Das Restaurant Walensee ist ein zutiefst romantisches Gebäude der Nachkriegsmoderne. Sich an einen Bergfuss schmiegend liegt es zwischen diesem und der Autobahn, für die es 1968 als Raststätte gebaut wurde. Aus heutiger Perspektive wirkt das Gebäude gestrandet, sowohl physisch wie auch funktional, da es mit der Anpassung der ursprünglich zweispurigen Landstrasse zur Autobahn im Jahr 1986 langsam überflüssig wurde. Doch die von Betonstützen gehaltenen riesigen Geschossplatten rahmen auch heute noch den Blick auf den Walensee und auf die gegenüberliegende mächtige Bergkette des Kurfürsten. Das ehemalige Restaurant Walensee ist ein kleines Belvedere, das den Traum der Moderne lebte, den Traum einer schier endlos scheinenden Infrastruktur, die sich harmonisch durch Natur und Landschaft schlängelt. Es scheint, als ob jeder dieses Gebäude kennt und mit ihm eine Geschichte verbindet. Kinder auf der Rückbank der damals vorbeifahrenden Autos wollten als Erwachsene dort leben. Die Erwachsengewordenen malen sich heute im Vorbeifahren mögliche Immobiliengeschäfte aus. Für die naturgemässen Skeptiker unter uns ist Abriss der einzig angemessene Weg. Diese Gedanken sind aber bei voller Fahrt durch die Landschaft genauso flüchtig wie die Ausblicke. Die Zeit vergeht, und das Restaurant Walensee scheint heute mit seinen fünfzig Jahren wie viele andere Architekturruinen jener Zeit seinem Schicksal überlassen.
Aktuell liegt die Zukunft der Raststätte noch immer im Ungewissen; angebliche Informationen darüber sind genauso mysteriös wie spekulativ, und je länger wir warten, desto unwahrscheinlicher erscheint ein gutes Ende. Gerüchten zufolge soll die Raststätte abgerissen werden und dem Tunnelbau zum Opfer fallen. Aus Sicht der Behörden bietet der Standort einen idealen, kurzen Zugang ins Berginnere, um Bauarbeiten und Abtransport des Schutts für den Bau einer zweiten Autobahnröhre zu bewerkstelligen.
Im Rahmen der Masterarbeiten im Frühjahrssemester 2018 am Departement Architektur der ETH Zürich haben sich 56 Studierende dem Schicksal des Restaurants Walensee angenommen und dafür Projekte und Visionen ersonnen. Die Aufgabe bestand darin, einen angemessenen und machbaren Weg der Wiederverwendung des bestehenden Gebäudes zu finden. Programm und Vorgehen waren völlig offen. Die Studierenden sollten sich das Projekt als ihr eigenes vorstellen, das für einen weiten architektonischen, kulturellen und
politischen Diskurs relevant ist, und das bezüglich einer Wiederverwendung, einer Restaurierung und der Zukunft des Gebäudes eine starke Position bezieht. Das Gebäude selbst sollte dabei im Mittelpunkt stehen. Die Studierenden wurden jedoch dazu aufgefordert, in möglichst vielen unterschiedlichen Massstäben zu arbeiten, um das Projekt zwischen Detail, Konstruktion, der Landschaft, dem Territorium samt See und Ufer oszillieren und sich frei entfalten zu lassen. Die Aufgabe scheint auf den ersten Blick bescheiden. Ihr Thema wird jedoch einen grossen, wenn nicht den grössten Teil der Herausforderungen der kommenden Generation von Architekten und Architektinnen ausmachen.
Die Ergebnisse der Studierenden könnten aufgrund der offenen Aufgabenstellung vielfältiger nicht sein. Einen Einblick in die Arbeiten bietet der Text eines Studenten, der die Rahmenbedingung gekonnt analysiert und schlussendlich eine neue Nutzung vorschlägt.
Angsichts des geplanten Baus einer zweiten Autobahnröhre lohnt es sich, den historischen Rahmen noch einmal vor Augen zu führen. Die Autostrasse folgt auf die Eisenbahn als infrastrukturelles Leitmedium des 20. Jahrhunderts. Auf einer ehemaligen Zugtrasse entsteht die Nationalstrasse 3 entlang der Südküste des Walensees und wird Mitte 1964 eröffnet. Die Inbetriebnahme des Kerenzer Tunnels 12 Jahre später – eine Erweiterung um zwei Spuren zur Autobahn – setzt einer jahrhundertelangen Entwicklung ein vorläufiges Ende.
Ausschliesslich in Richtung Norden schlängelt sich die graue Strasse durch die Landschaft entlang des Walensees und ebnet sie ein. Eingeklemmt von Naturgewalten – links von massivem Gestein, rechts von Wassermassen – bahnt sie sich ihren Weg und trennt die beiden unüberwindbar von einander. Begrenzt durch das beidseitige Bollwerk der Leitplanken, umgeben von einem Netz aus Dörfern, Wanderwegen und Velostrassen formt die Autobahn einen Korridor, räumlich wie auch zeitlich in der Verschränkung von geforderter Mobilität des Fahrzeuges und Immobilität der Landschaft. Als rein transitärer Ort ist sie gemäss dem Anthropologen Augé ein Nicht-Ort par excellence – die Verknüpfung von Zielen. Alles, was über diese Ausgangs- und Zielorte hinausgeht, wird durch den Zwang des Stroms in den gegebenen Kanälen zunichte gemacht. Die Autobahn ist Rückgrat unserer heutigen Gesellschaft, dabei aber mehr als die Kehrseite der Stadt – sie ist das infrastrukturelle Integrationsmedium der Moderne. Der Ingenieur, mit kühnen konstruktiven
Gedanken, ist ihr Erbauer.
Mit der Einführung der Moderne am Walensee 1964 befällt sie sogleich zahlreiche parasitäre Sub-Infrastrukturen: Beschilderung, Beleuchtungsanlagen, Notrufsäulen, Unterführungen, Steinschlaggalerien, Parkplätze und Restaurants. Einen solchen Parasit stellt auch das Restaurant Walensee dar, erbaut im Jahre 1968. Eine «neue [Bau-]aufgabe in neuer Form» für eine neue Zeit – doch eben nur ein Anhängsel der Strasse, der eigentlichen Modernität des Ortes. Die Moderne lebt vom stetigen Wachstum, Stagnation und Rückgang sind ihr fremd. Und so zwangen infrastrukturelle Umbauarbeiten an der Autobahn das kleine Restaurant letzten Endes in den Bankrott. Aus der Enge heraus beugt sich der Bau noch heute über die Strasse, seine ehemalige Lebensader. In strenger schöpferischer Individualität und absoluter Authentizität erinnert es dabei im Stillen und in gebrocher Umsetzung den von Le Corbusier und Pierre Jeanneret formulierten «Fünf Punkten zu einer neuen Architektur». Seit 2003 steht der Bau leer, angespült ans Seeufer, sich selbst überlassen: Ein einsamer Protagonist in unwirtlicher Landschaft, im Niemandsland. Ein moderner Robinson Crusoe, nicht auf einer Korallen- sondern auf einer Betoninsel gestrandet. Als Singularität am Transitkorridor verkörpert es inselgleich einen der Gesellschaft enthobenen Raum. Nicht frei zugänglich, muss sich der Mensch in erster Linie dem Auto unterwerfen, um ihn zu erreichen.
Historisch betrachtet geht mit dem Ausbau der Autobahn auch das Konzept Sanatorium (und Hotel) einher als Teil einer Strategie massiver Landschaftserschliessung. Getrieben von touristischen Interessen im Süden der Schweiz und politischen Motiven im Norden Italiens wird das alpine Hinterland der Bevölkerung zur Erholung zugänglich gemacht. Nach immer gleichem Schema steht der architektonischen Diversifizierung eine Uniformität der verkehrstechnischen Infrastruktur gegenüber: Gnadenlos mit dem Lineal in die Topografie eingeschrieben schliessen die Trassen der Bergbahnen und die Schiffsrouten die Schweizer Hotels an das «Netz» der internationalen touristischen Mobilität an. Als Antrieb diente dabei stets das Versprechen von Heilung und Kur.
Im Zuge dieser im Rahmen des ETH-Projekts «Refurbishing Modernism» angestellten Überlegungen lässt sich ein Sanatorium deshalb als dedizierter Ort der Moderne ansehen. Und das ist denn auch die Idee des ETH-Studenten: Ein Schauplatz urbaner Existenz, der nicht körperlichen Leiden gewidmet ist, sondern der als Zufluchtsort vor den Lasten und nicht gehaltenen Versprechen ebenjener Moderne dient – geprägt durch die Einsamkeit und Entwurzelung metropolitanen Daseins. Das Auto als Erschliessungsmittel erhebt sich über die Strasse, die dysfunktionale existierende Zufahrt würde überbaut. Ein Kreisverkehr führt den Besucher in das bestehende Gebäude, das Herzstück des Sanatoriums. Hier finden alle gemeinschaftlichen Funktionen – Lobby, Speisesaal und Spa – durch additive und substraktive bauliche Eingriffe Platz. Die insgesamt 32 Zimmer erstrecken sich im Sinne einer klassischen 3-flügeligen Anlage beidseitig über die Autobahn. Vom Auto als kleinster bestimmender Nenner und Grössenmass werden die Zimmer vertikal über eine Wendeltreppe erschlossen. Der stellplatzgrosse Raum ist Abbild nackter Notwendigkeiten menschlicher Existenz. Über ihm sind private Terrassen sowie beide Kurgärten situiert.
Für die Raststätte am Walensee allerdings wird es in absehbarer Zeit keine derartige Kur, ja wahrscheinlich nicht einmal einen zweiten Frühling für das Gebäude geben. Denn obwohl sich zahlreiche Privatpersonen, Medien, Institutionen und sogar die Behörden überlegen, wie eine neue Nutzung als Kunsthalle, Brockenhaus, Bordell oder Fitnesscenter aussehen könnte, scheint für die verschiedenen Interessen seit Jahren kein Konsens möglich. Stellvertretend für die Überlegungen, was mit zahlreichen anderen Bauten der Moderne in Zukunft geschehen soll, dient das vorliegende Beispiel auch als Mahnung davor, wie eine Entwicklung im ungünstigsten Fall aussehen könnte. Immerhin, nachdem die Zufahrt auf den Parkplatz der Raststätte im Herbst 2017 durch die Behörden abgesperrt wurde, existiert seit diesem Sommer eine Schranke, die den Werkverkehr zulässt. Ob damit lediglich die Zufahrt für den aktuellen Besitzer wieder ermöglicht werden sollte oder ob sie auf ein Voranschreiten der Arbeiten für den kommenden Tunnelbau hindeuten, muss hier letztlich offen bleiben.