Das Theaterstück «Bodybild» ist am 22. März in der Turnhalle des Schulhauses Riedtli zu sehen. Im Gespräch mit der Fabrikzeitung erzählt die Regisseurin Annina Dullin von ihrem Schaffensprozess, Tabubrüchen und der Hirnrissigkeit von Schönheitsidealen.
Fabrikzeitung: Annina, was fasziniert dich an der Arbeit mit dem Jugendtheater?
Annina Dullin: Mich interessieren keine fix fertigen Produkte, sondern wenn ein Stück gemeinsam mit dem Cast entstehen kann. Die Jugendlichen sollen ihre Geschichten erzählen. Ich sehe, wie viel das auslöst – bei ihnen und beim Publikum. So ist das auch bei «Bodybild».
FZ: Inwiefern haben die Jugendlichen das Stück «Bodybild» mitgeprägt?
AD: Julia Haenni hat das Stück 2019 geschrieben und mit einem fünfzehnköpfigen Ensemble in München uraufgeführt. Das Theater Marie hat mich angefragt, ob ich dieses Stück für sie übertragen möchte. Es war rasch klar, dass wir den Text an die Besetzung der Jungen Marie anpassen müssen. In einem ersten Schritt haben wir deshalb mit Improvisationsübungen und Schreibwerkstätten neues Material generiert. Die Frauen sprachen über ihr Verhältnis zu ihrem Körper und da ist viel zusammengekommen: Eine erzählt vom Tourette-Syndrom, eine von Bulimie, eine von Hautproblemen. In diesem Ensemble finden sich die vielfältigsten Geschichten.
FZ: Das Ensemble besteht aus neun Frauen.
AD: Genau. Die Besetzung und somit auch das Thema der Diversität war sicherlich eine der Herausforderungen dieses Stücks. Im Probeprozess haben wir uns Fragen gestellt wie: Dürfen wir heutzutage ein Stück über Körperbilder mit neun weissen Frauen zeigen? Sollten wir eine Quote für die Besetzung von Rollen einführen? Schön war, dass diese Auseinandersetzungen auch Eingang in den Text gefunden haben. Cléa, eine Schauspielerin, die oft asiatisch gelesen wird, fragt während des Stücks zum Beispiel: «Bin ich eigentlich nur hier, damit sich das Theater Marie auf die Fahnen schreiben kann, dass eine ausländisch anmutende Person in ihrem Stück mitspielt?»
FZ: Gehen wir einen Schritt zurück. Der Titel «Bodybild» ist ein Homonym (Bild und engl. build) und wirft eine wichtige Frage auf: Ist das Denken an den Körper zwangsläufig an seine Optimierung geknüpft?
AD: Das ist das grosse Thema. Es ist verrückt, wie unser Verstand diesbezüglich funktioniert. Wir wissen zwar, dass es total hirnrissig ist, einem Schönheitsideal nachzustreben und dennoch tun wir es und leiden alle darunter. Das haben mir auch die Gespräche in den Proben gezeigt: Für alle neun Spielerinnen ist die Akzeptanz ihres Körpers eine Herausforderung, ganz unabhängig davon, wie ihre Körper aussehen.
FZ: Hat «Bodybild» deinen Blick auf deinen Körper verändert?
AD: Ich bin mit meinem Körper etwas milder geworden. Da ist auch eine Demut hinzugekommen und eine Dankbarkeit für meine Gesundheit.
FZ: Und bei den Schauspielerinnen?
AD: Es sagen alle, dass die Produktion ihnen Kraft gegeben habe. Trotzdem geht das Leben weiter und die «Rucksäckli» bleiben. Beispielsweise waren die eigene Herkunft und die Eltern wichtige Themen. Eine der Schauspielerinnen erzählt im Stück, wie oft der Vater ihr gesagt habe, was sie alles nicht anziehen dürfe. Eine andere Schauspielerin spricht über Selbstbefriedigung und wie sie dieses schöne Gefühl beim Sex mit einem anderen Menschen in dieser Art nicht bekommen hat. Es finden Tabubrüche statt. Ich glaube auch, dass sich nicht alle Eltern des Casts das Stück angesehen haben. Und einige wollten selbst nicht, dass ihre Eltern kommen.
FZ: Das Brechen von Tabus hat zwei Seiten. Es befreit und beflügelt, aber es kann auch ganz schön weh tun. Wie fängst du das auf?
AD: In unserem Team habe ich festgestellt, dass zu einem gewissen Zeitpunkt ein «Ranking» der Probleme stattfand. Da kamen plötzlich Aussagen wie: «Wenn jemand von strukturellem Rassismus erzählt, kann ich nicht sagen, wie ich mich fühle, wenn ich im Ausgang von Typen aus dem Auto angeschrien werde». Wir haben versucht solche Gefühle in gemeinsamen Gesprächen sehr gut einzubetten und gegenseitig für einander einzustehen. All diese unterschiedlichen Erfahrungen müssen ihren Platz und ihre Berechtigung haben. Ausserdem ist es sehr wichtig, vorsichtig mit den persönlichen Schicksalen umzugehen. Wir verändern Inhalte künstlerisch, damit es kein Blossstellen gibt und versuchen, einen sicheren Ort in den Proben und darüber hinaus zu schaffen.
FZ: Wie wird das Publikum bei Schulvorstellungen in diesem Zusammenhang abgeholt?
AD: Für Schulklassen, die in die Vorstellung kommen, muss eine gute Vor- und Nachbearbeitung durch die Lehrer:innen stattfinden. Dafür gibt es ein von der Theaterpädagogin Andrea Brunner zusammengestelltes Dossier.
Es gibt im Stück Sätze wie «Ich will oben ohne Fahrrad fahren.» oder «Ich will nie mehr angefasst werden, wenn ich das nicht will.» Diese Sätze sprechen aus dem Herzen. Auch der Aufklärungsunterricht wird verhandelt. Das ist schön, aber es kann für das Publikum auch verstörend sein. Den Lehrer:innen hat man das teilweise auch angesehen. (Lacht)
Es ist herausfordernd, aber genau deshalb machen wir ja Theater. Um etwas zu benennen und um es so auch verändern zu können.
FZ: Und wie wird der Tabubruch gefeiert?
AD: Irgendwann kommt der Satz: «Ich möchte endlich in meinen Körper einziehen, wie in ein schönes Haus. Ich möchte, dass alles glitzert und glimmert und ich möchte alle meine Freunde einladen und tanzen.» Es findet eine Loslösung von diesem Stress der Selbstoptimierung statt. Wir werden dem Schönheitsideal sowieso nie entsprechen, darum: Lasst uns unseren Körper feiern!
FZ: Das Stück wird nicht in der Roten Fabrik, sondern in der Turnhalle des Schulhaus Riedtli gezeigt. Wieso?
AD: Wir wollen mit dem Publikum an den Ort hingehen, wo immer noch viel schief läuft. Das ist auch für uns gnadenlos: Wir haben kein schönes Theaterlicht, kein klassisches Bühnenbild und die Akustik ist anspruchsvoll. Das Publikum sitzt nicht auf gemütlichen Stühlen, sondern auf «Turnbänkli». Dort passiert die Konfrontation.
FZ: Floss das Spielerische und die Turnhalle als Möglichkeitsraum auch in diese Entscheidung ein?
AD: Es hat etwas Schönes, wenn die Schulklassen die Geräte aus ihrem Turnunterricht, in ihrer eigenen Turnhalle plötzlich in ganz anderem Gebrauch sehen. Wir kreieren einen kreativen und phantasievollen Ort.
FZ: Wie unterscheiden sich Schulvorstellungen von öffentlichen Vorstellungen?
AD: Öffentliche Vorstellungen sind oftmals viel konzentrierter. Für die Schauspielerinnen ist es einfacher diese Vorstellungen zu spielen, weil Menschen im Publikum sitzen, die wirklich zuhören wollen. In Schulvorstellungen müssen sich die Klassen teilweise fast ein bisschen abreagieren. Es ist laut. Wenn beispielsweise Annina mit ihren behaarten Achseln an den Ringen hängt, dann sagen sieben Jugendliche aus dem Publikum «wääh». Ich bin beeindruckt von dieser Stärke auf der Bühne.
FZ: Zum Schluss: Was würdest du deinem jüngeren Ich auf den Weg geben?
AD: Einer meiner Lieblingssätze aus dem Stück ist: «Wenn ich nochmal zurück könnte, ich würde mich viel früher drum kümmern, dass ich mich selbst schön finde.» Es braucht Akzeptanz, nicht nur im Umgang mit anderen, sondern besonders auch im Umgang mit sich selbst. Aber: A long way to go.
Anmerkung der Autorin:
Und weshalb sollten wir alle im grellen Tageslicht auf die unbequemen «Turnbänkli» sitzen und «Bodybild» schauen? Weil es sich lohnt, diese Körperthemen schonungslos ans Licht zu holen.
Ich verschriftliche dieses Interview mit der klaren Erinnerung daran, wie ich vor einigen Jahren mehrmals täglich auf die Waage gestanden bin und berauscht war von der Tatsache, wie rasch die Zahl auf der Anzeige kleiner und kleiner wurde. Mein phasenweise sehr schwieriges Verhältnis zu meinem Körper ist nur ein Tropfen in einem Meer an vielfältigsten Geschichten. Das zeigen diese neun mutigen Frauen und das zeigen Stimmen aus meinem Umfeld. Loslassen beim Sex, Mutterwerden, Über- und Untergewicht, Pigmentstörungen, chronische Schmerzen, Panikattacken und und und sind da Thema.
Wir alle kommen um unseren Körper nicht herum. So ist es doch höchste Zeit, dass wir uns mit ihm auf eine konstruktive und liebevolle Art beschäftigen. Und, wie es «Bodybild» so schön sagt, «now I’m gonna roll myself in Glitter and roll down that hill wie eine Nuss im Herbst». Wir sehen uns in der Turnhalle.
Von Paula Steck