Post-Pornografie, die in den frühen 90er Jahren mit Annie Sprinkle ihre Anfänge hatte, ist heute eine Bewegung, die vor allem in Kunsthochburgen wie Berlin und Barcelona betrieben wird und fester Bestandteil der «queeren» Kunstszene ist. Aber was versteht man unter Post-Pornografie? Und welches Potential beinhaltet sie?
Im Jahr 1982 produzierte die Performancekünstlerin und Ex-Prostituierte Annie Sprinkle ihren ersten selbstgedrehten Streifen «Deep Inside Annie Sprinkle», ein Arthouse-Pornofilm, der später als Grundlage für die post-pornografische Politik bekannt werden sollte. Der Film kritisiert die herkömmliche pornografische Darstellung und spielt mit ihr. «Deep Inside Annie Sprinkle» untergräbt die konventionelle pornografische Tradition. Der Film ist interaktiv: Annie Sprinkle spricht direkt in die Kamera, zeigt Fotos von ihrer Familie, stellt sie dem Publikum vor und fordert schliesslich den Zuschauer auf, bei den kommenden sexuellen Begegnungen mitzumachen. Es scheint, als ob Annie Sprinkle die Bilder von ihrer Kindheit und Familie dazu benutzt, dem Zuschauer vor Augen zu führen, dass sie nicht nur ein glänzendes Pornosternchen ist, das alles mit sich machen lässt, sondern eine selbstbewusste Frau, die Lust auf Sex hat und weiss, was sie will. Annie übernimmt den Lead und stiftet die sexuellen Erlebnisse an. Die gezeigten Sexualpraktiken reichen von hetero- und homosexuellen Begegnungen, Gang Bangs, Masturbation, Blowjobs, «Squirting», Anal-Sex, Sex in der Öffentlichkeit bis zu «Golden Showers». Vor jeder sexuellen Begegnung gibt Sprinkle eine kurze Einführung in die Praktiken und nimmt darin auch eine aufklärerische Position ein. «Deep Inside Annie Sprinkle» entmystifiziert den Porno, indem er bewusst auf die inszenierten sexuellen Begegnungen aufmerksam macht und auch ihre problematischen Aspekten thematisiert. Er macht klar, was sexuelle Darstellung wirklich ist: Ein komplexes Netz von sozialen, psychologischen, politischen und vor allem szenografischen Konstruktionen. Der Film zeigt daher eine «queere» Sicht der Sexualität, indem er das Vergnügen an nicht-konformem, nicht-reproduktivem Sex porträtiert, ohne eine Sexualpraxis abzuwerten oder typische Geschlechterrollen zu forcieren. Die Post-Pornografie erschafft neue sexuelle Bilder, die den ganzen Körper als Lustobjekt sehen und neue erogene Zonen definieren. So stehen in der Post-Pornografie nicht die Geschlechtsteile im Mittelpunkt, vielmehr können geschlechtsneutrale Körperteile oder Objekte, wie zum Beispiel ein Arm oder ein Dildo Mittelpunkt des sexuellen Aktes sein, um genderspezifischen Privilegien entgegen zu wirken.
Diese Einstellung gegenüber Sexualität und ihrer Betonung auf dem kritischen Denken der Post-Porn-Politik entwickelte sich aus «queeren» Kunstpraktiken. Obwohl nicht zwingend definierbar als Post-Pornografie, da diese Werke nicht explizite sexuelle Begegnungen mit Hardcore-pornografischer Ästhetik zeigen, gab es bereits früher Bewegungen, die einen Versuch starteten, aufzuzeigen, dass das, was in Hollywood-Produktionen zu sehen ist, Fiktion ist und nicht der Realität entspricht.
Wichtige Begriffe in diesem Kontext sind die Hetero- und Homonormativität. Sie beschreiben den Umstand, dass die westliche Gesellschaft auf dem Konstrukt der Heterosexualität aufgebaut ist, was nicht nur das Sexualleben einer Person beeinflusst. Vielmehr wird die Voraussetzung der Heterosexualität als Grundlage des politischen Systems, der Gesetze und des Gesundheitswesens gesehen. Kurz gesagt, das Alltagsleben eines Individuums in der westlichen Kultur ist durch heterosexuelle Werte geprägt, unabhängig davon, mit welcher sexuellen Orientierung sich die Person identifiziert, da Heterosexualität als Norm beschrieben wird. «Queer»-theoretische Schriftsteller wie Monique Witting, Lauren Berlant und Michael Warner behaupten darüber hinaus, dass die Aufrechterhaltung dieses Systems stark durch den Neoliberalismus gefördert wird, da die Heteronormativität für die Umsetzung neoliberalistischer Visionen der Männlichkeit und des Ethnozentrismus eine zentrale Bedeutung hat. Aus diesem Gedanken folgt die Ansicht «queerer» Theoretiker, dass der Neoliberalismus die Macht hat, den menschlichen Körper so zu manipulieren, dass das Gefühl entsteht, der geschlechtsspezifische Körper würde einem natürlichem Weg folgen. Der Gender- und «Queer»-Theoretiker Jack Halberstam erklärt diesen scheinbar natürlichen Umstand durch den Reproduktionszyklus. Gemäss Halberstam denkt die Mittelklassen-Gesellschaft in der reproduktiven Zeit. Werte und Seriosität werden somit davon abhängig gemacht, wie der Reproduktionszyklus von einem Individuum erfüllt wird. Somit gelten zum Beispiel kinderlose Paare in einer heteronormativen Gesellschaft als etwas merkwürdig oder nicht ganz normal, da sie ihre Aufgabe der Reproduktion nicht vollzogen haben.
Nun stellt sich wahrscheinlich die Frage, was demzufolge der Homonormativität abzugewinnen sei. Seit den sexuellen Befreiungsbewegungen in den 1970er Jahren, und dank der Arbeit verschiedener feministischen und homosexuellen Bewegungen, hat die Akzeptanz von Homosexuellen in der westlichen Gesellschaft bekanntlich stark zugenommen. Was hier aber von «Queer»-Theoretikern und der Post-Porn-Politik kritisiert wird, ist, dass der Neoliberalismus sich diese Entwicklung zu Nutzen macht und dafür eine Normativität für Homosexuelle vorlegt. Dies wird von vielen als Befreiung empfunden, ist aber in den Augen der «queeren» Theoretiker nur eine Fortsetzung der Heteronormativität. Homonormativität baut somit auf die gleichen Werte wie die Heteronormativität und fördert folglich homosexuelle Ehen und die Adoptionen von Kindern durch homosexuelle Paare und so weiter, solange diese ihr Sexualleben und ihre Sexualität wie die Heteronormativen hinter geschlossenen Türen halten und genderspezifisch ihre Pflichten an die Gesellschaft zur Förderung des Neoliberalismus erfüllen. Die Legalisierung der Homosexuellen-Ehe ist ohne Zweifel wichtig, um einer egalitären Welt innerhalb des bestehenden System einen Schritt weiter zu kommen. Jedoch ist das Ziel von Post-Pornografie, das bestehende System als solches in Frage zu stellen.
Filme von Jack Smith und John Waters sowie auch Andy Warhol verbanden also bereits in den frühen 70er Jahren Schönheit mit Bildern der Verzweiflung, Gewalt, des Verfalls und der Fragilität der sexuellen Begegnung, welche im Vergleich die Künstlichkeit der Hollywood-Filme entlarvten und die Darstellung von Normativität hinterfragten. Diese Filme wurden nicht gedreht, um das Publikum zu schockieren; sie waren vielmehr ein Versuch, das Vergnügen von nicht-heteronormativem Sex zu visualisieren. Diese frühen «queer»-feministischen Kunstwerke wurden später von Autoren wie Judith Butler, Jack Halberstam, José Munoz, Eva K. Sedgwick und Michael Warner theoretisiert. Der «queere» Feminismus hinterfragt die Überbewertung der Geschlechterrollen, die das Selbst, die soziale Konstruktion von Sexualität und den Sexualakt in einer heteronormativen Gesellschaft definieren. «Queerer» Feminismus fordert daher die heteronormative Annahme heraus, selbst das über alles «Natürliche» und «Normale» zu sein. «Queere» Interventionen, wozu Post-Pornografie zählen kann, haben somit das Ziel, deutlich zu machen, dass es eine Welt außerhalb von Hetero- und Homonormativität gibt, und sie stehen damit für die Rechte und Anerkennung der Menschen ein, die aus dem normativen System fallen. Vielen anderen sexuellen Praktikern fällt es schwer, ein Zugehörigkeitsgefühl in der hetero- und homonormativen Kultur zu finden, welches so stark auf dem Grundsatz beruht, dass Sex nur hinter verschlossener Tür ablaufen sollte. Obwohl es kaum daran liegt, dass Sexualität nicht in der Öffentlichkeit besprochen wird – leider geht es in solchen Diskursen aber mehr um die Besprechung des Versagens in der Normativität – wird das treibende System hinter der Normativitätskonstruktion wenig in Frage gestellt. Die «queeren» Interventionen und der «queere» Aktivismus haben somit zu untersuchen, in welchem Rahmen die Macht der Normativität gewahrt wird und diese in einem zweiten Schritt aufzuzeigen, sowie in Erfahrungsberichten zu erläutern, wie man sich als «queere» Person in einer heteronormativen Welt fühlt. Die «queere» Intervention entfernt sich dadurch teilweise auch vom Thema Sexualität und spricht nicht nur «queere» oder homosexuelle Personen an, sondern auch heterosexuelle Personen, die sich nicht mit der Norm identifizieren können. «Queere» Interventionen hinterfragen also die hetero- und homonormative Kultur und zeigen andere Lebensweisen auf.
Post-Pornografie wie Annie Sprinkles Film «Deep Inside Annie Sprinkle» folgt einer «queeren» Politik, integriert darin aber auch die Ästhetik des Pornos, um so die hetero- und homonormative Darstellung des Sexualaktes in der Mainstream-Pornografie zu kritisieren. Da dies in einem künstlerischen Kontext stattfindet, dekonstruiert und provoziert Post-Pornografie das primäre Ziel der Pornografie, nämlich den Zuschauer scharf zu machen. Sie bedient sich dadurch Vorbildern aus den 70ern Jahren, wie Stücken von Valerie Export’s «Touch and Feel» (1968) oder Yoko Ono’s Film «No. 4» (1967). Pornografisches Material im Kunstraum fordert nicht nur die institutionellen Werte eines Museums heraus, es setzt auch Pornografie in einen akademischen Kontext. Das Zeigen von Sex in einem öffentlichen Raum kann durchaus ein Wagnis sein; es birgt immer das Risiko, die Emotionen der Besucher zu strapazieren und gesellschaftlich verbreitete Reaktionen auf solches Material, wie Unverständnis, Ärger oder Aufruhr, zu fördern. Nichtsdestotrotz besteht die Chance, dass wenn Pornografie einmal in einem anderen Zusammenhang erfahren wird – fernab von der intimen Vierraum-Romantik – sie ihren Scharfmacher-Zweck verliert und somit viel kritischer betrachtet werden kann.
Die kritische und analytische Betrachtung der Pornografie ist wichtig, um den kulturellen Wert der Pornografie sehen zu können. Wie die Mutter der Porno-Studien Linda Williams darauf hinweist, ist die grösste Fiktion in der Pornografie die Annahme, dass Sex ganz «natürlich» passiert. Pornografie versucht, Vergnügen zu visualisieren und verwendet dazu bestimmte Standards, um ihr Ziel – das Publikum scharf zu machen – zu erreichen. Das aktivistische Potential von Pornografie und deren genaue und wissenschaftliche Analyse ist bedeutend, um darauf aufmerksam zu machen, was in einer Gesellschaft als «normal» definiert wird. Pornografie ist zwar ein problematisches Thema, dennoch ist sie eine kulturelle Praxis, welche helfen kann die Beziehung des modernen Subjekts, die Macht der Institutionen und des sozialen Denkens zu verstehen. Pornografie als Medium übertritt immer Grenzen und kann daher ohnehin als eine Form von Aktivismus gesehen werden, umso mehr, weil diese Übertretung von der Gesellschaft im Rahmen der Pornografie akzeptiert wird. Sexuell explizites Material kann daher dazu beitragen, ein neues Verständnis gegenüber unterschiedlichen Sexualitäten zu entwickeln, und einen Widerstand gegen das System darzustellen. Post-Pornografie kann zu dieser Analyse einen wichtigen Beitrag leisten, da sie die kulturelle Wichtigkeit von Pornografie versteht und ins Museum bringt. Die klare Unterscheidung zwischen Pornografie und Post-Pornografie ist wesentlich, um den aktivistischen und kulturellen Gedanken der Post-Pornografie zu verstehen. Post-Pornografie hat zum Zweck, das Potential der Visualität des Sexualaktes zu nutzen und dessen Wirkung auf den Betrachter zu zeigen, und damit auch inwiefern Institutionen und Bilder die Gesellschaft beeinflussen.
Hetero- und Homonormativität sind im täglichen Leben sowie in der Pornografie eingebettet. Auch wenn die Vielfalt in der Mainstream-Pornografie gewaltig ist, ist sie meist immer noch auf hetero- und homonormative Annahmen über Sexualität und Gender aufgebaut. Post-Pornografie, mit ihrer «queeren» Politik ist ein Weg, den Zuschauer über Mechanismen in Kenntnis zu setzen, die diese Normativitäten vorantreiben und zu zeigen, mit welchen hetero- und homonormativen Codes die Mainstream-Pornografie arbeitet. Post-Pornografie hat das Potential, sichtbar zu machen, dass Sexualität und Gender sozial und kulturell konstruiert sind. Sie gibt Einblicke über Möglichkeiten, wie man dem System entgegen wirken kann, und zeigt neue Möglichkeiten auf, sich als Individuum selbständig und ohne eine universelle Sprache sexuell zu finden und sich der ganzen Vielfalt der Sexualität zu bedienen.
Angela Walti hat an der Goldsmiths Universität in London zeitgenössische Kunsttheorie studiert. Sie begeistert sich für die aktivistischen und vermittelnden Aspekte der Kunst und Kultur. Queer, Gender und Porn Studies sind dabei ihre Hauptinteressensgebiete.