Ich war acht Jahre alt, als meine Mutter mit ihrem damaligen italienischen Lebensgefährten zusammenkam. Er war verwitwet und hatte zwei Kinder, die etwa in meinem Alter waren. Für die Dauer ihrer Beziehung von 1988 bis 1996 fügten wir uns zu einer Art Familie zusammen. Dabei pendelten wir ständig zwischen München und Imola und eine Zeit lang ging ich sogar in Italien auf die Grundschule. All das hatte den Nebeneffekt, dass ich Italienisch lernte und plötzlich alles doppelt hatte: zwei Leben, zwei Freundeskreise, zwei Fernsehprogramme, zwei Wohnblocks, zwei Realitäten mit je anderen Regeln. Meine Spielkameraden in Italien etwa fanden es überaus seltsam, dass ich Second-Hand-Klamotten trug und ein Mädchen war, das auf Bäume kletterte. Ich wiederum konnte wenig damit anfangen, dass die Mädchen dort mit neun Jahren schon kleine Ladys waren, die mich dissten, weil ich keine Ahnung von Markenkleidung hatte. Allerdings fühlte ich mich dann wieder total geschmeichelt, als ich in der dritten Klasse an meiner italienischen Grundschule plötzlich lauter Verehrer hatte, die mir in der Pause Liebesbriefe zusteckten. In meinem deutschen Grundschulumfeld war das Interesse am anderen Geschlecht irgendwie noch lange nicht angekommen, man fand sich, soweit ich mich erinnern kann, gegenseitig eher doof und Liebe ekelig. Aber auch später gehörte ich auf dem von Blondschöpfen dominierten Gymnasium nie – wie damals in Italien – zu den «Gefragten». In Deutschland machten sich meine Mitschüler einmal über mich lustig, weil ich, wenn ich «nein» sagen wollte, nicht meinen Kopf schüttelte, sondern mit der Zunge schnalzte. Es war mir unsagbar peinlich, als mir in jenem Moment bewusst wurde, dass das nicht alle Menschen auf der Erde so machten.
Im Auto in Italien lief immer Fabrizio De Andrés Album «Il viaggio».
Im Auto in Italien lief immer Fabrizio De Andrés Album «Il viaggio». Ich war elf oder zwölf, und als ich anfing, seine Texte halbwegs zu verstehen, war ich gleichzeitig irritiert und fasziniert: Da war etwas Rätselhaftes, Unerhörtes, Düsteres und Anziehendes an De Andrés Texten, etwas das viele Fragen aufwarf und eine Sehnsucht erzeugte, wie die kleinen geheimen Welten, die ich mir als Kind unter schattigen Büschen vorstellte. De André sang in unheimlichen, poetischen Bildern von Dingen, von denen die Erwachsenen um mich herum nicht sprachen, die aber eindeutig ihrer und nicht meiner Kinderwelt zuzuordnen waren: von Krieg, Selbstmord, Prostitution und Liebe. Das war meine erste bewusste Begegnung mit so etwas wie Erwachsenenliteratur, also mit Texten jenseits von Benjamin Blümchen, der «Unendlichen Geschichte» und Astrid Lindgren. Diese Kassette hatte natürlich nicht ich besorgt, auch nicht meine Mutter oder ihr Freund, sondern seine Tochter. Ich hatte nämlich das Glück, in meinem italienischen Leben etwas wie eine große Schwester zu haben, denn sie war drei Jahre älter als ich, schon in der Pubertät und zu jener Zeit in einer Hippie-Phase, der ich viel zu verdanken habe. Der erste literarische Text, den ich je übersetzt habe, war ein Songtext jener Kassette: La città vecchia, die alte Stadt. Es geht um ein verrufenes Hafenviertel in Genua. «Verschlägt es dich zu den Hängen, runter zu den alten Molen, zu jener dichten, salzgeschwängerten, von Gerüchen schweren Luft, wirst du dort Diebe und Mörder finden und jenen seltsamen Kerl, der seine Mutter an einen Zwerg verkauft hat.»
Besonders der Teil mit dem Zwerg hat mich damals schwer beeindruckt. Ich übersetzte den Song für meine beste Kindheitsfreundin Annika ins Deutsche. Ich weiß noch genau, wie ich ihr die deutsche Übersetzung mit einer grünen Tinte, die nach Moschus duftete, auf einen Brief schrieb. (Die Tinte hatte ich mir mit meiner «Viertelt-Schwester», wie ich sie nannte, auf einem Hippie-Markt in Bologna gekauft.) Annika war zu jener Zeit mein wichtigster Gesprächspartner. Dennoch war mein italienisches Leben für sie immer nur ein erzähltes, und das meiste blieb auf frustrierende Weise unvermittelbar. Immer blieb alles gefangen in der einen Welt und Sprache, und konnte nur mit den Menschen auf der jeweiligen Seite geteilt werden. Und weil ich diese Trennung als schmerzhaft empfand, waren diese Übersetzung und viele weitere Übersetzungen für Freunde in späteren Jahren Versuche von mir, die Wand zwischen zwei Welten zu perforieren.
Weil alles andere den Rahmen sprengen würde, spule ich jetzt
23 Jahre vor, ins Jahr 2016. Heute wohne ich in Beirut und
übersetze und vermittle arabische Literatur, und nach wie vor
habe ich das Bedürfnis, mit anderen Leuten Dinge zu teilen,
die ich toll finde, die aber für die anderen unsichtbar sind, weil sie in einer anderen Sprache existieren. Erst durch Übersetzungen werden sie sichtbar.
Beim Übersetzen aus dem Arabischen kommt für mich aber
noch etwas anderes hinzu: Dafür, dass der arabische Sprachraum, der sich über 25 Länder mit vielen Metropolen erstreckt, nur einen Katzensprung übers Mittelmeer entfernt liegt, ist der Kontakt zwischen ihm und Europa nämlich skandalös dünn.
Ich behaupte, dass die arabische Welt für den durchschnittlichen Schweizer, Deutschen oder sonstigen Europäer kulturell gefühlt viel weiter weg ist als beispielsweise Japan. Was objektiv betrachtet völliger Unsinn ist, aber kein Wunder, denn das Wort «arabisch», welches eigentlich wie «italienisch» in erster Linie eine Sprachbezeichnung ist, wird ständig als Synonym für alles Mögliche benutzt: von «islamisch» über «rückständig» bis hin zu «aggressiv», wenn Männer gemeint sind, oder «unterdrückt», wenn es sich um Frauen handelt. Mal ganz abgesehen von der Ungenauigkeit solcher Vermengungen, denen zufolge dann ein muslimischer Chinese ja auch ein Araber sein müsste, oder arabische Christen und Juden als Oxymoron erscheinen, obwohl es sie schon viel länger gibt als europäische, da das Zentrum bei-
der Regionen im Nahen und Mittleren Osten lag, lange bevor «Europa» überhaupt christianisiert war und seine Juden verfolgte. Während die Rede vom «jüdisch-christlichen Abendland», eigentlich ein Paradox ist, geht sie vielen trotzdem leicht von den Lippen. Wobei das Wort «Ungenauigkeit» in diesem Fall viel zu schwach ist. Wie nennt man das, wenn einer sagt, dass er eine Rakete zum Mond schießen wird, dann aber einfach in den Himmel zielt, weil es ja «eh alles das Gleiche ist», und am Ende trifft er die Sonne? Ist das noch Ungenauigkeit, oder ist das schon verrückt? Europas kulturelle Identität scheint sich in diesen Tagen vor allem aus der krampfhaften Abgrenzung zu dem, was als «arabisch» erscheint, abzuleiten. Es scheint banal: Menschen, die Arabisch sprechen, lieben und trauern, stehen links oder rechts, sind mehr oder weniger gebildet, arm oder reich, haben Probleme mit korrupten Politikern oder der Müllabfuhr – genau wie Menschen, die Italienisch oder Deutsch sprechen. Doch sie repräsentieren das Andere, das Fremde.Vor diesem Hintergrund gilt die arabische Sprache auch als viel exotischer und schwieriger, als sie objektiv betrachtet eigentlich ist. Das hat zur Folge, dass Arabisch-Übersetzer im Positiven wie auch im Negativen den Status seltener Experten einer fremdartigen, in exotischen Ländern gesprochenen Nischensprache genießen was bezüglich der sechstgrößten Sprache der Welt, die von Europas unmittelbaren Nachbarn gesprochen wird, wirklich ein bisschen absurd ist. Arabische Literatur hat in Europa auch deswegen immer noch einen Nischenstatus. Arabische Literatur bedeutet Bücher für speziell an der Region Interessierte, Bücher für werdende «Nahostexperten» oder «Orient»-Fans.
Deswegen habe ich mit einigen Mitstreitern aus der Verlags-
branche das Kollektiv 10/11 gegründet: ein Labor für zeitgenössische arabische Literatur. Wir wollen dazu beitragen, den Fluss von Ideen, Narrativen, Texten und Informationen über dieses bisschen Mittelmeer hinweg zu verstärken, indem wir Texte von vor allem jungen arabischen Autoren und Autorinnen an den europäischen Literaturbetrieb vermitteln. Im Sommer 2012 habe ich die Facebookposts des Syrers Aboud Saeed entdeckt, nach einem Verlag dafür gesucht und schließlich den großartigen Berliner eBook-Verlag mikrotext gefunden. So entstand Saeeds erfolgreiches Debüt ‹Der klügste Mensch im Facebook›, und er konnte nach Deutschland kommen.
Inzwischen ist er eine der prominentesten Stimmen junger arabischer Literatur in Europa. Das, was die bisherigen 10/11-Autoren Aboud Saeed, Assaf Alassaf und Rasha Abbas von dem abhebt, was man üblicherweise von arabischen Autoren erwartet, ist ein gewisser Pop-Gestus, der bei jedem von ihnen anders ausfällt und die Tatsache, dass sie über aktuelle Themen auf eine aktuelle Weise schreiben, wie zum Beispiel Flucht, Krieg, Gentrifizierung und den Berlin-Hype.
Manchmal wünsche ich mir allerdings Heere von Übersetzern, die die ganze Zeit einfach alles übersetzen würden, Deutsches ins Arabische, Arabisches ins Deutsche. Damit alles Versäumte aufgeholt wird, und man reden und reden würde, wie alte Freunde, die sich jahrhundertelang aus den Augen verloren haben. Selbst wenn das bedeuten würde, dass ich meinen Job verliere.
Sandra Hetzl wurde 1980 in München geboren und lebt in Beirut und Berlin. Sie studierte an der UdK Visual Culture Studies, ist Literaturübersetzerin aus dem Arabischen und macht Video-
installationen. Außerdem ist sie der Kopf hinter 10/11. 10/11 versteht sich als Labor für experimentelle Formen arabischer Literatur. 10/11 macht Texte junger arabischer Autoren – oftmals gewonnen aus den Tiefen des www – zugänglich für den internationalen Literaturbetrieb und will einen dynamischen Austausch erzeugen.