Rhizom

Eine grosse, alte Roteiche stand da, ihre Blätter waren riesig, und zwei Frauen, eine oben, eine unten, sägten Äste ab. Die Frau auf dem Baum fühlte sich sichtbar wohl da oben, sie rief der Frau unten immer wieder mir unverständliche Dinge zu. Ich fragte die Frau unter dem Baum, ob ich ein Blatt haben dürfe, sie reichte mir einen abgesägten Ast. Ich fragte, was sie mache, sie sagte: Totholz absägen. Ich fragte, wieso denn noch Blätter an dem Ast wüchsen, wenn er tot sei, sie sagte, er sei halb tot. Aber sie sei keine Spezialistin, sondern Gemüsegärtnerin. Die Spezialistin sitze auf dem Baum.


Konnexion

Ich habe einen Text über einen Leuchtkäfer gelesen, der 1891 auf die Schottenfeldkirche in Wien blickte. Beziehungsweise über den Blick durch ein Facettenauge. Der Käfer nämlich hat sein Auge hergegeben. Dieses wurde von seinem Köpfchen abgelöst und unters Mikroskop gelegt. Dann wurde von der Rückseite, der Retinaseite her, durch den Linsenapparat die Welt vor dem Auge fotografiert. Wie man sie sehen würde, wäre man ein Mensch mit Facettenaugen. Allerdings wird mir das erst im Nachhinein bewusst, beim zweiten Mal lesen. Bei der ersten Lektüre dachte ich, man hätte das Auge des lebenden, des blickenden Leuchtkäfers fotografiert und beschrieben, was sich auf diesem Auge spiegelte. Ich hatte mehr Freude an meiner ersten Lektüre.

Daran, wie und was dem Leuchtkäfer denn auf seinem Facettenauge gewahr wird. An seiner Benommenheit. Ich frage mich, was mir gewahr wird.

Ich sitze auf einer Bank an einem See, und die Blätter einer Birke zittern vor sich hin, auch ihr Schatten zittert, und etwas weiter weg spiegelt sich der See auf einem anderen Baum, einem Ahorn. Seine Blätter sind zwar ruhig, aber es wellt sich der See in seinem Geäst. Jetzt erst sehe ich, dass der See sich nicht nur auf dem Ahorn spiegelt, sondern auch auf dem Holunder und dem Stamm einer alten Eiche.

Ich denke, gut, die Birke, die zittert so vor sich hin, als sei sie eine Pappel, aber Holunder, Ahorn und Eiche stehen ruhig da, und doch bewegt sich die Spiegelung des Sees auf ihnen. Benommenheit überkommt mich.


Konnexion

Ich beschloss, die Freundin zu ihrem Zahnarztbesuch zu begleiten. Dort fragte ich am Empfang, ob es Wurzeln zu besichtigen gäbe. Worauf mir die Dentalassistentin ein Gebiss brachte. Dieses lag aufgeklappt auf meinen Knien, während sie mir erklärte, es gäbe bukkale und palatinale Wurzeln. Die bukkalen Wurzeln befänden sich auf der Backenseite, die palatinalen Wurzeln auf der Gaumenseite. Es gäbe weitere spannende Dinge zu erfahren, ich solle mitkommen. Also ging ich mit in einen Raum, in dem das Wurzelbehandlungs und weiteres Werkzeug geputzt und desinfiziert wurde. Dort erzählte mir eine Frau, dass die Zähne in incisivus, caninus und molar unterteilt werden. Incisivi sei der Plural von Incisivus, und molare Zähne seien in der Regel mehrwurzlig. Das, was beim Gebiss in meiner Hand nach einer künstlichen äusseren Wurzel aussehe, sei ein Wurzelimplantat, es bestünde aus Titan. Und dann gäbe es noch Brücken. Brücken sind Zwischenglieder ohne Wurzeln.

Der Zahnarzt kam hinzu und fragte mich nach meinem Befinden. Ich sagte, ich ginge meinen Wurzelstudien nach, in Kombination mit der Erforschung von Erinnerungs- und Heimatgefühlen.

Woraufhin er mir erklärte, dass die Krone des Zahns das sei, was man sehe, die Wurzel hingegen sei versteckt, wie Heimatgefühle auch. Er holte die Illustration eines Zahns und sagte, siehst du, hier laufen die Nerven durch, wenn Bakterien hereinkommen, ists fertig. Bei einer Wurzelbehandlung entnerve man daher den Zahn.

Ich erzählte der Freundin auf dem Heimweg von entnervten Zähnen. Der Zahn sei nach einer Wurzelbehandlung bleibend enerviert, sagte sie. Er schmerze dann nicht mehr, sei aber nach dieser Denervation nicht mehr vital, er stehe einfach da. Daher müsse man den denervierten Zahn gut beobachten, weil man spüre ihn nicht mehr und merke auch nicht, wenn er fault.


Konnexion

Hyazinthen im Glas haben eine eigentümlich sichtbare Art, sich zu wurzeln. Sie müssen keine Wurzeln in die Erde schlagen, sondern können sie wiegen, im Wasser. Wie Buchen und Eichen sich wurzeln, sehe ich nicht.


Konnexion

So verwurzelt Bäume auch sein mögen, ihre Blätter lassen sie fallen.


Konnexion

Ich hatte zwei Hortensienwurzeln ausgegraben. Es sind die Wurzeln der Hortensien auf dem Hügel, den man von der Küche meiner Eltern aus sieht.
Ich erinnere mich, dass sich meine Katze oft in das Hortensiengehölz legte und schlief. Je älter sie wurde, umso lieber war ihr dieser Platz. Ich sah oft, dass sie frühmorgens aus den Hortensien den Tau trank, den Regen auch. Sie reckte ihren Kopf nach oben und trank aus den Blütenblättern. So trank sie auch am Tag, an dem sie starb.


Konnexion

Vielleicht war es die Wurzel der Hortensie, aus der meine Katze trank, die nun auf meinem Tisch lag.


Konnexion

Ich zeichnete die Hortensienwurzeln ab. Es war interessant zu sehen, wie sich der Anblick durch die Beobachtung konkretisierte. Wie ich genauer sah und besser abzuzeichnen wusste, je länger und genauer ich betrachtete. Dass die unterschiedlichen zeichnerischen Zugänge (rechte Hand, linke Hand, eine Minute, zwei Minuten, vier Minuten, zehn Minuten, hell, dunkel, schnell, lang sam) das Gesamtbild deutlicher machten.


Konnexion

Die Wurzeln nach der Zeichenstunde waren mir vertrauter als die Wurzeln vor der Zeichenstunde, es waren gar keine Wurzeln mehr, sondern nur noch Helligkeiten, Dunkelheiten.


Konnexion

Später stellte ich eine der beiden Wurzeln ins Wasser. Meine Hoffnung war, dass sie, meinen Schreibprozess begleitend, neu ausschlüge. Es hatte schön begonnen, das Wasser wurde erst wolkig, dann grau, schliesslich über hellblau und moosiggrün auf unterschiedliche Weisen braun. Als ich dann übers Wochenende weg war, nahm ich nachher einen unangenehmen Geruch an meinem Schreibtisch wahr. Dieser verstärkte sich. Also gab ich der Wurzel frisches Wasser, doch dann begann sie zu schimmeln. Schliesslich wusch ich sie gründlich und liess sie an der Sonne trocknen.


Konnexion

Durch Wurzeln und Flussbette fliesst es. Wobei wir bei der Nähe von Schreibwurzeln und Schreibflüssen sind. Auf blau liniertem Papier fliessen Flüsse durch die Zeilen, die Zeilen sind Flussbette, sind Wurzeln.
Aus der Perspektive des Wurzelns der Wurzel sind diese leichtfüssigen Vögel schon eine Zumutung.


Konnexion

Meine Mutter erzählte heute, dass es in ihrem Herzen geknackt habe, als die alte Linde in unserem Garten gefällt wurde.


Konnexion

Ein Blatt der Hängebuche wie auch ein Blatt des japanischen Fächerhorns aus dem Garten meiner Eltern liegen auf meinem Schreibtisch.


Konnexion

Es gibt da dieses Foto von mir, meiner Mutter und zwei der Fächerahorne. Die Mutter steht auf der Treppe zwischen den Ahornen, sie hält sich die Hände und Arme über die Augen, blickt unter dem Schatten der Hände und Arme in die Kamera und mir nach. Ich habe sonnenhelle Haare, trage eine Latzhose und renne der Kamera entgegen, links und rechts neben mir im Bild die beiden Ahorne. Ich renne aus dem Bild.

Mittlerweile bin ich dreissig, und die Ahorne sind rund hundert. Eine Moosschicht hat sich über uns ihre Stämme gelegt.


Konnexion

Ich bin im Garten meiner Eltern und streiche über die Äste des japanischen Fächerahorns und nehme so die erfrorenen Blätter ab, nachdem ich vor einem Monat den Schnee aus den Ästen aller Laubbäume im Garten geschüttelt hatte.

Ich streichle über die Äste. Die Blätter züngeln sich, sie kerzeln sich. Die erfrorenen Blätter, die ich abzupfe, die krausen sich, sie sehen verbrannt aus.


Konnexion

Heute habe ich seit Längerem wieder die Hortensienwurzel betrachtet. Sie hat vom vielen Herumtragen und Reisen viele der Erdklumpen verloren, die sich zwischen den feinen Wurzeln verfangen hatten. Dafür haben sich einzelne Haare von mir über die Wurzel gelegt.


Konnexion

Die Grosseltern der Freundin vergruben alles im Garten. Dementsprechend haben ihre Eltern bei einem Gartenumbau ein Sofa unter der Erde gefunden.


Konnexion

In einem Radiointerview hörte ich letzthin, wie ein Philosoph Fortpflanzung als ein In-die-Brüche-gehen darstellte, er stellte das so in den Raum. Aber als ich die Freundin besuchte, wirkte sie nicht in die Brüche gegangen zu sein.

Ich besuchte also die Freundin zum ersten Mal, seit sie Mutter geworden war, und wir gingen spazieren, das Kind schlief. Die Freundin, die sich stetig freischält, löst, annähert, weiterentwickelt, würde auch mit dem Kind an ihrer Seite nicht aufhören zu wachsen, wusste ich da gewiss. Die Freundin erzählte vom Schwangersein, und dass ihre Kunst während der Schwangerschaft, dass diese Arbeit eigentlich das Kind im Bauch sei, sie erzählte vom Beinehochlegen und von einer sehr blutigen Geburt. Sie verlor so viel Blut, dass sie im Krankenhaus in der Dusche zusammenbrach und man sie nackt aufs Bett warf. Wir sahen viele Tannen, und ich erzählte ihr, dass ich die im Frühjahr hellgrünen Tannenspitzen beobachte, dass ich in ihnen das Anwachsen meiner Texte sähe, ich erzählte ihr von meinen Wurzelbeobachtungen. Daraufhin sagte mir die Freundin, dass sie, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde und zum ersten Mal mit dem Kind spazieren war, den Kinderwagen über einen Wurzelweg rollte. Sie holperte mit dem Kinderwagen über die Wurzeln und lachte in eine Kamera. Sie sagte, dass sie in diesem Moment wusste, dass sie das dürfe, sie sei ja die Mutter des Kindes und sie wisse, was ihm guttue. Sie zeigte mir den Weg: Es war ein kleiner Wegabschnitt, auf dem die Wurzeln einer nahe stehenden Linde nach oben gerückt waren.


Konnexion

Im Botanischen Institut habe ich einen Wurzelatlas ausgeliehen. Ich lese darin, sehe mir mikroskopische Betrachtungen der Alpenlärche und der Rotbuche an. Ein Einlageblatt in diesem Buch zeigt das Foto einer Zirbe an einem Hang, um sie herum sitzen fünf Männer und graben. Gras im weiteren Umkreis, direkt um die Zirbe: wunde Erde, ihr Wurzelwerk ist freigelegt.

In der Bildlegende ist vermerkt: «Zirbe, Pinus cembra subsp. Cembra. Nockberge, Kärnten, 1860 m N N. Freilegung der Wurzeln, Arbeitseinsatz: 6 Personen, 5 Tage.»*

*Ich wiederum arbeite allein und schon wesentlich länger!


Konnexion

«Selbst im dichtesten Wald ist die gegenseitige Berührung der Pflanzen oberirdisch bei Weitem nicht so stark wie unterirdisch. Das ist darauf zurückzuführen, dass
die Durchwurzelungsdichte zumindest in den oberen Bodenschichten viel grösser ist als die Kronendichte.» Wurzelatlas mitteleuropäischer Waldbäume und Sträucher

Man sollte achtgeben, dass sie einen nicht erschlagen, wenn man an ihnen rüttelt. Bemerkenswert an Stamm­bäumen ist zudem, dass sie sich nicht fällen lassen. Man kann sich höchstens entästeln oder abblättern. Der Stammbaum aber wurzelt weiter.


Konnexion

Ich bin mit der Freundin und dem Kind zum ältesten Baum Berlins, zur Dicken Marie, gereist. 1107 soll sie gekeimt sein, an der Grossen Malche, einer Bucht am Tegeler See. Hier wohnten später die Humboldt-Brüder und tauften die im 18. Jahrhundert schon alte Stieleiche nach ihrer molligen Köchin.

Die Freundin war bald gelangweilt vom Baum, aber ich habe die Stieleiche lange abgezeichnet.
Ich schaute die Dicke Marie mit dem Fernglas an. Sah, dass an ihrer Krone junge, grüne Blätter wachsen. Diese jungen, zarten Blätter standen der knorrigen Gestalt des Baums eigenartig gegenüber.

Indem ich diesen rund neunhundertjährigen Baum mit dem Fernrohr betrachtete, hatte ich das Gefühl, ihm zu nahezutreten. Ich ging schnell wieder zum See, an die Sonne, wo die Freundin und das Kind auf mich warteten.


Konnexion

Ich habe eine wurzellose Pflanze mikroskopiert: die Wurzellose Zwergwasserlinse (Wolffia arrhiza), englisch rootless duckweed. Zwergwasserlinsen sind nicht nur wurzellos, sie gelten auch als die kleinste Blütenpflanze der Welt.

Anna Ospelt, *1987 in Vaduz. Seit 2011 publiziert sie Kurzgeschichten und Lyrik, 2015 erschien «Sammelglück. 10 Portraits», 2020 «Wurzelstudien». Anna Ospelt lebt in Vaduz, sie ist Projektleiterin des Jungen Literaturhaus Liechtenstein, «JuLi».
Auszug aus «Wurzelstudien», erschienen 2020 im Limmat Verlag.

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