A1 Interview-Projekt Nr. 1 — In unregelmässigen Abständen erscheinen in der Fabrikzeitung Ausgaben, welche jeweils einer einzelnen Person und ihrer Lebensgeschichte gewidmet wird. Quer durch die Schweiz von St. Margrethen bis Genf entlang der A1-Autobahn.
Fabrikzeitung: Woher kommst du?
Vreni Habegger: Ich bin in Bühl aufgewachsen. Bühl bei Aarberg. An die Postleitzahl kann ich mich nicht mehr erinnern.
Gab es damals schon Postleitzahlen in der Schweiz?
Nein, früher hatten wie keine. Ich bin am 27. Januar 1945 zur Welt gekommen, gerade als der Krieg fertig war. Es war ein bitterkalter Winter. Die Mutter erzählte uns, dass es im Schlafzimmer, in welchem ich geboren wurde, Eiszapfen an der Wand hatte. Weisst du, früher hat man die Häuser noch nicht so gut isoliert. Sie musste mir zwei Kappen anziehen in der Nacht, und zwei Paar Handschuhe. Ich bin das letzte von acht Kindern. Wir sind alle in diesem Zimmer geboren. Meine Eltern hatten keine Krankenkasse und kein Geld fürs Spital.
Waren deine Eltern Bauern?
Ja, und weil meine Mutter immer mehr Kinder zur Welt brachte, musste der Vater dann in die Zuckerfabrik nach Aarberg Schicht arbeiten. Von 4 Uhr morgens bis 2 Uhr Mittags. Im Winter war es schwierig, wenn es Schnee auf der Strasse hatte. Weil im grossen Moos die Bise ging und Schneeverwehungen machte. Er musste dann sein Velo stossen und brauchte eine gute Stunde bis nach Aarberg. Sein Zmittag hat die Mutter dann immer schon am Vorabend gekocht und bereitgestellt.
Waren beide Elternteile aus der Region des grossen Moos?
Das Haus gehörte schon den Eltern meines Vaters. Mein Vater ist dort mit drei Schwestern und einem Halbbruder aufgewachsen. Ich dachte immer mit zwei Halbbrüdern, aber manche sagen es gab nur einen.
Wieso hast du das gemeint?
Mein Vater hiess Alfred und mein Grossvater Jakob. Mein Vaters Vater, also Jakob, hatte schon in Ried bei Kerzers einmal geheiratet. Er hat zwei Söhne gehabt, bevor seine Frau gestorben ist. Danach verkaufte er sein Haus in Ried, zog um nach Bühl, wo er eine andere Frau kennenlernte, sie heiratete, und drei weitere Kinder hatte. Ich habe diese Grossmutter nicht gekannt, sie war schon tot, als ich zur Welt gekommen bin. Aber es wurde gesagt, dass sie eine Zigeunerin gewesen sei, aus Frankreich, und dass sie meinem Grossvater gefallen hat. Sie kamen mit Planwägen ins grosse Moos und flickten Schirme, schliffen Messer und Scheren.
Sprach dein Vater Französisch?
Ja, der konnte Französisch. Aber vielleicht nicht das schöne Französisch, wie man es in Genf spricht. Er sprach das Französisch vom Jura oder vom Freiburgischen.
Und deine Mutter?
Sie kam aus Münsigen beim Thunersee und stammte von Eltern ab, die im Besitz einer grossen Bauerei und eines Baugeschäfts waren. Die Grossmutter, also die Mutter meiner Mutter hatte zwanzig Kinder. Von 17 bis 42. Nach achtzehn Kindern hat sie noch Zwillinge geboren und ist dann während der Geburt gestorben. Die beiden Kinder haben es überlebt. Danach hat mein Grossvater – also das haben sie so erzählt – keine Frau mehr bekommen. Wer will schon einen Vater von zwanzig Kindern? Er hat dann angefangen zu trinken und sich später erschossen. Aus lauter Elend. Die Jüngsten wurden zu Verdingkindern, auch meine Mutter. Sie konnte zwar in Münsigen bleiben, ist aber zu einem Bauer gekommen. Viele Verdingkinder wurden damals missbraucht. Meine Mutter zum Glück nicht, aber sie musste Tag und Nacht arbeiten. Mit 24 hat sie dann meinen Vater geheiratet, eben den Alfred.
Wir haben sie sich kennengelernt?
Beim Chileblättli. Das ist eine Zeitung der Reformierten Kirche. Früher wurde das oft so gemacht, weisst du.
Mit einer Anzeige?
Ja. Mein Vater hat eine Anzeige aufgesetzt. Er war 36. Meine Mutter hat es gelesen und sich gemeldet. Er ist dann mit seinem Militärvelo von Bühl bis Grindelwald gefahren, um zu schauen ob ihm diese Frau gefällt.
Und sie hat ihm dann gefallen?
Ja, er hat die Verlobungsringe gleich mitgebracht. Er war schliesslich schon 36 und musste «vorwärts machen». Damals war die Verlobung nicht einfach nur eine Floskel, man musste das so machen. Unverheiratet durfte man damals zum Beispiel nicht zusammenleben.
Bis wann war das so?
Also ich habe 63 geheiratet. Auch damals mussten wir noch aufpassen, dass einen die Leute nicht sehen und über einen sprechen. Zusammen einfach irgendwo übernachten, das ging erst recht nicht.
Und dann hat deine Mutter den Verlobungsring behalten?
Sie hat eine Weile darüber nachgedacht und ihm dann geschrieben, dass sie zuerst gerne sein Haus sehen möchte. Sie ist zu ihm nach Bühl gereist, und war im ersten Moment geschockt. Er hatte eine grosse Unordnung, in der Küche war Lehmboden und Hühner standen auf dem Esszimmertisch. Er war eben Junggeselle. Auch hatte er noch kein Wasser in der Küche – man musste es immer noch beim Dorfbrunnen holen. Sie hat ihm geschrieben, dass das für sie so nicht gehe, weil sie doch schon etwas verwöhnt sei von der Familie, bei der sie arbeite. Da habe es bereits eine gekachelte Küche und fliessend Wasser.
…was damals noch wichtige Faktoren waren.
Er ist dann mit dem Ring noch einmal nach Grindelwald gekommen, mit dem Versprechen die Küche zu renovieren. Da hat sie ihm zugesagt. Es war also nicht gerade Liebe auf den ersten Blick. Das war eher ein Geschäft.
Aber er ist immerhin noch mal extra nach Grindelwald gefahren.
Ja, das hat ihr imponiert. Sportlichkeit und Hartnäckigkeit. Sie dachte, ein Mann müsse hartäckig sein, sonst gehe es nicht. Sie wollte ja eine Familie gründen.
Das Heiraten hatte damals noch funktionale Gründe.
Ja, aber sie haben meistens zufrieden gewirkt. Einer ihrer Schwestern beispielsweise erging es viel schlimmer. Sie hatte einen Gutsbesitzer in Frankreich geheiratet. Weil meine Mutter nie Antwort auf ihre Briefe bekam, ist sie dahin gefahren und hat sich auf dem Hof als Magd anstellen lassen, um zu sehen wie es ihr geht. Ihr ist aber schnell klar geworden, dass auf dem Hof unmenschliche Bedingungen herrschten. Um das Gut herum hatte es eine hohe Mauer. Alle Arbeiter mussten ihren Pass abgeben, damit sie den Hof nicht verlassen konnten. Es gab kaum zu essen und alle arbeiteten fast rund um die Uhr. Meine Mutter hat nie die Chance gehabt ihre Schwester zu sprechen, zu sehr wurde sie sofort in der Arbeit eingespannt. Sie hat sie nur einmal aus Distanz zu Gesicht bekommen, sie habe aber sehr unzufrieden gewirkt. Ohne die Schwester je zu treffen, ist sie dann zusammen mit einem Knecht bei Nacht und Nebel wieder geflüchtet.
Wie war das Haus deiner Eltern?
Ein kleines Bauernhaus mit vier Zimmern.
Steht das Haus immer noch?
Nein, heute ist es ein Block. Mein Bruder hatte es später übernommen. Als er gestorben ist, wurde es verkauft.
Hat es dir gefallen da?
Ja, sehr. Vor allem der Hügel hinter dem Haus. Der hat mir gehört. Eine kleine Wildnis. Das war mein Paradies. Mit Vögel und Schlangen. Das war für mich wunderbar.
Dann bist du von da aus auch zur Schule gegangen.
Neun Jahre Primarschule. Ich wäre dann in die Sekundarschule gekommen, aber meine Mutter hat uns Mädchen nicht gelassen. Die Söhne durften etwas lernen, die Mädchen nicht. Die heiraten ja dann. Sie meinte: «Ihr müsst einfach gut kochen können und wenig Geld brauchen.»
Und das konntest du?
Ich konnte schon mit zehn für die ganze Familie kochen. Es hat mir Spass gemacht. Wir hatten eine grosse eigene Plantage mit viel Gemüse. Wir sind auch immer wieder mit der Mutter auf den Markt nach Aarberg oder Biel gefahren, um zu verkaufen. Wir haben dann die Gemüsekisten mit aufs Postauto genommen. Damals hatte es viele Marktfrauen im Postauto. Es hatte sogar einen speziellen Anhänger für die Martkwaren. Der Chauffeur hat einem damals auch noch geholfen beim Ein- und Ausladen.
Hat dir das gefallen?
Nicht wirklich. Die Stadtfrauen waren mir zu arrogant. Sie haben sich manchmal beklagt, dass mein Nüsslisalat noch zu viel Erde dran hat oder solche Sachen. Da war ich immer etwas beleidigt. Meine Mutter hat mir aber eingebläut, dass der Käufer der König sei. Das war nichts für mich.
Was hast du dann gemacht, nach der Schule?
Ich bin mit 16 nach Luzern für ein Jahr, zur Familie in welcher meine Mutter aufgewachsen ist. Ein wohlhabende Ärztefamilie. Sie benötigten Hilfe mit ihren vier Kindern. Meine Mutter hat bestimmt, dass ich dieser Familie helfen gehen soll. Meine Mutter war sehr dominant.
Mehr als dein Vater?
Ja, viel mehr. Er war eher zu lieb. Er hat drum auch so eine Frau gesucht, die für ihn alles regelt. Das war zu der Zeit sehr abnormal. Mein Vater wurde von den anderen Bauern deshalb auch oft belächelt.
Heute würde man sagen: ein «Softie»?
Ja, als Bauer war er sowieso ein Sonderfall. Er war aus Überzeugung Vegetarier. Auf dem Hof haben wir auch keine Tiere geschlachtet. Er hat auch nie geraucht und war das Leben lang nie beim Arzt. Er war überzeugt davon, dass das an seinem gesunden Lebsensstil lag.
Dann seid ihr alle vegetarisch aufgewachsen?
Nein, nur er war Vegetarier. Meine Mutter und wir hätten schon Fleisch gegessen. Aber leisten konnten wir es uns nur selten. Wir hatten zwar ein paar Schweine auf dem Hof als «Abfallentsorger». Gemetzget haben wir sie nie selber, sondern verkauft. Ich erinnere mich auch daran, dass ich gerne auf den Säuli geritten bin. Meine Fensterbank hatte genau die richtige Höhe, um auf die Schweinchen aufzusteigen. Säuli Rodeo sozusagen. (Lacht.)
Wie hast du deinen Mann kennengelernt?
Das war Liebe auf den ersten Blick! Ich habe den Christian beim Grümpelturnier in Schwadernau gesehen. Er hat eigentlich nie wirklich Fussball gespielt, aber an diesem Tag hatte Schwadernau keinen Goalie. Sie haben dann auch verloren, weil er war nicht besonders gut. (Lacht.) Er stand einfach so im Tor und ich hab gedacht: «Dä gfallt mer.» Er hatte eine hellblaue Lederjacke an und sah aus wie Elvis. Er hat mich auch gesehen und wohl gemerkt, dass ich ihn bewunderte. Wir haben beide gewartet bis es dunkel wurde, alle Leute nach Hause gegangen sind und wir am Ende allein da standen. Da hat er mich angesprochen. Doch dann kam plötzlich mein Schwager, von meiner Mutter geschickt, und hat ihn nach Hause gejagt.
Wie alt warst du da?
Ich war 14 und er war 16. Er hat mir einen Brief geschickt, dass er mich wieder sehen wolle. Da bin ich dann manchmal nachts aus dem Fenster – ich hatte ja so eine gäbige Fensterbank – und hab mich mit ihm an der Hauptstrasse getroffen. Christine, meine Schwester hat mich gedeckt. Er hatte eine Florette, die hab ich schon von Weitem gehört. Und dann sind wir ins Kino. Einmal waren wir Schlitteln auf den Twannberg. Dort habe ich zum ersten Mal im Leben Wein getrunken. Runtergeleert wie Mineralwasser. Ich war chatzkanonevoll. War mir das überhaupt nicht gewohnt. Zu Hause hat niemand Alkohol getrunken. Mein Vater war abstinent und im Blauen Kreuz. Das war auf jeden Fall das lustigste Schlitteln meines Lebens. (Lacht.)
Und da ist es ausgekommen?
Nein, das war später. Wir sind zusammen ins Kino nach Lyss. Cleopatra. Auf dem Heimweg hab ich mit meinem Velo bei ihm eingehängt und er hat mich mit der Florette gezogen. Da sind wir in eine Polizeikontrolle gekommen. Das gab sofort ne Anzeige und der Polizist kam zuhause vorbei. Meine Mutter war sehr enttäuscht von mir. Bald darauf musste ich nach Luzern.
Habt ihr euch dann trotzdem weiter gesehen?
Ja, er kam oft nach Luzern, um mich zu besuchen. Einmal wollte er bei mir übernachten; die Frau vom Arzt hat ihm dann ein Zimmer in einer Pension besorgt. Das wurde alles sehr streng kontrolliert. Sowieso wurde ich in Luzern überhaupt nicht verwöhnt. Um ehrlich zu sein: Sie haben mich ausgenutzt. Ich hatte keinen Lohn und keine Ferien. Das war keine gute Zeit. Einmal gab es auch einen Vorfall im Dachstock.
Einen Vorfall?
Im Erdgeschoss gab es mehrere Geschäfte: Ein Metzger, ein Bäcker, ein Lebensmittelladen und ein Coiffeursalon. Darüber waren Wohnungen. Unter dem Dach lagen die Mansarden für die Angestellten. Eigentlich herzige Zimmer. Einmal, als ich mich gerade ins Bett legte, hatte ich aber das Gefühl, dass mich jemand beobachtete. Die Wände waren aus Holzlatten. Etwas hatte sich in einem der fehlenden Astlöcher bewegt: Ein Auge in der Wand. Das war ekelhaft. Irgendwann fasste ich all meinen Mut zusammen und ging zu Margrit, der einzigen Frau, die auch dort oben wohnte und erzählte es ihr. Zuerst glaubte sie mir nicht, aber ich konnte trotzdem bei ihr im Zimmer übernachten. Um mir zu beweisen, dass ich mir alles eingebildet hatte, sind wir am nächsten Tag zusammen in mein Zimmer gegangen. Beim genauen Hinsehen haben wir bemerkt, dass jemand die Holzlatten durchsägt hatte.
…zum Spannern?
Jemand hatte bei allen Zimmern die Holzlatten aufgesägt, um vom Estrichgang in die Zimmer zu schauen.
Du hast also nicht fantasiert.
Wir haben nie herausgefunden, wer es war. Ich denke aber, es war ein Mann, der den Mädchen beim Waschen zuschauen wollte.
Also jemand, der auch da wohnte?
Ich vermute es. Es muss jemand vom Haus gewesen sein. Der Metzger, der Coiffeur… Ich fand das ekelhaft. Und das alles im ersten Jahr, in dem ich von zu Hause ausgezogen war! Ich war erst 16. Zum Glück hat die Ärztefamilie nach einem Jahr jemanden aus Deutschland für die Kinder gefunden. Christian hat mir dann eine Stelle in einer Bäckerei besorgt. So bin ich dann nach Biel in die Altstadt gekommen. Dort hatte ich es gut.
Da bist du aber auch nicht lange geblieben, oder?
Nein, nur ein Jahr, danach musste ich die Haushaltsprüfung machen. Das war für jede Frau obligatorisch.
Und dann habt ihr geheiratet?
Es war höchste Zeit! Bei der Hochzeit war ich bereits im siebten Monat schwanger. Am 9. November haben wir geheiratet und am 10. Januar ist Monika zur Welt gekommen.
War das kein Problem?
Das war 1963 – und Biel schon fast städtisch. Im Dorf, wo ich aufgewachsen bin, hätten sie sicher geredet. Diesbezüglich waren die Unterscheide zwischen Stadt und Land in den 60er Jahren noch sehr gross.
Seit ihr nach der Hochzeit zusammengezogen?
Ja, in unsere erste kleine Wohnung in Brügg bei Biel. Dort war ich… Wie soll ich sagen… Ich war nicht unglücklich; aber plötzlich bist du Hausfrau, hast ein Baby, der Mann geht arbeiten. Meine Grossfamilie fehlte mir. Zuhause sassen immer so viele Leute am Esstisch und immer hat jemand etwas erzählt. In Luzern war ich auch unter vielen Leuten gewesen, es ist ständig was gelaufen. In Brügg war ich etwas einsam mit der kleinen Monika, hatte eine kleine Krise. Im Nachhinein denke ich, dass es vielleicht eine Art Depression war, welche Frauen zum Teil nach der Geburt haben. Christian war immer aktiv und selten zuhause. Neben der Arbeit verbrachte er viel Zeit im Armbrustschützenverein.
Wie lange seid ihr in Brügg geblieben?
Nicht lang, ein Jahr oder zwei. Nachher hat er die Taxiprüfung gemacht und wir sind nach Langenthal umgezogen. Er hatte gelesen, dass ein Taxiunternehmen einen Chauffeur suchte. Taxifahren gefiel ihm sehr, aber was er wirklich wollte, war selbstständig sein. Genügend Geld für eine Schlosserei – das war sein gelernter Beruf — hatten wir nicht. Einmal hat er einen Kunden von Langenthal nach Olten gefahren. Auf dem Rückweg hat er bei einem Kiosk in Oftringen Halt gemacht und die Kioskfrau fragte ihn aus heiterem Himmel: «Wir haben auch ein Taxi, aber unser Junge will es nicht weiterbetreiben. Wir müssen es verkaufen. Hätten Sie Interesse?»
Also was wollten sie ihm verkaufen, die Taxilizenz?
Ja, die Lizenz, drei Autos, die Kundschaft. Als er zurückkam, war er richtig euphorisch! «Weisst du, wenn wir Geld hätten, könnten wir ein Taxi Geschäft kaufen!» Das wollte ich auf keinen Fall. Ich dachte, ich mache alles, aber bitte kein Taxi.
Warum?
Das hat mir Angst gemacht. Ich wusste, dass ich helfen müsste. Dabei hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichtmal den Führerausweis.
Ihr habt es aber trotzdem gemacht?
Die Vorstellung selbstständig zu sein, machte ihn so glücklich, dass man ihn nicht bremsen konnte. (Lacht). Sein Vater hatte ihm zum Glück ein Sparbüchlein eingerichtet. Das Geld reichte genau, um das Geschäft zu kaufen. Plötzlich waren wir Taxiunternehmer und ich schon wieder schwanger.
Als der Zügelwagen von Langenthal in Oftringen ankam, war ich bereits im Spital. Christian fuhr mich mit dem Taxi ins Spital in Langenthal. Der Arzt meinte, es könnte noch ungefähr eine Stunde gehen. Das nutzte mein Mann, um zurück in die Wohnung zu gehen und die Zügelleute anzuweisen. Die Geburt war schwierig, die Nabelschnur, das Baby verkehrt im Bauch. Zum Glück war der kleine Peter trotzdem gesund. Nach vier Tagen war ich aus dem Spital, in derselben Woche haben wir mit dem Taxibetrieb angefangen. Ich am Telefon mit dem Baby im Arm und Christian am Fahren. Später habe ich dann die Prüfung auch gemacht. Von da an sind wir beide gefahren.
Wolltest du die Taxiprüfung überhaupt machen?
Ich habe mich verpflichtet gefühlt. Unser Geschäft war klein. Bei wichtigen Aufträgen, beispielsweise nach Kloten an den Flughafen, muss man pünktlich sein. Christian war nicht gerade der Pünktlichste. Solche Aufträge machte besser ich. Ich habe immer die Sachen gemacht, die sonst nicht gut gekommen wären. Um drei Uhr morgens, eine Frau ins Spital fahren. Sowas hab ich problemlos gemacht. Ich fand das sinnvoll. Aber das Telefon hat mich genervt. Weisst du, wenn man so ein Telefon gehabt hätte, wie die Leute es heute haben. Das wäre natürlich super gewesen.
Du meinst ein Mobiltelefon?
Ja, das gab es ja noch nicht. Wenn Christian schon unterwegs war, wusste ich nicht, was ich dem nächsten Kunden sagen sollte. Das war nervenaufreibend.
Aber wie funktionierte das? Du konntest ihn ja nicht erreichen?
Er hat von einer Telefonkabine aus nach Hause telefoniert und gefragt, ob weitere Fahrten anstehen.
Du hast Kloten erwähnt. Wollten viele Kunden von Oftringen an den Flughafen?
Ja. Meistens Ausländer, Saisonniers. Italiener hatten immer viele Koffer dabei, und machmal sogar zwei Taxis aufs Mal bestellt. Da musste ich mitfahren.
(Christian kommt in den Raum.)
Weisst du noch, wann die Autobahn eröffnet wurde?
Christian: Das weiss ich noch ganz genau. 1966. Ich wartete mit vielen anderen Leuten auf der Brücke zwischen Oftringen und Rothrist, bis die ersten Autos durchfuhren.
War die Autobahn gut für euer Geschäft?
CH: Schwer zu sagen. Oftringen ist fürs Taxigeschäft natürlich gut gelegen. Das war aber schon vor der Autobahn so. Zu dieser Zeit, war die Kreuzung in Oftringen das Herz der Schweiz. Basel-Luzern, Zürich-Bern. Es gab Hotels, davor Ställe für die Rosskutschen. Vorher mussten wir über den Bremgarten, wenn wir nach Zürich fahren wollten. Im Bremgarten waren die Kurven so eng, dass die Lastwagen kaum aneinander vorbeikamen. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren zu Beginn der 60er noch kaum entwickelt hier in dieser Region. In Oftringen beispielsweise gab es in dieser Zeit noch keinen Bahnhof. Das war ideal für den Taxibetrieb. In Rothrist hingegen wollten die Kunden nie bis zu ihrem Haus gefahren werden. Ich musste immer zwei Häuser vorher anhalten, damit niemand sieht, dass jemand ein Taxi bestellt hatte. Das war noch ein Bauerndorf. Es hat ein mehrere Jahre gebraucht, bis die Leuten ohne Hemmungen Taxi gefahren sind. Sie schämten sich. Die Unterschiede zwischen den Dörfern waren damals noch gross. Dank der Autobahn hat sich aber immer mehr Industrie in der Gegend angesiedelt und im Laufe der Zeit stieg der Wohlstand in der ganzen Region. Auch jener der Arbeiter. Die Leute verdienten mehr und es sind die ersten Dancings aufgegangen. Der «Scharfe Egge» zum Beispiel war berühmt. Da sind die Leute bis um drei Uhr morgens tanzen gegangen.
Das war ja auch etwas Neues, oder?
CH: Beim «Scharfe Egge» waren machmal ganze Kolonnen, die auf dem Parkplatz warteten. Später haben sie gar ein Parkhaus gebaut. Wir haben damals sehr viel Kundschaft dahingefahren. Gebracht und wieder geholt. Die Leute haben Geld ausgegeben wie verrückt.
Aber hatte dann nicht schon jeder ein Auto?
CH: Am Anfang eben nicht. Hier in der Gegend dauerte alles etwas länger.
Das heisst, es war eigentlich die ideale Phase. Die Leute konnten sich mehr leisten, wollten mehr in den Ausgang, aber hatten noch nicht alle ein Auto.
Man wollte die Kriegsjahre vergessen. Wir hatten keinen Krieg gehabt, aber Armut gab es trotzdem. Und es war auch eine Zeit der Befreiung. Das Zusammenleben von unverheirateten Leuten wurde erlaubt. In den 60er, 70er Jahren ist alles viel freier geworden. Es waren wunderbare Jahre.
Konntet ihr dann auch weitere Leute einstellen?
Wenn es zu viel war, hat ein Freund von Christian ausgeholfen. Ich weiss noch, einmal war Christian so überarbeitet, dass er direkt neben unserem Haus vor der Zug-Barriere eingeschlafen war. Als ich morgens um fünf aufgewacht bin, war er immer noch nicht zuhause. Aus unserem Fenster sah ich ihn in seinem Wagen seelenruhig schlafen, während die Barriere vor ihm viele Male rauf und runter ging. (Lacht.)
Später hattet ihr dann auch eine Tankstelle, oder?
Ja, ein paar Jahre später haben wir die Tankstelle und den Kiosk übernommen, bei dem wir damals auch das Taxi gekauft hatten. Wir wohnten auch gleich in der Wohnung oberhalb der Tankstelle. Diese existiert heute übrigens immer noch, aber der Kiosk nicht mehr.
Dann musstest du also gleichzeitig für die Kinder schauen, das Telefon abnehmen und Tankstelle und Kiosk bedienen?
Ja. Wir hatten ein Telefon im Kiosk und die Küche war auch gerade nebenan.
Wie viele Fahrten hattet ihr so an einem Tag?
Das weiss ich nicht mehr genau. Gut war es, wenn es schneite, regnete, oder wenn es kalt war. Am Sonntagmorgen haben wir höchstens den Pfarrer in die Kirche gefahren.
Du bist aber auch selber gefahren.
Ja, ich habe gerne Leute gefahren. Ausser betrunkene Männer.
Bist du manchmal auch nach Zürich gefahren?
Meistens habe ich Männer ins Niederdorf gebracht. Ich habe im Auto gewartet bis sie «fertig» waren, und hab sie dann wieder zurückgefahren.
Das Niederdorf war ja früher das Rotlichtquartier. Noch vor der Langstrasse.
Zur Langstrasse sind wir nie. Für uns war es immer das Niederdorf. Aber das Quartier fand ich sehr herzig, mit vielen kleinen Wirtschaften und so.
Diese Männer sind von Oftringen bis nach Zürich? Wie teuer war diese Strecke dazumal?
Das weiss ich nicht mehr genau. Vielleicht 100 Franken hin und zurück. Ich glaube, ich habe die Wartezeit laufen lassen, und zurück nach Aarburg musste ich sowieso. Die Männer waren meistens nett.
Gab es damals keine Bordelle in der Umgebung? Heute sieht man sie im Aargau oft entlang der Autobahn oder der Hauptstrasse.
Früher hatten wir hier keine Frauen, die das machten. Das gab es nur in den Städten. In Bern zum Beispiel, in Wankdorf oder bei der Reithalle.
Warum habt ihr dann mit dem Taxi aufgehört?
CH: Du musst 24 Stunden und 365 Tage im Jahr zur Verfügung stehen. Damit das längerfristig praktikabel gewesen wäre, hätten wir ausbauen müssen, auf sieben oder acht Wagen. Dann kannst du dir auch eine Telefonistin leisten. Aber die Perspektiven im Taxi-Business wurden immer schlechter. Die Bevölkerung ist zwar gewachsen, gleichzeitig aber auch der öffentliche Verkehr.
Vreni: Wir haben es fast zwanzig Jahre gemacht, bis in die 80er. Eine lange Zeit. Wir haben auch unsere Kinder gefragt, ob eines das Geschäft weiterführen möchte. Aber keines hatte Interesse. Sie hatten miterlebt, wieviel Arbeit ein kleines Taxiunternehmen macht. Deswegen haben wir dann mit Lastwagen angefangen. Und das ist gut gelungen. Am Anfang haben wir alles bei uns im Bauernhaus gemacht. Als wir aber eine Garage anbauen wollten, hat uns die Gemeinde gesagt wir seien «zonenfremd».
Wart ihr da schon in Rothrist?
Ja. Nach Rothrist sind wir 1972 umgezogen.
Und das ganze Geschäft habt ihr zuerst von zu Hause aus geführt?
Am Anfang hatten wir ja «nur» das Taxi und ein paar Lieferwagen. Aber mit der Zeit ist es zu viel geworden. Wir brauchten mehr Platz für ein richtiges Büro und die immer grösseren Autos. Dann haben wir ein Stück Land, unten bei der Spinnerei gekauft.
Rothrist hat ja die perfekte Lage für ein Transportunternehmen. Wie die Werbung vom Möbel Hubacher sagt: «Im Herzen der Schweiz. 40 Minuten von Bern, Basel, Luzern und Zürich».
Ja, Ohne Stau. Sonst ist es knapp berechnet! (Lacht.) Wir sind aber nicht deshalb hergekommen, es hat sich einfach so ergeben. Vor allem mit dem Bauernhaus, in dem wir heute noch wohnen.
Wieviele Lastwagen fahren heute für eure Firma?
Ungefähr zwölf und noch sechs kleinere Lieferwagen.
Fahren sie nur in der Schweiz oder auch in Europa?
Nur in der Schweiz. Früher sind sie ab und zu auch ins Ausland gefahren, nach Italien oder Frankreich. Einmal haben uns zwei pensionierte Griechen gefragt, ob wir nicht ihre Möbel nach Griechenland fahren können. Christian hat das gemacht, und um nicht leer retour zu fahren, hat er Melonen geladen. In Brindisi haben ihn die Italiener aber nicht einreisen lassen. «Es gäbe Probleme mit den Papieren.»
CH: Aus Napoli ist dann irgendwann ein «Dottore» gekommen, hat die Melonen begutachtet, ein paar Stück in den Kofferraum seines Alfa Romeo gepackt und ist weggefahren. «Um sie zu prüfen». Da fragte ich den Polizisten, wie lange das dauern wird. Er meinte: «Alles in Ordnung sie können weiterfahren.»
Vreni: Das ist Italien. (Lacht.)
CH: Als ich mit der Ladung Melonen in der Schweiz angekommen bin, habe ich sofort den Perry Markt in Oftringen angerufen und gefragt, ob sie Melonen brauchen könnten. Innerhalb von ein paar Stunden war alles verkauft!
«Habegger Transporte» existiert heute noch immer. Wie konntet ihr euch so lange halten?
CH: Ich glaube, wir sind immer noch da, weil wir zuverlässig und flexibel sind und uns immer mehr spezialisiert haben. Beispielsweise mit Kranwägen oder dem neuen Brückenuntersichtsgerät. Das ist eine Art «umgekehrtes» Kransystem, mit dem man einfache Arbeiten an der Unterseite einer (Autobahn-) Brücke machen kann. In der Schweiz sind wir damit im Moment die Einzigen.
Was denkt ihr, was sind die Aussichten für das Lastwagenbusiness in 50 Jahren?
CH: Es gibt ja diese Vision «Cargo sous terrain» – eine Bahn, die ununterbrochen mit einen Tempo von 30 km/h fährt und in der ganzen Schweiz Güter unteriridisch verschieben würde. Wie so eine Art «Güter-Metro». Langfristig ist das vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich. Oder man besinnt sich mehr auf das Motto «Aus der Region für die Region». Dann würde ein grosser Teil der Bewegungen dieser Güter wegfallen.
Aber euer Markt auch.
CH: Ja, das ist klar. Aber es läuft ja eher in die umgekehrte Richtung. Transportwagen werden immer grösser und fahren immer weiter, ins Ausland, sogar nach Amerika oder China.
Habt ihr das Gefühl, dass es für junge Leute heute schwieriger oder einfacher geworden ist ein Geschäft aufzumachen?
Wir hatten es viel einfacher. Die Banken helfen nicht mehr. Früher haben die viel mehr riskiert. Damals gab es noch einen Chef auf der Bank und er konnte entscheiden, ob man einen Kredit geben wollte oder nicht. Heute gibt es für alles Kommissionen und Sitzungen.
Taxifahrerin, Kioskbetreiberin, Lastwagenunternehmerin, Mutter… Du hast so viel gemacht in deinem Leben. Wenn ich dich richtig verstanden habe, hast du aber nichts davon so geplant oder erträumt. Wenn du damals die Wahl gehabt hättest, was hättest du gemacht?
Ich wäre gerne Biologin geworden. Etwas mit Vögeln. Ich wäre bei den Grünen gelandet! (Lacht.)
Und jetzt bist du Lastwagenunternehmerin…
Schmetterlinge, Schlangen, Pflanzen… Ich habe Christian einmal gesagt, wenn wir jetzt noch mal jung wären, würden wir am besten Gartenbauer werden. Er könnte mit Eisen Skulpturen machen. Er ist kreativ und hat viel Fantasie! Also nicht nur Fantasie, machbare Fantasie! Und ich hätte Pflanzen gesetzt. Das hätte mir Spass gemacht.
Aber dich reuen deine Entscheidungen nicht, oder?
Nein, nie. Was kann ich mir mehr wünschen? Ich habe drei Kinder, zehn Grosskinder, zwei Urgrosskinder. Und meinen Mann liebe ich heute noch immer. Ich bin glücklich. Natürlich konnte ich wegen unserem Geschäft nie mehr weg. In gewisser Weise verlor ich dabei meine Freiheit. Ich verlor sie eigentlich schon mit der Heirat. (Lacht.) Ich bin meiner Jugend und Freiheit beraubt worden. Der Christian eigentlich auch. Aber er wollte es zumindest so. (Lacht.) Das Einzige, was ich mir jetzt noch wünsche, wäre nach Hawaii zu fliegen. Ich habe immer von der Ferne geträumt. Manchmal habe ich Leute mit Koffern nach Olten gefahren. Dort am Bahnhof warteten grosse Busse mit schönen Ferienbilder dran. Spanien, Italien, Südfrankreich… Ich dachte, ich will auch mit. Manchmal dachte ich: Anstatt zurück nach Rothrist, könnte ich mein Taxi am Bahnhof Olten parkieren und in den Bus einsteigen. «Eifach wäg.»
Jetzt haben die Kinder das Geschäft übernommen, ihr seid pensioniert und habt Zeit…
In Rothrist gehen wir oft im Wald spazieren. Christian hat da eine Parzelle gemietet, wo er holzen darf. Wir sind auch viel am Neuenburgersee, wo wir ein Ferienhaus haben. Ich habe einen Garten und ein Haus, das sauber sein muss. Und wir fahren Boot. Das mache ich fürs Leben gern. Und Christian ist ein gemütlicher Segler. Mit dem neuen Segel, der Genaker, kann man sogar mit sehr wenig Wind fahren. Und wenn er merkt, dass ich nicht so Lust habe mit ihm zu gehen, sagt er: «Du komm, wir segeln zum anderen Ufer und am Hafen zahle ich dir ein Cynar.»
Von deinem « Paradiesli» hinter dem Elternhaus zur Lastwagenunternehmerin im Aargau und wieder zurück zur Natur und zum Seeland.
Ja. Und jetzt habe ich meine Freiheit wieder zurück. Ich habe einen kleinen hellblauen Fiat. Ich fahre gerne auf der Autobahn. Die Landschaft flitzt vorbei. Elvis in den Ohren. Mit der CD, schaff es ich von Rothrist bis nach Walperswil oder sogar Gletterens, ohne dass ich umstellen muss. Das ist ein Traum.