Wie steht es eigentlich um feministische Gruppen und Anliegen in der arabischen Welt? Ende März findet in der Roten Fabrik die erste Ausgabe der Reihe «Unter dem gleichen Himmel – Genderperspektiven in arabischen Ländern» statt. Die Initiatorin gibt eine Einführung in die aktuelle Lage in den verschiedenen betroffenen Orten.
Ägypten, Jemen, Tunesien, Libyen, Bahrain und Syrien sind der UN-Konvention zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung der Frau zwischen 1984 und 2003 beigetreten. Eine Umsetzung hat diese Konvention (CEDAW) in keinen Ländern erfahren.
Gerade heute ist die Frage, wie es um die Gleichstellung der Geschlechter bestellt ist, brennender denn je. Besonders in den arabischen Gesellschaften, in denen Frauen und Männer 2010 und 2011 gemeinsam auf die Strassen gegangen sind, um friedlich für ein gerechtes, würdiges Leben zu demonstrieren. Die aktuelle politische Lage ist kritisch: Neben repressiven Staatsführungen und anhaltenden Kriegen ist eine grösser werdende Fragmentierung der Gesellschaften aufgrund prekärer wirtschaftlicher Situationen, des wachsenden Konservativismus und religiösem Fundamentalismus zu beobachten. Die Zivilgesellschaften stehen massiv unter Druck.
Frauenhandel, Folter und Vergewaltigungen haben erschreckende Ausmasse angenommen.
Machtinteressen verschiedener politischer Akteure destabilisieren Jemen, Libyen und Syrien. Die Lage erscheint zunehmend unübersichtlich und ausweglos. Frauenhandel, Folter und Vergewaltigungen haben erschreckende Ausmasse angenommen. In Ägypten verhängt das autokratische Regime Reiseverbote und verhaftet willkürliche politisch aktive Menschen. Im Februar letzten Jahres wurde das El Nadeem Zentrum in Kairo von den Behörden geschlossen. Seit 1993 begleitet diese NGO Folteropfer und deren Familien rechtlich und psychologisch. Laut CPJ, dem Komitee zum Schutz von Journalist*innen, sind mindestens 496 online-Nachrichtenmagazine in Ägypten gesperrt. In Bahrain werden politische Oppositionsgruppen verboten und Menschenrechtsaktivist*innen zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Entzug der Staatsbürgerschaft ist ein zusätzliches Mittel, den dortigen Widerstand von Dissident*innen zu brechen. Die kritische Situation von Geflüchteten: auseinander gerissene Familien, die Verluste von Angehörigen und Freund*nnen, erlebte Gewalt als Opfer und als Täter, und schliesslich Kinder, die unter diesen Bedingungen heranwachsen, schwächen die fragilen Zivilgesellschaften zusätzlich.
Einzig Tunesien scheint einen demokratischeren Weg einzuschlagen. Es gibt ein einigermassen funktionierendes Parlament, noch hat es Pressefreiheit. Dem Druck von Menschenrechtsorganisationen ist es zu verdanken, dass Tunesien als erstes arabisches Land letztes Jahr ein Gesetz verabschiedet, das häusliche Gewalt unter Strafe stellt. Doch Homosexualität ist weiterhin illegal.
Frauen werden von politischen Entscheidungsprozessen und der Gestaltung des öffentlichen Lebens ausgeschlossen.
Eine hohe Arbeitslosigkeit in allen genannten Ländern betrifft weiterhin viele Männer und Frauen. Korruption, Vetternwirtschaft und politische Seilschaften sind geblieben. Die ökonomischen Verhältnisse spiegeln sich in den hohen Preisen für Nahrungsmittel. Der Staat investiert weder in das Bildungs- und Gesundheitswesen, noch in die Infrastruktur, noch in Rechtsprechung und öffentliche Sicherheit. Vor allem in ländlichen Gebieten haben Menschen kaum Zugang zu schulischen Einrichtungen, medizinischer Versorgung und Rechtsinformationen. Zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land ist die Kluft grösser geworden. Die Forderungen nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit bleiben unerfüllt. An den jüngsten Demonstrationen dieses Jahres in Tunesien waren noch die gleichen Parolen zu hören wie im Dezember 2010.
Obwohl der Frauenanteil an den Demonstrationen von 2010 und 2011 zwischen 35-50% lag, werden Frauen weiterhin sukzessiv von politischen Entscheidungsprozessen und der Gestaltung des öffentlichen Lebens ausgeschlossen. Gemäss den von der UNO und OHCHR publizierten Berichten sind Frauen höchstens mit 15% in arabischen Parlamenten vertreten. Langsam erholen sich feministische Bewegungen und Aktivistinnen von dem Schock, noch immer nicht an politischen Prozessen partizipieren zu können. Sie realisieren, dass sie in ihrem Kampf um Gleichberechtigung einmal mehr am Anfang stehen. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die heutigen Debatten um Kinderehen, Beschneidung, Kopftuchzwang, politische Teilhabe, Bildung, Erb-, Ehe- und Scheidungsrecht sowie die Weitergabe der eigenen Nationalität an ihre Kinder von Pionierinnen arabischer Frauenbewegungen geführt. Ihre Gesellschaften sind immer noch tief in einer institutionalisierten männlich dominierten Kultur und einem patriarchalen Nationalismus verankert. Zusätzlich wird die Diskriminierung von Frauen durch frauenfeindliche Auslegungen religiöser Schriften verschärft.
Sie realisieren, dass sie in ihrem Kampf um Gleichberechtigung einmal mehr am Anfang stehen.
Ein staatlich verordneter kultureller Wandel, wie zum Beispiel in Tunesien reicht nicht, um Werteinstellungen weitreichend zu ändern. Auch fehlt es an einer Geschichtsschreibung, die historische Referenzen und Vorbilder im Kampf gegen patriarchale Systeme über intellektuelle Kreise hinaus ermöglicht. So ist Hoda Sha’arawi aus dem offiziellen Kanon verbannt. Bereits 1909 gründete sie eine von Frauen geführte Wohlfahrtsorganisation, die mittellose Frauen und Kinder unterstützte. 1919 organisierte sie die grösste Frauendemonstration gegen die britische Kolonialmacht in Ägypten und gründete 1923 eine feministische Gewerkschaft. Inspiriert von der «International Alliance of Women», dem «Weltbund für Frauenstimmrecht», an deren Kongress sie in Rom teilgenommen hatte, war sie die erste, die den Gesichtsschleier in der Öffentlichkeit ablegte. Dora Shafik führte das Erbe von Hoda Shaarawi und ihren Mitstreiterinnen weiter. Neben dem Kampf gegen die britische Besatzungsmacht setzte sie sich für eine breite Alphabetisierung ein, forderte eine gleichberechtigte Bildung für Mädchen, rief 1948 die Gewerkschaft und die gleichnamige Zeitschrift «Töchter des Nils» ins Leben. 1951 gründete sie die «Egyptian Feminist Union». Shafik wurde zu Vorträgen nach Europa, Asien und in die Vereinigten Staaten eingeladen. Dank ihres Einsatzes und desjenigen anderer erhielten Frauen in Ägypten 1956 das Wahlrecht. Der Ministerpräsident Gamal Abdel Nasser legte ihr 1957 Hausarrest auf, verbannte ihren Namen aus der Presse und verbot ihre feministische Zeitschrift, nachdem sie gegen sein diktatorisches Regime in den Hungerstreik getreten war.
In Libyen wurde 1954 die «Women’s Renaissance Society of Benghazi» gegründet. Daraus entstand die erste libysche Frauenbewegung, 1957 eine Frauengewerkschaft. Dank ihres organisierten Widerstand gegen König Idris, der 1969 von Muammar al-Gaddafi gestürzt wurde, erhielten Frauen 1963 das Wahlrecht und konnten am politischen und öffentlichen Leben teilhaben.
Konservative und Islamist*nnen sehen in der Schwächung feministischer Positionen, die sie schon immer als reines Echo westlicher Diskurse verstanden haben, einen Erfolg. Zwar umwarben salafistische und islamistische Gruppierungen auch Frauen, aktiv in ihren Organisationen mitzuwirken. Als die Regime in Ägypten, Tunesien, Jemen und Libyen fielen, wurde jedoch schnell klar, dass sie nur instrumentalisiert werden, um den eigenen Einfluss zu stärken. Dr Amal Qarami beschreibt in ihrer Studie «Circles of Fear: Tunesian women and Salafism» unter anderem die Weltfremdheit religiöser Auslegungen, mit denen salafistische Programme ihre brutalen Methoden rechtfertigen. Besonders in den von Daesh kontrollierten Gebieten in Syrien und im Irak zeigen sich diese Umsetzungen auf äusserst extreme Weise.
Eine Unterstützung von Jungen und Männern liegt auch im feministischen Interesse.
Dank den Erfahrungen während der Aufstände ist es für Teile der älteren wie der jüngeren Generation selbstverständlich, sich zu engagieren. Trotz den erschwerten Bedingungen sind in den letzten Jahren neue Frauenhäuser entstanden, sowie Initiativen, die über häusliche Gewalt aufklären, Begleitung und Schutz für Frauen und Kinder anbieten. Andere Einrichtungen arbeiten mit traumatisierten Kindern. Sie entlasten die Eltern und erleichtern den Kindern den schulische (Wieder-) Einstieg. Organisationen leisten sexuelle Aufklärung, informieren über Verhütung und Abtreibung, bieten rechtliche sowie psychologische Unterstützung zu LGTBQI Themen an. Viele der spontan gewachsenen, unstrukturierten «Volksbewegungen» und Aktivitäten mit frauen- und geschlechterspezifischen Inhalten sind in NGOs strukturiert worden. Finanzielle Unterstützung erhalten sie vielfach von Unterorganisationen der UN, von ausländischen, privaten Stiftungen und behördlichen Trägerschaften, z.B. von der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung oder der schwedischen Anna-Lindh-Stiftung. Diese beiden Stiftungen setzen auch Schwerpunkte auf Veränderungen in der Gesetzgebung und gegen die Einflussnahme durch politische Eliten. Feministische Organisationen konzentrieren sich auf die Vorbeugung von sexueller Gewalt und sexualisierter Sprache, die Sensibilisierung für Frauenrechte, die Stärkung in genderspezifischen Belangen und Menschenrechten.
Nachdem der Fokus bisher fast ausschliesslich auf Mädchen und Frauen lag, wird heute je länger je mehr anerkannt, dass eine Unterstützung von Jungen und Männern, die nicht mehr auf ihre traditionellen Privilegien zurückgreifen können (und vielleicht auch nicht wollen), auch im feministischen Interesse liegt. Die gemachten Erfahrungen zeigen, dass diese Ansätze einen wichtigen Beitrag leisten, um ein würdiges Zusammenleben nachhaltig zu ermöglichen. Die Auftaktsveranstaltung der Reihe wird denn auch zu diesem Thema stattfinden: «Privilegien unter Druck: Männlichkeiten in Nordafrika und dem Nahen Osten».
Die Veranstaltungsreihe «Unter dem gleichen Himmel _ Genderperspektiven in arabischen Ländern» widmet sich 2018 in vier Episoden diesen komplexen Realitäten, die unmittelbar an aktuelle Debatten über Werte in Europa anknüpfen, mit Vorträgen, Filmen, einem Theaterstück und einem Symposium. Eingeladen sind Akteur*Innen der Region, die ihre Forschungsergebnisse, ihre Arbeitsansätze und ihre künstlerischen Produktionen vor und zur Debatte stellen.