Gegenüber vom Haus, in dem ich wohne, breitete sich vor sieben Jahren noch der alte Güterbahnhof aus. 1897 erbaut, zählte er zu den Baudenkmälern Zürichs mit grossem städtebaulichem, verkehrs- und industriegeschichtlichem Wert. Der aktuelle Bau an seiner Stelle lässt mich jene verwünschen, die einen Abriss und Neubau ermöglicht haben. 2010 entschied sich der Kantonsrat erst gegen das neue Polizei- und Justizzentrum, das daraufhin doch dort hingeklotzt wurde. Ein alternativer Standort wäre die ehemalige Toni-Molkerei gewesen, in der sich heute die Zürcher Hochschule der Künste befindet. Nach der kantonalen Ablehnung wurde 2011 das Behördenreferendum ergriffen und das Stimmvolk entschied sich für das PJZ aus Stein und Glas, das sich in die Höhe und noch massiver in die Breite türmt. Reihe um Reihe von steinernen Kacheln eingerahmte Fenster, die je nach Lichteinfall ein wenig enger oder flacher werden. Solange das monströse Gebäude seine mattschwarzen Rollläden nicht runterzieht, lässt es sich mit dieser Aussicht gerade leben, ohne in depressive Zustände zu verfallen. In seinen Gläsern spiegelt sich dann Himmel, Albis und Häuserzeilen. Doch sind die schwarzen Tücher verhängt, wird es schwierig, sich nicht in den alten Güterbahnhof zu wünschen, in dem kein leeres Gefängnis steht. Ich denke dann an das damalige hellbeige Sichtsteinmauerwerk mit den roten Fensterbögen, an die geisterhafte Kneipe mit dem Kellner, der nichts zu tun hat, und vor allem an viel Platz, der einfach Platz ist. Im brachliegenden Areal spielte sich einer meiner wiederkehrenden jugendlichen Tagträume ab, in dem ich nur zwischen solchen Backsteinmauern sass, durch deren unverglaste Fenster der Wind durch den Raum zog und die Pflanzen langsam aber stetig alles, was starrer war als sie, in Besitz nahmen.

So stellen wir uns vielleicht überhaupt eine Brache vor – eine offene
Fläche, auf der es ungezähmt wächst. In den Schweizer Statistiken wurden jedoch mit der höchsten Ziffer Industriebrachen vermerkt. Es folgen Bahnbrachen, Militärbrachen, Flugplätze und zum Schluss die «anderen» Brachen. In einem Report des Bundesamtes für Raumentwicklung von 2008, landet der Kanton Zürich mit 64 Brachen und total 258 Hektar Arealfläche auf dem ersten Platz, andere Kantone folgen mit grossem Abstand.

Direkt neben unserem Haus steht noch eine Brache. Sie zählt jedoch nicht zu den grossen Industriebrachen, die für Investoren interessant sein könnten, sondern zu jenen Stellen der Stadt, die zu unattraktiv sind, als dass sich die Stadt selbst oder sonst jemand tatsächlich darum kümmern wollen würde. Mein Mitbewohner erzählt mir, dass die Stadt vor Jahren die Möglichkeit gehabt hätte, das Haus, das einst an dieser Ecke stand, für 2,1 Mio. zu kaufen, es anscheinend aber nicht für nötig befand. Folglich ging es an eine private Milieufigur. Irgendwann war klar, dass das Haus doch weichen muss, um den Bau des Westrings zu ermöglichen. Die Stadt musste den aktuellen Besitzer enteignen, was nur unter Streitigkeiten vor dem Bundesgericht ausgehandelt werden konnte und schlussendlich in einer Entschädigung von 5,4 Mio. endete. Das Haus wurde abgerissen, die Strasse umgeleitet und seither steht dieser Flecken leer. Eine kleine Fläche Kies, stellenweise einer Wiese ähnlich, auf dem einige wuchernden Kisten stehen und ein paar farbbesprühte Faserplatten herumliegen; Zeugnisse einer halbherzigen Umgestaltungsaktion. Neben verblichenen Bierdosen ist da noch ein weisser Sessel. Auf den könnten sich alle setzen, die Zeit zum Nichtstun haben – und Lust auf ohrenbetäubenden Verkehrslärm.
Wo hingegen kaum Verkehrslärm durchdringt, wo es geradezu balsamierend still ist für eine wie mich, die sich jenem Lärm täglich aussetzt, ist in der Stadionbrache. Schritt für Schritt entstand sie in den letzten zehn Jahren auf Eigeninitiative der Anwohnerinnen. Sie beherbergt einen lebendigen Stadtpark, der die Stadt Zürich – ausser den Beiträgen an den Betriebskosten – nichts gekostet hat. 2017 konstituierte sich ein Verein, der sich öffentlich für den Einbezug der Bewohnerinnen in die Entwicklung von Zürich-West einsetzt, sowie dafür, die grünen, veränderbaren und öffentlichen Räume zu sichern und entwickeln.
Es scheint gut zu gelingen; der Ort wirkt behütet, gepflegt und geordnet. Die Spuren der sich kümmernden Hände sind liebevoll präsent. Was dort gedeiht und wächst, kreiert eine Atmosphäre des Freien und gleichzeitig Versteckten, in dem man untertauchen und sich vergessen, sogar wieder einmal Tagträume vorbeiziehen lassen kann. Zum Beispiel in der Abendsonne auf den Stufen zum kreisrund geteerten Stadionplatz, auf dem während der regnerischen Juliwochen Konzerte des Stadtsommers Klänge über die Fläche und ins Quartier streuten. Bei meinem Besuch besetzt den Platz gerade das fahrende «Zigeuner-Kultur-Zentrum», wie sich auf einem Plakat am Zaun ablesen lässt. Das fahrende Zentrum umfasst eine Zeltwirtschaft mit nostalgischer Fotoausstellung, einen kleinen Flohmarkt und einen Gulasch-Stand. Noch hat die Stadionbrache grünes Licht, um ihre Vision einer grossen grünen «Allmend Hardturm» zu realisieren. Der Verein arbeitet jedenfalls weiter daran, dass das geplante Folgeprojekt, welches für sie selbst mit dem Fussballrasen nicht als grün durchgehen kann, abgewendet wird.

Stichwort Allmend: Auch der heutige Durchgang vom Bike- zum Skatepark Allmend lag einmal mitten in einer Industriebrache. Ein provisorischer Freestylepark, vielleicht jenem in der Allmend ähnlich, wäre einmal als Folgeprojekt in der Binz gedacht gewesen, bis die Idee wegen Einsprachen der Anwohnenden fallen gelassen wurde. Insgesamt sieben Jahre waren die Fabrikgebäude der Binz von «Familie Schoch» besetzt und immer wieder Gegenstand politischer Debatten. Heute steht dort eine Wohnüberbauung für Studierende und Personal des Universitätsspitals.
Eine breitere kommerzielle Umnutzung erfuhr die ehemalige Sihlpapierfabrik. Die Zeichen ihrer Besetzung sind noch sichtbar: die Überbleibsel der Dadaist*innen und sonstiger Freigeister werden eingerahmt als Geschichte angepriesen. In eine ähnliche Kategorie fällt das Zollfreilager, welches zwar nicht besetzt war, jedoch nachhaltig umgestaltet und in städtische Konventionen eingebettet wurde.

Eine offene Fläche, die blossen Platz bietet, ist die Brache Guggach. Die Landreserve der Stadt Zürich an der Ecke Wehntaler-/Hofwiesenstrasse wurde während fünf Jahren zwischengenutzt. Die verschiedenen Projekte und Veranstaltungen waren vom Team Quartier GZ Buchegg koordiniert. Mittlerweile ist die Brache dauerhaft geschlossen, weil die Gelder für die geplanten Wohnungen, Gewerbeflächen, sowie Kindergarten, Schulhaus mit Doppelturnhalle und Quartierpark gesprochen wurden. Eine der letzten Brachen der Stadt ist somit nun auch nur mehr Geschichte. Oder erst jetzt eine richtige Brache?
So oder so befindet sie sich in bester Gesellschaft der in die Geschichte eingegangenen Brachen. Während in den neunziger Jahren die Stadt mit Quartieren wie Zürich West, Oerlikon und Brunau voll von Industriebrachen war, fallen diese heute immer schneller der geplanten Stadtentwicklung zum Opfer. Zu einzelnen Orten kann man heute noch digital einen Ausflug machen: Der Glacegarten war 1999 eine Besetzung an der Heinrichstrasse mit verschiedenen Nutzungen. Via art.squat.net findet man sortierte Fotos der bespielten Räume und zwei Ausgaben des «Glacepapiers». In allem, was diese Fotos und Scans zeigen, schreit einem unverkennbare Punk-Ästhetik entgegen und rotzige Kritik an allem, das mit dem Trend geht und kapitalistischen Mechanismen gerecht zu werden versucht.

Wo heute am ehesten noch Punk dominiert, jedoch in gezähmterem Erscheinen, ist der Park Platz. Auf dem Gelände neben dem alten Bahnhof Letten, welches der Stadt gehört, war über die Jahrzehnte einiges los. In den 90ern zog die Szene aus Dealern und Fixern vom Platzspitz dort hin, später entstanden erste soziokulturelle Projekte. Seit sechs Jahren wird das Areal als Zwischennutzung von zwei Vereinen bespielt. Jeden Freitag um 16 Uhr findet dort eine offene Sitzung statt, an der sich jene treffen, die sich aktiv beteiligen, oder es gerne tun würden. Get involved! heisst die schliessende Aufforderung. Es scheint das Herzensanliegen der beiden Vereine zu sein, von denen sich einer um die Infrastruktur und der andere um das Programm vom «Parki» kümmert. Sein Dasein als Zwischennutzung fordert Geduld und Zähigkeit im andauernden Aushandeln von Kompromissen mit der Stadt, was offenbar längerfristig als repetitiv fruchtlos erscheint. Deshalb wurde unlängst eine Petition (platzda.jetzt) ins Leben gerufen, die aktuell 3330 von 4000 verlangten Unterschriften zählt. Der Verein fordert einen direkten Vertrag mit der Stadt, gerechtere Bewilligungspraxen von Veranstaltungen sowie Bauten in alternativen Raumprojekten.

Zum Schluss noch ein Spaziergang zur Roten Fabrik. Nur wenige Meter stadteinwärts wird auf dem bisherigen Areal der Franz AG gerade das Fundament für ein paar Luxus-Villen gelegt. «Was für eine schlechte Idee», meint der Verein «Linkes Seeufer für alle». Die Koalition aus Quartierbewohnerinnen, Kulturschaffenden und Stadtbewohnerinnen kämpft nun dafür, dass auf dem zwischen der Franz AG und der Roten Fabrik gelegenen Kibag-Areal nicht dasselbe passieren wird.

Lina Maria Sommer ist Künstlerin und Schreibende.

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