09:28

Es ist Mitte Oktober und zu heiss für diese Jahreszeit. Der Zug steht auf Gleis 11. Die Aschenbecher auf dem Perron sind mit halbgerauchten Zigaretten gefüllt. Eine Frau mit grauer Umhängetasche erklärt, dass sie bald pfeifen werde und dann alle Leute einsteigen müssten, die noch mitfahren wollten. 

09:29

Sie pfeift.

09:48

Die Innenwände des Wagens Nummer fünf sind mit bunten Tiermotiven geschmückt. In dem Kinderabteil sitzen vereinzelt Erwachsene, ihre Blicke konzentriert auf Laptops und Smartphones gerichtet. Die Stille wird nur durch das feine Tippen auf den Tastaturen durchbrochen. Kaffeebecher stehen auf den kleinen Klapptischen. Es riecht nach alten Sesseln.

10:06

Die Landschaft vor den Fenstern besteht aus bunten Strichen. Die Sonne brennt hell von dem klaren Herbsthimmel, der sich im hellblauen Wasser des Sees spiegelt. Eine Passagierin drückt ihr Handy gegen die Scheibe. Die grünen Linien ziehen auf dem Handybildschirm vorbei. Eine Frau mit dunklen Stirnfransen fragt, ob hier Wagen Nummer 23 sei. Den gäbe es nicht in diesem Zug, antwortet ein Mann mit Mütze. Die Frau zuckt die Schultern und geht weiter.

10:33

Ein Vater mit gut genährtem Baby im Arm versucht mit seiner freien Hand einen schweren Koffer von der Gepäckablage zu heben. Eine hastige Person in grauem Kapuzenpulli drückt ihren zusammengeklappten E-Roller zwischen einen Kinderwagen und eine Sporttasche. Eine Falte bohrt sich zwischen die Augenbrauen einer Frau, die an ihrem Laptop an wissenschaftlichen Grafiken bastelt. Ihr Fuss wippt, das Kind neben ihr auch. Es trägt grosse schwarze Kopfhörer, die sein bleiches Gesicht wie in einer Schraubzwinge einklemmen. Auf seinem I-Pad läuft ein Trickfilm mit kleinen rosa Schweinchen. Das Kind lacht laut auf, dann ist es wieder still.

10:58

Jemand flüstert durch eine hellblaue Mund-Nasen-Maske in sein Telefon. 

10:59

Eine Frau mit blonden Locken hält ihre Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken gelegt, den Mund sperrangelweit geöffnet. Sie röchelt, der Zug rattert. Wieder lacht ein Kind.

11:02

Eine Zugmitarbeiterin scannt die Tickets der Fahrgäste.  Eigentlich wollte sie einen typischen Mädchenberuf lernen und Hebamme oder Floristin werden. Beruflich ständig unterwegs zu sein, übt keinen besonderen Reiz auf sie aus. Als sie noch jung war, dachte sie, dass Zugtickets abstempeln ein entspannter Beruf sein müsste. Sie täuschte sich, aber das ist jetzt 32 Jahre her. Die Ausbildung war lange und anstrengend, die Arbeit stressig. Aber immerhin muss sie nicht als Flugbegleiterin arbeiten. Im Zug kann man wenigstens in den nächsten Wagen laufen, wenn einer nervt, und den Leuten die Meinung geigen, wenn sie einem dumm kommen.

11:11 

Mittlerweile ist der Zug randvoll. Sechs Teenager haben keine reservierten Plätze und müssen nun im Gang zwischen zwei Wagons verweilen. Schüchtern stehen sie im Kreis, vier von ihnen in ihr Smartphone versunken, zwei in die Landschaft hinter den Fenstern. Es ist das erste Mal, dass sie zusammen verreisen, sechs Freunde, drei Tage Italien. Trotz ihres jungen Alters, ihrer Zahnspangen und verpickelten Gesichtern, sind sie nicht besonders abenteuerlustig. Bis jetzt ist nichts aufregendes passiert, keiner ist verloren gegangen, niemand im Krankenhaus gelandet, sie haben kein Auto geklaut, ja, nicht mal eine interessante Bekanntschaft im Zug gemacht.

11:25

Neben einer Frau mit Brille sitzt ein durchschnittlicher Mann. Seine Hände blättern durch einen Reiseführer. Die vollen Arbeitstage hatten nicht zugelassen, dass er sich frühzeitig um die Planung seiner Zweitagereise kümmert. Bedauerlich, denn der Mann bereitet sich gerne auf Dinge vor. Trotzdem bringt ihn nichts aus der Ruhe, schon gar nicht das Reisen, denn er ist ständig unterwegs, überquert täglich Grenzen und muss sich um Ticketpreise keine Gedanken machen.

11:40

Eine ältere Dame freut sich darüber, dass ihre Sitznachbarin endlich aufsteht. Sie klappt die mittlere Armlehne hoch und stellt ihre Handtasche, die bis dahin auf ihrem Schoss lag, auf den freigewordenen Sitz. Danach zieht sie sich die Schuhe aus und reisst ein Packung Kekse auf.

11:43

Von dem schmalen Gang des Zuges führen zwei kleine Türen zu zwei winzigen Kammern, eine für das Personal, die andere für den Chef. Ein grosser Mann mit voluminösen Locken spricht in das Mikrofon der ersten Kammer. Seine freundliche Stimme dröhnt durch den Zug.

12:15 

Der Speisewagen ist angenehm leer. Hinter der grauen Bar steht ein junger Mann mit grauer Schürze. In der Ablagefläche der Bar spiegelt sich das grelle Deckenlicht. Die Kaffeemaschine zischt und faucht, heisser Dampf steigt auf. Der junge Mann ist vor drei Jahren zufällig in diesem Job gelandet. Die schwarze Brühe tröpfelt in einen Pappbecher. Die Chefin hat ihm diesen Job vermittelt, er hatte nie vor in einer fahrenden Küche zu arbeiten. Er gestikuliert vielsagend. Weisser Milchschaum bedeckt den schwarzen Kaffee. Der Mann mit Schürze streut dunkles Schokoladenpulver darüber. Alle paar Stunden muss er die ganze Küche reinigen und in einen anderen Zug umsteigen, um dort wieder ein paar Stunden hinter dem Tresen zu stehen und dann auch jene Küche zu reinigen. Die Lust aufs Zugfahren ist dem jungen Mann schon lange vergangen. Wenn er privat unterwegs ist, nimmt er lieber das Auto oder gleich das Flugzeug. Er klemmt einen Plastikdeckel auf den Kaffeebecher und sagt: Das macht fünf Euro fünfzig.

12:33

Eine Frau mit Maske vor Mund und Nase läuft im Speisewagen auf und ab, balanciert ihr Gewicht gegen das Ruckeln des Zuges. Sie hat sich ein Kissen in den Nacken geklemmt, das bei jedem ihrer Schritte wackelt. Sie findet Zugfahren schön, wegen der Landschaft, die vorbei zieht. Wo sie herkommt, fährt niemand Zug, jedenfalls nicht freiwillig, die Autostrassen sind lang und breit und die Autos so gross, dass man eine Leiter braucht um einzusteigen.

12:48 

Der Zugchef läuft durch den leeren Speisewagen, der mittlerweile leer ist. Dieser Zug fährt direkt durch, murmelt er vor sich hin. Er fährt direkt durch ohne Halt, Sie sind im richtigen Zug, keine Sorge, murmelt er weiter in die Leere des Boardrestaurants. Er guckt entschlossen, fasst sich an seine Mütze und wiederholt: Sie sind hier richtig, dieser Zug fährt direkt durch. 

13:26

Endhaltestelle. Der lockige Zugmitarbeiter mit der freundlichen Stimme steht auf dem Perron. Die Luft ist dünn und stickig, der Boden grau und staubig. Über seinem Lockenkopf leuchtet der Namen der Endhaltestelle des Zuges. Ein weisshaariger Mann mit grünem Koffer kommt auf ihn zu und fragt, wo dieser Zug hinfahre. Der Zugmitarbeiter lacht und deutet mit dem Finger über seinen Kopf auf das Anzeigeschild. Der Mann mit dem Koffer nickt und wendet sich zur Sicherheit an einen anderen Zugmitarbeiter, der einige Meter daneben steht und stellt ihm die selbe Frage.

13:28

Der lockige Zugmitarbeiter ist froh, nicht in einem Büro zu arbeiten, obwohl er unterwegs vor allem städtische Bahnhöfe anstatt der Ortschaften kennenlernt.

13:40

Eine Mutter mit zwei Koffern, die ihr bis zur Hüfte reichen, drei Taschen und einem Blumenstrauss, stolpert aus dem Zug. Das Gepäck fällt über die schmalen Treppenstufen des Zuges auf den Boden davor. Die Mutter flucht, ein Koffer platzt auf. Bunte Kinderkleidung verteilt sich auf den Gleisen, eine geblümte Kuscheldecke weht durch die Bahnhofshalle. Der Zug zischt und schliesst seine Türen. Das Kind der Mutter sitzt im Zug. Der Mutter fällt ein, wen sie vergessen hat. Der Zug fährt los. Das Kind weint. 

13:58

Drei Leute in orangen Westen tragen grosse mit Müll gefüllte Säcke über die Gleise. Sie sprechen kein Englisch und haben keine Zeit.

14:20

Am Endbahnhof wartet ein junger Saxophonist auf seinen nächsten Zug. Sein brauner Mantel ist elegant, sein Koffer schwarz. Er würde lieber das Flugzeug nehmen, aber dafür ist die Strecke zu kurz.

14:59

Vor den Bahnhofstoiletten liegen drei Teenager gelangweilt auf dem Boden und gucken Videos auf ihren Handys. 

15:01 

Unter einer grossen Werbetafel sitzt eine junge Frau am Boden der Bahnhofshalle. An einer Leine liegen zwei riesige Hunde mit langen Beinen, Ohren und Schnauzen. Sie wartet auf den Zug, der sie aufs Land fährt, um Oliven zu pflücken. Eigentlich darf sie nur einen der Hunde mit in den Zug nehmen, zwei sind verboten. Ein dicht gepackter Wanderrucksack steht neben der Frau in Baumwollklamotten. Sie hat nur für einen Hund bezahlt, den zweiten muss sie illegal mitnehmen. 

15:06

Neben der Frau mit den Hunden sitzt ein Mann mit wenig Zähnen. Auch er wartet auf seinen Zug, der in einer Stunde gegen Norden abfährt. Eigentlich nimmt er nie den Zug, weil das viel zu lange dauert. Er fliegt viel lieber, zum Beispiel nach Madagaskar oder in die USA. Wie früher, als er viel mit seinem geheimen Club unterwegs war. Er zwinkert und spuckt durch eine seiner Zahnlücken auf den staubigen Boden.

15:30

Eine Frau im pinken Einteiler bahnt sich den Weg an einer Familie mit drei Kindern und vier Hunden vorbei. Eine andere richtet ihr Kopftuch und macht ein Selfie. Ein Mann in Uniform macht ein wichtiges Gesicht. Eine Person mit Stock humpelt zum Mülleimer. 

16:24 

Der Zug fällt aus, steht in gelber Leuchtschrift auf der unleserlichen Tafel. Die Masse aus Menschen und Koffern stöhnt und schleppt sich mühselig zu einem anderen Gleis mit einem anderen Zug. Verschiedene Stimmen sprechen in diversen Sprachen.

16:25

Eine alte Frau in Sportoutfit läuft hektisch durch die Bahnhofshalle. An ihrer linken Hand zieht sie ihren Enkel hinter sich her. In der anderen schleift sie einen Koffer, der im Schrittakt über den Boden hüpft. Sie erreichen eine Person in Uniform, die unverständliches Gemurmel von sich gibt und mit dem Finger in Richtung Infostände deutet. Vermutlich gab es einen Unfall, erklärt die Alte dem Kleinen. Ein Erdrutsch, sagt das Kind lachend und entblöst dabei seine überdimensionalen Zähne, die proportional noch nicht zum Rest der Mundpartie passen. Das ist kein Spass, beschwert sich die Grossmutter. Menschen können dabei sterben, findest du das lustig? Ja, antwortet der Junge und nickt schüchtern, diesmal mit geschlossenem Mund. 

16:27 

Unzählige Menschen erklimmen die Stufen des Zuges, der sie nun ersatzweise an ihr Ziel bringen soll. Die Menschenmenge quillt von den überfüllten Gängen in die überbelegten Sitzabteile, wo sich unfreiwillige Bekanntschaften ergeben. Eine Frau mit grosser Reisetasche sieht sich gezwungen, sich mit dem Herren mit rot angelaufenem Gesicht zu unterhalten, der sich neben sie auf den Sitz drückt. Seine Gesichtsfarbe erzählt von den Bieren, die er sich über Mittag gegönnt hat. Sie lächelt gequält, er mutmasst, wie er nun nach Hause kommt.

16:31

Eine junge Frau sitzt am Boden im Eingangsbereich des Zuges. Die hastigen Passagiere streifen ihre grüne Outdoorhose. Neben ihr steht ein Wanderrucksack auf dem schwarzen Teppich des Zuges. Aus dem Rucksack ragen zwei Wanderstöcke spitzig hervor. Hinter der Mund-Nasen-Maske strahlt ihr sonnengebräuntes Gesicht. Drei Monate lang war sie zu Fuss unterwegs. Von Zuhause aus ist sie losgelaufen, immer Richtung Süden. Tagsüber grübelte sie beim Laufen, das sie in eine Art Trance versetzte und abends las sie in ihrem E-Reader alleine im Zelt. Die schnelle Zugfahrt kommt ihr nun absurd vor. An den Scheiben zieht in Sekundenschnelle die Landschaft vorbei, die sie die letzten Wochen mühselig zu Fuss überwunden hatte. Langsam sein ist eigentlich sehr schön und Langeweile ein Privileg, sagt die junge Frau.

17:04

Eine Person hat ihre Schuhe ausgezogen und streckt ihre Füsse auf den Schoss der Person gegenüber, die geistesabwesend an den Socken der ersten Person zupft.

17:34

Drei junge Menschen sitzen eng nebeneinander gepfercht auf zwei gepolsterten Sitzen. Ihre Köpfe liegen müde auf der Schulter ihres Sitznachbars.

18:00

Der Zug fährt durch einen Tunnel, der endlos scheint. Ein Mann mit Kinnbart schaut aus dem Fenster in seine Reflexion und dann beschämt auf seine Knie.

18:55 

Die Sonne steht tief und taucht die verschwommene Landschaft hinter den Scheiben in wohlig warme Töne. Der Himmel ist dunkelgelb und wolkenleer, im Hintergrund zeichnen sich Berge ab. Eine Frau mit Sommersprossen hat Schweissflecken an der Bluse. Eine Mutter spielt mit ihren beiden ehrgeizigen Töchtern Uno.

19:05

Der Zug brettert mit 287 km/h über das hüglige Land. Es ist Mitte Oktober und zu heiss für diese Jahreszeit. Der Zug fährt auf Gleis 3 ein.

Dieser Beitrag in Text & Bild entstand aus Beobachtungen und Interviews während einer Zugfahrt. Von Kira Kynd und Sara Arzu Hardegger

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