Am schönsten ist es eigentlich, wenn es nichts zu berichten gibt. Ausser man ist der, der berichten soll, dann hat man schon ein Problem. Vesper war den ganzen Vormittag über nervös, nichts brennt ihm so unter den Nägeln wie hiesige Ereignislosigkeit. Er hat sogar die Konferenz vorgezogen, was kein Problem ist, weil ja niemand an etwas Dringendem arbeitet, und nun sitzen wir alle an dem grossen Tisch und überlegen, worüber wir konferieren könnten.
Was hat der Adel, was haben Titel heute noch für eine Bedeutung?
Den meisten fällt es leicht, sich etwas aus den geübten Fingern zu saugen. Obwohl auch ich das kann, überrascht es mich immer wieder. Der Unterschied ist wahrscheinlich, dass ich auf meine Imaginationsbereitschaft zurückgreife, meine Erfindungslust, was den anderen als unlauter gilt; ihnen ist die regionale Wirklichkeit eine heilige Kuh, die sie zu jeder Tag- und Nachtzeit in erforderlichem Masse zu melken wissen.
Ferber will etwas über städtische Imker machen und es in den Kontext globalen Bienensterbens stellen. Bravo, Ferber, immer schön emsig bleiben! Stechen Sie ruhig zu. Halbes Gelächter, professionell. Fiona braucht nur das Wort Winterhafen auszusprechen, schon nickt Vesper zustimmend; das Haus, das der arabische Scheich gekauft hat und jedes Jahr für ein paar Wochen mit Gefolgschaft bezieht, um es in der restlichen Zeit leerstehend dem exponierten Rheinblick zu überlassen, ist so oft für einen Artikel gut, wie man eine Neuigkeitenlücke schliessen muss.
So geht es die gesamte Runde durch, und nach und nach fällt allen etwas ein. Ich bin der Letzte, und mein Schweigen stachelt Vesper noch einmal an. Er listet Stichwörter auf, die aber alle unfruchtbar bleiben. Bis ihm der Prinz einfällt, oder der Herzog oder wie auch immer er sich nennen darf: Das ist es doch, ruft er, das war doch wieder so ein Aristokratenknaller! Frau Jakobs stimmt ein und souffliert ihm fehlende Fakten, und sofort schwebt das Echo eines fernen Skandals in der lauen Redaktionsluft.
Das Eigentliche ist mal wieder woanders passiert, relativ weit weg. Irgendein Vonundzu hat sich betrunken danebenbenommen. Hat gegrapscht, gepöbelt, öffentlich gepisst, gestunken-und-gelogen. Wahrscheinlich war es der von Hannover, ich habe nicht aufgepasst. Überregional, Vesper hasst dieses Wort. Aber er hasst es genüsslich: die grosse weite Welt, die natürlich nie so gross und so weit ist, wie sie tut. Die einfach die tollere Bühne ist; mehr Publikum, mehr Stars, mehr Hinterdenkulissen.
Aber hier, sagt Vesper, längst nicht mehr nur mich ansprechend, hier bei uns werden dieselben Stücke aufgeführt. Nur im Format etwas bescheidener, konzentrierter, möchte ich sagen. Draussen: Millionen von Tonnen von Kohle. Hier drinnen: kleinste, feinste Diamanten. Und die – er beugt sich vor, spricht leiser, dabei prononcierter – die müssen wir finden und ins Licht halten.
Geht in Ordnung, sage ich, und noch bevor ich in der Runde darüber brainstormen kann, löst diese Runde sich auf. Alle wissen, was zu tun ist, alle sind Profis. Da auch ich ein Profi bin, mindestens im Profispielen, gehe ich nur an meinen Platz, um den Bildschirm auszuschalten, und mache mich direkt auf den Weg. Wenn ich so tue, als hätte ich ein klares Ziel, dann finde ich unterwegs meistens etwas, worauf sich aufbauen lässt.
Enttäuschen Sie mich nicht, Herr Meiners, sagt Vesper, ganz freundlich jetzt, ganz fürsorglicher Chef, und ich werfe ihm einen Blick zu, der Dankbarkeit und Zuversicht ausdrücken soll. Draussen erst, im überraschend warmen Sonnenlicht, entspannt sich mein Gesicht wieder. Irgendeine kleine Geschichte über den Adel in unadeliger Zeit wird mir schon gelingen. Das wäre doch gelacht, sage ich mir, mit verstellter innerer Stimme.
Ich gehe die Grosse Bleiche hinunter, Richtung Rheinufer. Am Morgen war es noch stark bewölkt, nun strahlt über allem das reinste Blau. Was ich hier draussen will, ist mir selbst nicht ganz klar. Wahrscheinlich wäre es besser, am Schreibtisch zu sitzen und erstmal zu recherchieren.
Was hat der Adel, was haben Titel heute noch für eine Bedeutung? Gibt es hier Adelige, im Rathaus vielleicht oder im Landtag – in einer Bank, einem der grossen Unternehmen? Aber das Thema ist mir zu fern, Vespers Energie ist nicht im Geringsten auf mich übergegangen. Wenn es anderswo knallt, hat er mal gesagt, beschreiben wir immerhin das Echo, das man bei uns hört; und das ist oft viel interessanter! Aber schon den Knall halte ich für eine Behauptung, da fehlt mir für das Echo erst recht das Sensorium.
Der Scheich fällt mir ein, der mit dem Haus am Winterhafen. Ist das nicht auch ein Adeliger? Aber damit käme ich Fiona in die Quere, das möchte ich nicht. Im Gehen fertige ich eine Liste an, assoziativ, mit Wörtern und Begriffen, die mir in den Sinn kommen. Vielleicht kann ich von da aus starten. Geistesadel, Geldadel, Stadt- und Landadel. Klerikaler Adel – in Klammern: Erzbischöfe, Fürstbischöfe, Weihbischöfe. Gibt es auch Charakteradel?
Ich werde abgelenkt durch einen Mann, der hinter mir geht. Nicht seine Schritte höre ich, nur sein ungeheures Husten, und ich wende mich um, während ich ein Stück zur Seite gehe. Er hält sich beide Hände vors Gesicht, nicht mal seine Augen kann ich sehen. Einen Husten hat der, dass man denkt, es rülpse ein Saurier. Ich lasse ihn vorbei, tue so, als müsste ich mir einen Schuh binden. Und kaum ist er vor mir, hört er auf zu husten. Er beschleunigt seine Schritte, biegt in die Bauhofstrasse ein und ist verschwunden, ohne dass ich einmal sein Gesicht gesehen habe.
Ich weiss sofort, dass mir zu diesem Mann mehr einfiele als zu Vespers Adelsthema; zwei, drei Stunden, und ich hätte einen Artikel über sein Leben, seine Krankheit, seine Tapferkeit geschrieben. Über die Angst vor dem Tod, vor dem Ersticken oder dem Blut im Taschentuch; über die Brüchigkeit des ganzen Daseinsfundaments, über die zu lesen den meisten Menschen ein Gefühl der Festigkeit verleiht. All das würde ich mir ausdenken können, es mit ein paar Fakten plastisch und glaubhaft machen. Was der Fantasie aufhilft, hilft auch der Wirklichkeit auf. Ich weiss, dass ich für diesen Satz entlassen werden würde; er muss mein Berufsgeheimnis bleiben.
Als ich am Ufer stehe, setze ich meine Liste fort. Liebesadel oder Gefühlsadel, vielleicht kann ich auch neue Begriffe etablieren. Leistungsadel im Sport? Feinschmecker als Gaumenadel? Gerade fängt es an, mir Spass zu machen, da fährt ein Frachter vorbei, ein grosser Haufen Kies auf der Ladefläche. Das Schiff heisst tatsächlich Noblesse oblige, ich fühle mich sofort wie ausgelacht.
Nicht weit dahinter, fast im Kielwasser, zwei Ruderboote. Zweier, die in perfekter Harmonie die Skulls durchs Wasser ziehen, die Rücken gerade, spiegelende Sonnenbrillen in den Gesichtern. Zwei Männer sitzen in dem einen Boot, zwei Frauen in dem anderen, und beide sind so exakt gleich schnell, dass es wie eine Choreographie aussieht. Freizeitsportler können das nicht sein (keine Bürgerlichen, denke ich), da sehe ich unten auf dem schmalen Uferweg einen Mann auf dem Fahrrad, der eine Trillerpfeife im Mund hat. Er stösst einen kurzen, recht leisen Pfiff damit aus, und schlagartig muss ich an Grabnitz denken, von Grabnitz!, und ich kann kaum fassen, dass mir das nicht früher eingefallen ist. Der einzige echte Adelige, den ich je kennen gelernt habe.
Ich gehe wieder los, etwas schneller jetzt, aber natürlich kann ich mit den Skiffs und dem Trainer auf dem Rad nicht mithalten. Schon bald sind sie nur noch kleine Punkte, die sich in Richtung Mainspitze bewegen. Von Grabnitz, natürlich! Auch wenn das lange her ist, untergegangenes Kindheitsland, eine andere Stadt, ein anderes Leben, ist das die erste Spur, auf die mein Geist sich begibt. Mit Lust sogar, mit plötzlicher Erinnerungsgier.
Ich habe die Schule nicht sehr gemocht, den Sportunterricht am allerwenigsten. Und doch machte von Grabnitz ihn zu etwas Besonderem. Fein und streng ist er gewesen, distanziert. Manchmal hatte man den Eindruck, sein Name wäre eine Aufgabe, die es zu erfüllen gelte. Eine Rolle auf dem vorstädtischen Boulevardtheater. Zwanzig, dreissig Kinder in Turnhosen, zu lebhaft die einen, zu faul die anderen, das war die Welt, die er gestalten, vielleicht regieren musste. Ich hatte nie den Eindruck, das hätte ihm Freude bereitet. Er hat immer einen klaglosen Ernst ausgestrahlt. Über Schwere hat er gesprochen, beschwert jedoch hat er sich nie.
Von Grabnitz nimmt mich so ein, dass ich ein paar Minuten wie schlafgewandelt bin. Ich habe den Brückenkopf schon passiert, bleibe auf Höhe der Rheingoldhalle stehen. Ein Mann kommt mir entgegen, ein teuer aussehendes Jackett über dem alten, verblichenen Trainingsanzug. Sein Bart sieht aus, als wäre er eher religiös als modisch motiviert. Als er direkt neben mir ist, sieht er mir kurz in die Augen, und ich habe Angst, er könnte stehen bleiben. Sein Blick ist weich, dabei aber unnachgiebig, ohne Vorwurf und ohne Verzeihung. Ich wende mich ab, der Mann geht einfach weiter, hat mich wahrscheinlich schon vergessen, als ich mich noch einmal nach ihm umdrehe. Von Grabnitz hatte ähnliche Augen, plötzlich malt die Erinnerung an ihn das ganze Bild um, das ich vor mir habe. Sogar der Himmel färbt sich gedächtnisblau. Wenn wieder alle durcheinander sprachen, zeterten oder hektische Fragen stellten, sagte er, jeden einzelnen von uns nacheinander ansehend: Leise musst du sprechen, sonst verstehe ich nicht, was du sagst.
Viel geholfen hat es damals nicht, aber jetzt merke ich, dass der Satz sich in mir gehalten hat.
Ich setze mich wieder in Bewegung, aber sehr langsam jetzt, ganz bewusst ohne ein Ziel. Ich schaue auf den Fluss, betrachte die Möwen, zwei Kinder, einen Hund, der am Ufer nach etwas zu suchen scheint. Im Sportunterricht und auch in den Pausen, wenn von Grabnitz Aufsicht hatte, sah er mich und diesen anderen Jungen – Felix, auch ihn hatte ich vergessen! – besonders intensiv an. Ob forschend, ob mit Sympathie oder verborgener Missbilligung, das wusste ich nie.
Mit Felix wollte ich nie befreundet sein, aber eine Zeitlang heftete er sich an mich wie an einen grossen Bruder, dessen Schutz man braucht. Warum er gerade mich dafür auserwählte, habe ich nicht verstanden, denn ich war kleiner als er und niemand, vor dem andere Angst oder auch nur besonderen Respekt hatten. Felix war naiv, um es freundlich zu sagen. Vielleicht war ich der Einzige, der ihn nicht offen verachtete. Einmal hat er vor der ganzen Klasse erzählt, dass er wisse, wie die Äpfel an die Bäume kommen: Gott hängt sie dort hin. Manche lachten, laut und hässlich, andere schlugen sich die flache Hand gegen die Stirn, dass es klang wie eine höhnische Version von Applaus.
Ein paar Tage später sagte Felix mir, er habe in der Nacht aufbleiben und im Garten der Eltern auf der Lauer liegen wollen; da stehe nämlich ein Apfelbaum, und er habe heimlich Gott beobachten wollen. Doch er schlief ein, draussen im Gras, und am nächsten Morgen lag ein schöner, reifer Apfel neben ihm. Er zeigte ihn mir wie einen kostbaren Schatz, verbot mir und sich selbst, davon zu essen. Ich habe Gott gesehen, sagte er, doch Gott besucht dich nur im Schlaf.
Ich setze mich auf eine Bank, die an der Ufermauer steht. Wenn ich die Augen schliesse, habe ich von Grabnitz an der einen Seite, Felix an der anderen neben mir sitzen. Ich mag ihre Nähe, mache mich aber ganz schmal; berühren möchte ich beide nicht. Felix hat nie geweint, nie offensichtlich gelitten, wenn er gehänselt und verarscht wurde. Er hat nur alle angesehen, eine Weile überlegt und dann den Kopf geschüttelt und gesagt: Von wegen! Damit war sein Arsenal an Wehrhaftigkeit erschöpft, aber der Angriff auch abgewehrt. Leidensadel, denke ich und lege nun doch meine Arme um die Schultern der beiden: von Grabnitz und von Wegen.
Von Grabnitz war Turner. Ich habe ihn, das war nach einer Sportstunde, ich hatte wohl etwas in der Halle vergessen, am Barren und am Reck Übungen vollbringen sehen, die mich sprachlos machten. Bewegungsadel. Als er mich entdeckte, sprang er auf die Matte und kam langsam auf mich zu, mich mit diesem undeutbaren Blick fixierend. Er beugte sich vor, legte mir eine Hand schwer auf die Schulter und sagte, mit der anderen ziellos um sich deutend: Sei froh, wenn du das alles hier hinter dir hast. Dann lächelte er, zum ersten und einzigen Mal, und ging hinaus.
Ich bekomme eine Gänsehaut, mir wird ein wenig kühl. Doch ich schaffe es nicht aufzustehen. Wie lange danach von Grabnitz starb, weiss ich nicht mehr genau, aber ich ging schon nicht mehr zur Schule. Irgendwer schickte mir die Todesanzeige; ob es Felix gewesen sein kann? Ich muss mich anstrengen, um den genauen Text zu rekonstruieren, aber diesmal darf ich mir nichts ausdenken, das spüre ich. Und schliesslich weiss ich es wieder:
Stillhalten, auf ewig: das letzte Kunststück des Akrobaten.
Die Trauer ist so tief wie der Respekt vor seinem Weg.
Die Witwe, die Schwester, der Sohn …
Ich stehe auf, besser: Ich erhebe mich. Gedächtnisadel, denke ich, und das etwas Lächerliche dieses Wortes tut mir gut. Felix ist von der Bank verschwunden, nur von Grabnitz sitzt noch da und sagt: Gestern ist seit heute für immer vorbei. Es klingt weder banal noch bedrohlich, ich habe seinen leisen Bariton genau im Ohr.
Eine Frau geht an mir vorbei, energischen Schrittes, die Sonnenbrille ins dunkle Haar gesteckt, und sagt laut in ihr Handy: Ich wollte nur Bescheid sagen, dass es nichts Neues gibt. Intuitiv gehe ich ihr nach, in einigem Abstand, und lasse mich von ihr in die Gegenwart ziehen. Von Grabnitz bleibt auf der Bank zurück, ich sehe mich nicht um.
Am liebsten wäre es mir, wenn die Frau mich in die Redaktion begleiten und ihren Satz vor Vesper noch einmal wiederholen würde: Herr Meiners und ich, wir wollten Ihnen nur mitteilen, dass es nichts Neues gibt. Das sollte eine Meldung wert sein, denken Sie nicht? Die Frau geht weiter in Richtung Neustadt, während ich nach links abbiege, zurück zum Büro. Wieder gilt es zu vor allem zu beschreiben, was sich nicht ereignet hat; das dominierende Sensationsgeschehen ist doch das ausbleibende Leben. Oder nicht, Herr Vesper?
Was ich ihm wirklich sagen werde, weiss ich nicht. Und was ich schreiben werde, weiss ich auch noch nicht. Aber etwas wird entstehen, das ist immer so. Als ich die Tür ins Gebäude öffne, denke ich ein letztes Mal an von Grabnitz und frage mich, meine Schritte etwas schneller, etwas leichter werdend, was in Gottes Namen ich alles noch nicht hinter mir habe.