Schritt für Schritt entsteigen sie der Welt des Fantastischen und der Science-Fiction: Cyborgs, Mischwesen aus Mensch und Maschine, sind Realität geworden. Body-Hacker basteln am eigenen Körper, loten die Grenzen der Biologie aus und erkunden neue Möglichkeiten der Wahrnehmung. Was denken sie sich dabei?
Tim Cannon ist auf dem Weg zur Unsterblichkeit. Bis es soweit ist, bastelt er – an sich selbst. Magneten, Chips, und für kurze Zeit auch eine Platte, so gross wie ein kleines Smartphone, hatte er bereits in seinem Körper. Doch das Ziel liegt noch weit entfernt. Cannon bewegt sich zwischen Utopie und Dystopie, zwischen Body-Modification, Fleischästhetik und einer philosophischen Strömung namens Transhumanismus.
Der Do-It-Yourself-Bastler will nichts anderes, als den Menschen hinter sich zu lassen; das Fleisch, wie er selbst sagt, während er abwechselnd elektronische und Filterzigaretten raucht. Zusammen mit seiner in Pittsburgh ansässigen Hacker-Truppe Grindhouse Wetware baut er Geräte mit Namen wie Circadia, Bottlenose oder NorthStar: Computertechnik, die unter die Haut wandert. Circadia etwa soll ein kleines Biolabor werden, das Herzfrequenz und Körpertemperatur misst, das Blut analysiert, die Daten speichert, auswertet und an andere Computer sendet. Der Körper soll an das Internet der Dinge angeschlossen werden.
Das handygrosse Ding aber, das etwa drei Monate lang in Cannons Unterarm steckte, war ein Prototyp; noch nicht mehr als ein Fieberthermometer mit eingebautem Bluetooth, Akku und Ladespule. Nach drei Monaten, in denen Cannon selbst zum Prototypen der Mensch-Maschine-Verschmelzung wurde, stellte sein Team mögliche Verformungen in der Batteriehülle fest. Das Ding musste raus. Ein geplatzter Akku oder eine kaputte Hülse hätten tödlich enden können. Unsterblichkeit ade.
Ein Rückschlag? Keineswegs. Cannon und seine Co-Tüftler basteln weiter, an neuen Versionen von Circadia; kleiner, leistungsfähiger, vielseitiger. Der Weg der Maschinen in den menschlichen Körper ist nicht aufzuhalten, und Cannon und seine Mitstreiter wollen die Zukunft mitgestalten. Sie sind «Cyborgs». Der Begriff kommt ursprünglich aus der Raumfahrt: In den 1960er Jahren wollten der Wissenschaftler Manfred Clynes und der Mediziner Nathan Kline den Menschen technisch anpassen, damit er im All überleben kann.
Was damals noch Zukunftsfantasterei war, ist heute gelebte Realität, wenn auch nicht im Weltraum. Die Technik wandert immer näher an den Menschen. Das Smartphone zum Beispiel ist für viele ein unverzichtbarer Teil der Lebenswelt geworden. Steckt es mal nicht in der Hosentasche, stellt sich ein Phantomgefühl ein. Es fehlt etwas.
Sogenannte Wearables rücken Rechnertechnologie noch näher an uns heran; fieberhaft wird an Datenbrillen wie Google Glass oder Microsofts HoloLens gearbeitet, Videobrillen wie Oculus Rift lassen uns die virtuelle Welt lebensnah erfahren und smarte Armbänder wie auch Uhren vermessen unseren Alltag. Militär und Medizintechnik gehen noch einen Schritt weiter: Exoskelette machen den modernen Soldaten zum Iron Man, Prothesen verwachsen mit neuronalen Netzen und Implantate lassen sinnesbehinderte Menschen wieder sehen oder hören. Und in Schweden lassen sich Büroangestellte sogar einen Chip einpflanzen, der eine elektronische Zugangskarte ersetzt.
Doch was technisch machbar ist, muss nicht unbedingt wünschenswert sein. Zumindest nicht so, wie es im Moment läuft. Hier treten Cyborgs wie Tim Cannon auf den Plan. So abstrus es auf den ersten Blick erscheinen mag: Cannon und Konsorten sind eine mahnende Stimme im technologischen Wettrüsten um den menschlichen Körper. Klar, einerseits bilden sie die Speerspitze der computerisierten Menschheit. Niemand sonst betreibt die Verschmelzung von Mensch und Maschine mit einer solchen Radikalität. Doch auf der anderen Seite bilden sie eine Avantgarde, die sich mit dem Thema auseinandersetzt.
Cannon und seine Kollegen von Grindhouse Wetware arbeiten nach den Maximen der Open-Source-Bewegung. Wenn die Technik schon in den Körper wandert, dann soll sie auch frei sein. Patente auf implantierte Geräte oder gar künstliche Organe sind für sie Tabu. Cannon ist ein Hacker.
Ursprünglich bezeichnete dieses Wort jemanden, der mit einer Axt Möbel baut. Ein Hack wurde in der US-amerikanischen Subkultur, die sich seit den 1960er Jahren um Computer und Technik bildete, zu einer besonders eleganten, intelligenten oder auch witzigen Lösung eines Problems. Hacker sind begeisterte Bastler und Tüftler, das Einhacken in Computernetze ist nur ein Aspekt davon.
Gleichzeitig entwickelte sich um diese Subkultur eine eigene Ethik: Grundsätze, denen jeder Hacker, der etwas auf sich hält, zu folgen hat. Der Zugang zu Computern soll frei sein, genauso wie alle Informationen. Eine ordentliche Portion Misstrauen gegenüber Autoritäten gehört für Hacker ebenso zum Wertekanon wie eine grundlegende Offenheit und Vorurteilsfreiheit. Schliesslich sollen Computer benutzt werden, um Kunst und Schönheit zu schaffen sowie das eigene Leben zu verbessern.
Die Body-Hacker greifen diese Ideale auf. Cannon, der praktische Transhumanist, wie er sich selbst nennt, vertritt vor allem die ersten beiden Grundsätze. Die Technik soll offen, die Informationen sollen frei sein. Letzteres zumindest insofern, dass Cannon selbst bestimmen kann, was mit seinen Daten geschieht, die Geräte wie Circadia sammeln. Er will die Kontrolle über die Geräte behalten, die er sich einpflanzt.
Damit steht er nicht allein da. Vielerorts treten die Cyborgs von heute in die Fußstapfen der Hacker und ihrer Maximen aus den 1960er Jahren. Allen voran Neil Harbisson, der so etwas wie der Wortführer der noch jungen Bewegung geworden ist. Seine Geschichte beginnt im Jahr 2003 in einem Hörsaal in England. Der damalige Musikstudent hörte einen Vortrag über Kybernetik. Gesprochen hat Adam Montandon, ein Experte, der sich mit der digitalen Zukunft beschäftigt. Es war die größte Veränderung in seinem Leben, sagt Harbisson rückblickend: Technologie nicht als Werkzeug, sondern als Teil von sich zu sehen.
Der Halbbrite sieht die Welt von Geburt an in schwarz-weiß. Achromatopsie nennt sich sein Leiden. Nach seinem Treffen mit Montandon aber schickte er sich an, die Welt der Farben zu erkunden – über das Gehör. Ein Gerät namens Eyeborg macht es möglich. Dieses übersetzt Licht- in Tonfrequenzen. Die erste Farbe, die Neil Harbisson hörte, war rot – sie wurde zu seiner ersten Lieblingsfarbe.
Anfangs war alles noch chaotisch für den Mann, der in Barcelona aufgewachsen ist. Doch nach und nach gewöhnte er sich an die neue Sinneswahrnehmung. Irgendwann begann er, in den Tönen, die für ihn Farben sind, zu träumen. Die elektronischen Klänge kamen nicht mehr aus dem Soundchip, sondern aus seinem Gehirn. Seitdem nimmt sich Harbisson als Cyborg wahr. Der Eyeborg und er wurden eins. Selbst beim Schlafen nimmt er das Gerät nicht ab. Wenn es sich verschiebt, fehlt ihm etwas, er spricht von einem Phantomgefühl.
Mittlerweile kann Harbisson Farben besser unterscheiden, als es einem nicht Farbenblinden mit dem blossen Auge möglich ist. Und er kann sogar Bereiche des infraroten und ultravioletten Lichts wahrnehmen. Harbisson hat nicht nur ein Manko ausgeglichen, er hat seine Sinne im Vergleich zum Rest der Menschheit erweitert.
Das zu wollen, ist für ihn etwas Natürliches, sogar Grundmenschliches. Harbisson ist so etwas wie ein Naturalist. Er will die Evolution in die eigene Hand nehmen und mit Technologie näher an die Natur rücken, ihr gerecht werden. In seiner Technikeuphorie schwingt fast schon ein Stück Spiritualität mit.
2004 durfte er den Eyeborg auf seinem neuen Passfoto tragen, nach einem langwierigen Marsch durch die Institutionen. Seitdem gilt er als der erste staatlich anerkannte Cyborg. Doch staatliche heißt nicht unbedingt gesellschaftliche Anerkennung. Oft schauen ihn Menschen auf der Strasse misstrauisch an. Die Antenne, an welcher der optische Sensor befestigt ist, die aus seinem Hinterkopf ragt und sich über seine Pilzfrisur biegt, wirkt fremdartig. Und so mancher Kinobesuch scheiterte schon am Einlass. Der Sensor wird vielerorts als Kamera missverstanden.
Diese grundlegende Skepsis schlug im Fall des kanadischen Informatikers und Cyborg-Vorreiters Steve Mann sogar schon in Gewalt um. Mann trägt seit gut eineinhalb Jahrzehnten eine Datenbrille namens Eye Tap mit eingebauter Kamera, ähnlich dem später von Google entwickelten Glass. Im Sommer 2012 soll er wegen dieser Brille tätlich angegriffen und aus einer McDonalds-Filiale in Paris geschmissen worden sein. Das Argument sei laut seiner Aussage gewesen: Er hätte keine Foto- und Filmaufnahmen machen dürfen.
Der Vorfall wurde in der Blogger- und Tech-Szene schnell als erstes «first cybernetic hate-crime» tituliert, als erstes aus Hass begangenes Verbrechen gegen Cyborgs. Unabhängig davon, dass die Geschichte juristisch nie aufgearbeitet wurde, sei dahingestellt, ob es sich hierbei wirklich um eine neue Qualität von Intoleranz und Gewalt handelt. Fakt ist: Auch Cyborgs wie Mann und Harbisson kämpfen mit Stigmatisierung und Ablehnung, weil sie offensichtlich Technik am oder im Körper tragen. Und beide haben das zum Anlass genommen, für die Rechte von Cyborgs einzustehen und aufzutreten; Mann zusammen mit einer Allianz aus Ingenieuren, Bürgerrechtlern und Industriellen, Harbisson mit der Cyborg Foundation, die er 2010 in Barcelona mit Gleichgesinnten gründete.
Anders als der Do-It-Yourself-Cyborg Cannon, der experimentieren und an Open-Source-Implantaten basteln will, tragen Mann und Harbisson die Hacker-Ideale der Cyborgs in die Öffentlichkeit. Diese Verquickung aus Hacker-Ethik und Politik hat auch in Europa eine längere Tradition. Viele selbst titulierte «Komputerfrieks» der 1970er Jahre in Deutschland etwa waren eng verwoben mit dem Alternativen Milieu. Als sie über die ersten Personal Computer mit der lebhaften Gründerszene in der San Francisco Bay Area in Kontakt kamen, vermengten sie ihre alternativen Wertevorstellungen mit denen der Hacker. Das ist die Vorgeschichte des Chaos Computer Clubs.
Der Hacker-Club erweiterte dann auch die Hacker-Ethik um die zwei Leitsätze «mülle nicht in den Daten anderer Leute» und «öffentliche Daten nützen, private Daten schützen». Dieser gesellschaftspolitische Ansatz lebt auch in der deutschen Cyborg-Szene weiter, vor allem in Berlin, wo Enno Park und Gleichgesinnte einen Verein ins Leben riefen.
2011 war das Jahr, in dem Park, der fast vollständig taub war, wieder hören konnte, mit Hilfe von elektronischen Ohren. Sie nennen sich Cochleaimplantate. Hinter seinen Ohren sitzen gut sichtbar die äußeren Komponenten der medizintechnischen Geräte. Es ist eine geschlossene, patentierte Technologie, an der Park gerne schrauben und basteln würde; zum Beispiel, um das Ultraschall-Piepsen von Fledermäusen zu hören. Aber er darf nicht.
Politisch liegt Park unweit der Hacker-Szene und des Chaos Computer Clubs. Regelmäßig treffen sich die Berliner Cyborgs in der c-base, einem Hacker-Space an der Spree. Sie diskutieren über Technologie und Gesellschaft. Mal hautnah, wenn sie sich über kleine Magnetimplantate unterhalten, mit denen Body-Hacker elektromagnetische Felder spüren können – die Einstiegsdroge für viele in der Szene. Mal aber auch philosophisch-theoretisch, wenn es etwa um die postfeministischen Zukunftsutopien von Donna Haraway geht, die in Cyborgs die Überwindung der Geschlechtergrenzen sieht.
Auch, wenn Park, Harbisson, Mann oder Cannon unterschiedlich auftreten, die einen mehr als Techniker und Tüftler, die anderen mehr als Künstler oder Politiker, so haben die Cyborgs vieles gemeinsam. Sie teilen die Werte der Hacker-Kultur. Und sie wollen den Begriff des Cyborgs positiv besetzt wissen, einen Begriff, der bei vielen ein unwohles Gefühl hinterlässt und der in der Literatur oder im Film nur allzu oft mit Killer-Maschinen assoziiert wird. Sie wollen dem Terminator ein menschliches Antlitz geben – ihr eigenes.