. Laurenz stimmt zu. Er anerkennt auch, dass es eine Art Parlament immer braucht. «Nehmen wir an, alle Fabriken im Quartier wären Kooperativen und würden von einem Rat organisiert. Dann bräuchte es auch einen Rat aller Fabriken im Quartier, einen Rat für den Stadtteil, die Stadt, den Kanton.» Anarchistische Gesellschaftskonzepte wie Kommunitarismus oder Anarchosyndikalismus sehen Betriebsräte, demokratisierte Fabriken, als Grundlage des politischen Systems. Wäre das denn Laurenz’ Utopie? Er sagt, seine Utopie wäre einfach, wenn alle Menschen verstanden hätten, dass es gemeinsam besser geht. Die Unruhen in London 2011, bei denen Gebäude und ein Bus dran glauben mussten, oder jene in den Pariser Banlieues, hätten vielleicht dazu geführt, dass manche «Vergessene» wieder wahrgenommen werden. Aber trotzdem kann Laurenz diesen Beispielen – die er selbst einbringt – nichts abgewinnen. Heute habe er mehr Hoffnung auf Veränderung als auch schon. Die Klimabewegung ist der Grund dafür. Die Kinder, Jugendlichen und Eltern haben überzeugende Argumente, weshalb wir «uns als Gesellschaft selbst an die Wand fahren». Mit der Klimabewegung sei er zu grossen Teilen auf demselben Nenner. Es gibt FDP-Nationalrät*innen, die das auch von sich behaupten. Vieles, von dem, was Laurenz sagt, wirkt sehr gemässigt.

Wie er sich informiert? Teils über linksradikale Plattformen, wo alle veröffentlichen können, wie früher Indymedia oder Linksunten-Indymedia. Teils auch über Flyer. Aber überraschenderweise ist Laurenz‘ wichtigste Informationsquelle SRF. Dabei sei ihm etwas aufgefallen: Wenn SRF über eine Demonstration in Deutschland berichte, seien sie kritischer gegenüber der offiziellen Sicht als bei Demos in der Schweiz. Erst spricht er von «Staatsmedien», als ich ihn darauf aufmerksam mache, korrigiert er sich: öffentlich-rechtliche Medien. Zur No Billag-Initiative habe Laurenz eine «zwiespältige Haltung» eingenommen, sagt er. Aber natürlich brauche es Journalismus, an der Busstation habe er gerade jemanden mit dem SVP-Extrablatt gesehen. Das findet er schlimm.

Natürlich verachtet Laurenz die SVP. Trotzdem wählt er nicht ihre Gegner. Gegen Ende des Gesprächs, seine Kollegen haben die Musikanlage längst fertig eingerichtet, wird er nachdenklich. Abstimmen… Ob’s was bringt?

Leben, ob’s was bringt? Wer weiss das schon. Nachvollziehen, wie man etwas nicht tun kann, was zwanzig Minuten Zeit in Anspruch nimmt, aber vielleicht zu Veränderung beitritt, kann ich nicht. Aber gleichzeitig kenne ich seit kurzem dieses Gefühl des inneren Widerstands: Keine der Ständeratskandidatinnen in Basel, wo ich lebe, will ich wählen. Ich weiss, welche Wahl das kleinere Übel wäre und ich wüsste, dass ich sie wählen sollte. Aber alles in mir sperrt sich dagegen. Nicht wählen, ob’s was bringt? Sicher nicht, aber ausnahmsweise verzichte ich trotzdem.

Benjamin von Wyl ist Journalist und Autor. Sein erster Roman «Land ganz nah» erschien 2017 bei lector books.
*Name geändert.

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