In der Computerbranche sind Zukunftsvorhersagen wichtiger als im Schulwesen oder in der Architektur, weil die Zyklen der Veränderung kürzer sind. Alle wollen heute und nicht erst in zehn Jahren wissen, welche Geräte für diese Zukunft angeschafft oder hergestellt werden müssen. Ausserdem klingen die Fähigkeiten von Computern generell wie Magie (1), man kann also eigentlich alles prognostizieren. Erstaunlich oft wird das Vorhergesagte dann sogar wahr.
Vorhersagen scheint daher zwar leicht, Rechthaben mit einer Vorhersage ist trotzdem schwer. Das liegt selten am Inhalt und fast immer nur am falsch angegebenen Zeitpunkt, zu dem das Vorhergesagte eintreffen soll. Die meisten Aussagen über Computer und künstliche Intelligenz seit 1950 (2) waren im Prinzip nicht verkehrt, bloss die Zeitangaben stimmten nicht. Offenbar fehlten praktische Ratschläge für die zeitliche Justierung von Vorhersagen. Der vorliegende Text soll diese Lücke schliessen. Falsche Zukunftsvorhersagen könnten damit der Vergangenheit angehören.
Ungünstig: Behauptungen für die Ewigkeit
Festhalten lässt sich schon mal, dass es keine gute Idee ist, etwas für «nie» oder «immer» zu behaupten. Der Zeitpunkt, zu dem man eindeutig recht hat, lässt ewig auf sich warten. Der Zeitpunkt, an dem sich herausstellt, dass man unrecht hatte, kann dagegen unangenehm schnell da sein. Sascha Lobo und ich hielten diesen Ratschlag 2012 in «Internet – Segen oder Fluch» fest und vermerkten in einer Fussnote, dass der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf unsere Warnung folgendermassen in den Wind schlug: «Den für ihre Technikfeindlichkeit nicht gerade bekannten Japanern ist es bis heute nicht gelungen, einen Go-Rechner zu bauen, der auch nur einen starken Amateur in Schwierigkeiten bringt. Man jubelt stattdessen einem Programm zu, das einen Profi mit neun Steinen Vorgabe versenken konnte. Um in eurem Buch vorzukommen, prophezeie ich hiermit, dass es ein solches Programm auch niemals geben wird, so lange ich lebe. In den folgenden hundert Jahren auch nicht.» Schon der erste Teil der Prophezeiung war zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht richtig, die Go-Software Crazy Stone konnte starke Amateure bereits seit 2007 in Schwierigkeiten bringen. Zwei Jahre nach Herrndorfs Tod schlug AlphaGo den ersten Profi-Spieler, noch einmal zwei Jahre später den Weltranglistenersten. Dabei war Herrndorfs Aussage im Grunde korrekt: «Eines Tages wird es überzeugende Go-Software geben.» Er hätte nur die Zeitangabe weglassen müssen.
Diese Regel betrifft auch die Behauptung, dass Entwicklung X zwar möglich ist, die weniger privilegierte Gruppe Y davon aber niemals profitieren wird. Dazu gehören alle Annahmen aus den 90er Jahren, das Internet werde immer nur eine Angelegenheit für wenige Nerds / Männer / Menschen in reichen Ländern bleiben. Auch Nie-Prognosen, die nur von der eigenen Person handeln («Ich werde mir nie ein X kaufen, weil ich so einen Blödsinn einfach nicht brauche») sollte man am besten nur denken und nicht laut aussprechen.
Gewagt: Prognosen für eine Zukunft, die man knapp noch miterlebt
Wired-Herausgeber Kevin Kelly hat 2007 das Maes-Garreau-Gesetz (3) aufgestellt. Diesem Gesetz zufolge besagen die meisten optimistischen Technik-Ankündigungen, dass das jeweils neue Ding ganz kurz vor dem wahrscheinlichen Lebensende der vorhersagenden Person fertig sein wird. Es beruht auf einem wissenschaftlich vermutlich nicht ganz ernst gemeinten Ars-Electronica-Vortrag der Informatikerin Pattie Maes, in dem sie 1993 die Vorhersagen über Unsterblichkeit durch mind uploading grafisch gegen das Lebensalter ihrer Urheber aufgetragen hatte. Die rettende Technologie sollte sich jeweils gerade rechtzeitig zum 70. Geburtstag der Vorhersagenden einstellen. Der zweite namensgebende Teil des Gesetzes stammt von Joel Garreau, einem Journalisten, der in seinem Buch Radical Evolution dieselbe Beobachtung auch bei anderen Technologien macht.
Das Gesetz hat leider die nachfolgenden ernsthafteren Untersuchungen nicht überstanden. Es wäre ein schöner und einleuchtender Zusammenhang gewesen, aber wie viele intuitiv einleuchtende Zusammenhänge existiert er nicht. Eine ausführliche Untersuchung dieser und anderer Meta-Prognosen im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz findet sich in einem Überblick von Stuart Armstrong mit dem Titel «AI timeline predictions: are we getting better?» aus dem Jahr 2012. Armstrong kommt zu folgenden Schlüssen: Über ein Drittel aller Vorhersagenden kündigen «Künstliche Intelligenz» für einen Zeitpunkt an, der 16 bis 25 Jahre in der Zukunft liegt. «Gegenwärtige Vorhersagen unterscheiden sich kaum von denen, die sich bereits als falsch erwiesen haben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die jüngsten Vorhersagen denselben systematischen Verzerrungen und Fehlern unterliegen wie ihre Vorgänger.»
Praktisch: Die unpräzise Formulierung
Unpräzise Vorhersagen sind unausweichlich, wenn es noch gar keine Wörter für das Vorhergesagte gibt. Johannes Kepler schreibt 1610 in einem kurzen Buch mit dem Titel «Sidereus Nuncius»: «Wenn wir erst einmal Schiffe oder Segel haben, die sich für den Himmelsäther eignen, dann wird es auch genügend Leute geben, die sich vor den leeren Weiten nicht fürchten.» Wir sind gern bereit, zu denken, dass Kepler schon das Richtige meint. Es wäre kleinlich, «haha, Schiffe, haha, Segel!» zu sagen. Aber Achtung, das funktioniert nur bei Entwicklungen, die wirklich noch weit weg sind. Beim Betrachten von AT&T-Werbespots (4) aus dem Jahr 1993 über eine Zukunft, in der wir mit einem Tablet am Strand liegen und Faxe verschicken werden, ist es schwerer, nicht zu kichern.
In anderen Fällen sind die Wörter zum Zeitpunkt der Prognose schon vorhanden, man kann sich aber langfristig nicht auf sie verlassen. Der Autor Michael Ende antwortete 1984 auf eine Interviewfrage, er glaube, «dass Computer u. dgl. nie Bücher ersetzen werden.» Die Begriffe «Computer» und «Bücher» sind schon jetzt, noch nicht einmal vierzig Jahre nach der Aussage, unklar geworden. Waren mit Computern nur Geräte von Möbelstückformat mit Monochrom-Röhrenmonitoren und mit Büchern nur Bücher auf Papier gemeint? Wenn jemand ein E-Book auf einem Smartphone liest, hat dann ein Computer das Buch ersetzt oder beweist das Buch gerade durch diesen erfolgreichen Wechsel des Trägermediums seine ewige Haltbarkeit? Die Aussage lässt sich von jedem Zeitpunkt in der Zukunft aus so deuten, dass der Autor recht oder eben unrecht hatte.
Relativ risikolos: Die sehr ferne Zeitangabe
Bei kurzen Vorhersagezeiträumen erwartet das Publikum mehr Präzision. Wenn man eine Entwicklung für «in 100 Jahren» vorhersagt, wissen in der Gegenwart alle, dass damit nicht «am heutigen Datum im Jahr 2120» gemeint ist, sondern «irgendwann halt». Und falls in hundert Jahren jemand die Prognose wiederfindet und das Vorhergesagte schon längst oder immer noch nicht eingetreten sein sollte, wird man eher bereit sein, grosszügig «naja, plusminus fünfzig, passt schon» zu sagen.
Ein Nachteil solcher Vorhersagen: Die Wirtschaft interessiert sich stark dafür, was innerhalb der nächsten fünf Jahre sicher eintreten wird und das sofortige Einberufen von Meetings erfordert, damit man in fünf Jahren wenigstens nicht ganz so weit abgehängt ist wie die Konkurrenz. Prognosen, was nicht in fünf, sondern erst in hundert Jahren eintreten wird, führen daher viel seltener zu lukrativen Vortragseinladungen.
Praktisch: Gar keine Zeitangabe
Ohne Datum kann man einfach alles vorhersagen. Irgendwann wird es dann schon noch passieren, wenn nicht jetzt, dann eben «eines Tages» oder «in der Zukunft». «In der Zukunft werden wir mit Computern in erster Linie durch Sprache kommunizieren, nicht durch Grafik», kündigte Nicholas Negroponte vom MIT Media Lab im November 1989 an (5). «In Zukunft»-Aussagen funktionieren nicht immer wie gedacht, weil die allgemeine Erwartung ausserhalb futurologischer Fachkreise zu sein scheint, dass die Zukunft gar nicht in einer weit entfernten Zeit stattfindet, sondern unmittelbar bevorsteht. Darauf deutet eine internationale Umfrage (6) von Bruce Tonn, Angela Hemrick und Fred Conrad hin. Die Befragten denken, wenn sie das Wort «Zukunft» hören, im Schnitt an einen nur fünfzehn Jahre entfernten Zeitpunkt. Negropontes Zukunft ist bisher, dreissig Jahre nach seiner Prognose, noch nicht eingetreten, aber sie kann immer noch kommen, vielleicht übermorgen, vielleicht in fünfhundert Jahren. Das ist das Schöne an der Zukunft.
Ideal: Die automatische Prognose
Die besten Zukunftsprognosen sind automatische Prognosen, die man sich nicht alle paar Monate neu auszudenken braucht. Hier können sich alle ein Beispiel an Gordon Moore nehmen, dessen 1965 formuliertes Moore’s Law besagt: «Die Komplexität integrierter Schaltkreise mit minimalen Komponentenkosten verdoppelt sich regelmässig», wobei regelmässig je nach Quelle 12, 18 oder 24 Monate bedeutet. Ursprünglich sollte die Vorhersage nur die zehn Jahre bis 1975 abdecken. Der 1929 geborene Gordon Moore hat ihren Gültigkeitsbereich immer wieder revidiert, zum vorletzten Mal 2007 («noch zehn bis fünfzehn Jahre») und zuletzt 2015 («fünf bis zehn Jahre»), also maximal bis 2025. «Danach stösst man anscheinend an eine unüberwindliche Grenze, aber das war in den letzten 30 Jahren auch schon immer so.»
Ein letzter guter Ratschlag von Gordon Moore: Auf die Interviewfrage, was er aus dem grossen Erfolg von Moore’s Law gelernt hat, antwortet er: «Wenn dir einmal eine erfolgreiche Vorhersage gelungen ist, belass es am besten dabei und mach keine zweite.»
(1) Jedenfalls für alle, die nicht vom Fach sind. Für Fachleute auch, aber aus anderen Gründen.
(2) 1950 erschien Alan Turings Text “Computing Machinery and Intelligence” academic.oup.com/mind/article/LIX/236/433/986238. Er enthält eine vorbildlich präzise Vorhersage für das Jahr 2000. Das Vorhergesagte ist bisher nicht eingetreten.
(3) kk.org/thetechnium/the-maesgarreau/ und en.wikipedia.org/wiki/Maes–Garreau_law
(4) www.youtube.com/watch?v=TZb0avfQme8 oder Suchbegriffe AT&T “You Will” ads
(5) “Speech more important interface than graphics, Media Lab’s Negroponte tells SIGGRAPH”. Byte Magazine, November 1989, S.26
(6) B. Tonn, A. Hemrick & F. Conrad: “Cognitive representations of the future: Survey results” (2006) Futures, 38(7), 810–829.