Wir feiern in diesem Jahr Marx‘ 200. Geburtstag, 50 Jahre 68er-Revolution und der Generalstreik jährt sich zum hundertsten Mal. Diese Ereignisse verdienen Beachtung über das linke Spektrum hinaus. Die Jubiläen geben aber nicht nur Anlass zu feiern, sondern fordern auch den Blick in die Zukunft. Der neoliberale Umbau zentraler Lebensbereiche, Sparmassnahmen und die Multikrisen des Kapitalismus lassen erahnen, dass es so nicht weitergehen kann. Das weite Feld der Care Arbeit betrachtend, das ökonomische, ökologische und politische Krisen verbindet, soll versucht werden, eine Brücke zwischen alten und neuen Kämpfen zu schlagen – und schliesslich Vorschläge für eine neue Zukunftsgestaltung zu unterbreiten.
1918 – die verdrängte Rolle der Frauen
Der Generalstreik: Er brachte die 48-Stunden Woche, mit 30-jähriger Verspätung die AHV und schliesslich, knapp ein halbes Jahrhundert später, auch das Frauenstimmrecht. Dabei war der Generalstreik, wie wir ihn heute in Erinnerung haben, vor allem ein landesweiter Männerstreik, der sich klassischerweise an Gewerkschaftsmitglieder richtete. Wenige Jahre zuvor noch verwehrten einige Gewerkschaften den Frauen die Mitgliedschaft, sodass sie sich bis 1908 vor allem im Schweizerischen Arbeiterinnenverein (SAV) organisierten. Die politischen Entwicklungen hin zum Generalstreik führten bei den Gewerkschaften zu einem erstaunlichen Mitgliederzuwachs – natürlich auch dank der neu erlaubten Mitgliedschaften von Frauen. Ein Jahr vor dem Landesstreik führte die Textilarbeitergewerkschaft erstmalig mehr weibliche Mitglieder als männliche. Dennoch blieb das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Frauen ambivalent. Während man einerseits begann, Frauen gezielt zu organisieren, wurde andererseits auch versucht, sie aus den Betrieben zu verdrängen, wenn Sorge bestand, dass vermehrte Frauenerwerbsarbeit zu Lohndruck führen könnte.
Frauen machten sich in dieser Zeit dennoch sichtbar. Am 10. Juni 1918, im Vorfeld des Landesstreiks, demonstrierten vor dem Zürcher Rathaus 1300 Arbeiterinnen gegen die mangelhafte Lebensmittelversorgung. Eine von ihnen war Rosa Bloch-Bollag. Die «rote Rosa» forderte in ihrer Rede «die sofortige Beschlagnahmung aller Lebens- und Bedarfsartikel, Enteignung und Verteilung derselben unter Kontrolle der Arbeiterschaft nach Massgabe des Bedarfs, nicht des Besitzes.»
Auch wenn die Verbesserung der Versorgungslage im Landesstreik selbst nur eine von neun Forderungen war, so war sie zentral für viele Proteste und Widerstände im Frühjahr und Sommer 1918. Die Lebenssituation der Vielen war damals höchst prekär. Während sich wenige am Kriegsmaterialexport bereicherten, kämpften die ArbeiterInnen mit Armut, Hungersnot und knappster Lebensmittelzuteilung. Zum Jahresende wurde die Forderung erfüllt, wie der «Vorkämpferin», der Monatszeitschrift des SAV, zu entnehmen war: «Die Waren auf dem Gebiete der Stadt Zürich wurden beschlagnahmt, die Einkäufe waren nur für den Tagesbedarf zu machen, jede Hamsterei der besitzenden Klassen war somit ausgeschlossen. Als Ausweis galt das Rationierungsbuch der Stadt. Was wir immer wieder und stets umsonst gefordert haben, ist durch den Streik verwirklicht worden. (Leider nur als vorübergehende Streikmassnahme.) All dies war möglich, als die Arbeiterschaft für ein paar Tage König war, als die wirkliche Regierung Zürichs nicht im Obmannamt, sondern im Volkshaus sass.»
1991 – Wenn Frau will, steht alles still
73 Jahre später folgte ein zweiter wichtiger politischer Streik, dessen Grösse deutlich weniger im Gedächtnis der Gesellschaft haftet. Die zentrale Forderung, gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, leitete sich aus dem 1981 in der Verfassung definierten Grundrecht ab. Doch zehn Jahre nach Bestehen des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung hatte sich nichts an der Lohnungleichheit geändert.
Angeregt wurde der Streik von einigen Uhrenarbeiterinnen im Vallée de Joux. Die Frauen des Schweizerischen Metall und Uhrenarbeiterverbands – kurz SMUV – stellten einen Streikantrag auf dem 1990 stattfindenden Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, der unter dem Thema «10 Jahre Gleichstellung in der Verfassung» stand. Ohne viel Beachtung wurde er angenommen. Niemand konnte abschätzen, was der Aufruf in Bewegung setzen würde. In vielen Städten organisierten sich Frauen und diskutierten, wie man den Streik umsetzen könnte. Immerhin handelte es sich um einen doppelten Streik: Streik am Erwerbsarbeitsplatz und Streik der Versorgungsarbeit in den privaten Haushalten. Schnell war klar, dass die Frauen nur dann streiken, wenn sie wissen, dass ihre Kinder versorgt sind. So sollte es schliesslich in allen Sekretariaten der Gewerkschaft Bau und Holz (GBH) eine öffentliche Streikküche geben. Doch niemand ahnte, in welchem Ausmass der Streik tatsächlich anlaufen sollte: In Zürich bereitete das Gewerkschaftssekretariat zusammen mit den streikenden Anschlägern für den Auftakt am 14. Juni Essen für 600 Frauen vor – es kamen 10’000. So berichtet Zita Küng, damals Aktivistin der GBH und Leiterin des Gleichstellungsbüros. Schweizweit beteiligten sich eine halbe Millionen Frauen und Mädchen an den Streik- und Protestaktionen. Doppelt so viele Menschen wie am Generalstreik 1918. Fünf Jahre später trat das Gleichstellungsgesetz (ohne Referendum von rechts!) in Kraft, 2004 schliesslich eine minimale Mutterschaftsversicherung.
Seither passierte wenig. Die Lohngleichheit kommt im Schneckentempo voran, und liegt noch immer bei rund 15% (2014). Dabei ist die Lohnungleichheit nur die Spitze des Eisbergs. Ein Blick auf die Einkommensungleichheit für die insgesamt von Frauen geleistete Arbeit – inklusive unbezahlter Sorgearbeit – zeigt, dass der binäre Einkommensunterschied 44% beträgt. Die Ökonomin Mascha Madörin fasst es so in Zahlen: Den Schweizer Frauen gehen pro Jahr 108 Milliarden Franken Einkommen verloren. Davon entfallen «nur» 28 Milliarden Franken auf die Lohnungleichheit im Rahmen klassischer Erwerbsarbeit. Der Grossteil, 80 Milliarden, kommt durch Tätigkeiten zustande, die noch immer überwiegend von Frauen geleistet werden: Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege, Sorge um Familie und Angehörige, klassische Reproduktionstätigkeiten (Waschen, Putzen, Kochen, Gärtnern) rund um den Haushalt, Nachbarschaftshilfe etc.
Auch bezahlte Care-Arbeit hat ein Geschlecht
Neben der unbezahlten Pflege- und Sorgearbeit sind es ebenfalls vor allem Frauen, welche die bezahlte Sorgearbeit z.B. als Kleinkindbetreuerinnen oder Pflegerinnen verrichten. So arbeiten in der Schweiz mit 89,5 Prozent überproportional viele Frauen in der Pflege, die dafür einen deutlich geringeren Lohn erhalten als Menschen, die in ähnlich anspruchsvollen Jobs in Industrie und Handwerk arbeiten. Dabei sind es gerade die Arbeiten im Care-Bereich, seien sie bezahlt oder unbezahlt, die für ein Funktionieren der Gesellschaft sorgen. Es vergeht kein Tag, an dem nicht jemand Essen zubereitet, Kindertränen trocknet oder Kranke pflegt. Und dennoch gerät die Care-Arbeit aus dem Blick, wenn über Ökonomie oder gesellschaftliche Krisen diskutiert wird. Die innerfamiliäre Gratis-Care Arbeit führt bei Frauen häufig zu Altersarmut, und der Mangel an bezahlter Care-Arbeit birgt ein Krisenrisiko, das wohl grösser ist als so manche Immobilienblase. Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium schätzt, dass bis 2030 50’000 Pflegekräfte, darunter 30’000 mit tertiärer Ausbildung, allein in der Schweiz fehlen. Und das hat Gründe.
Schweizer Pflegende berichten von stark gestiegenen Leistungsanforderungen in ihrem Arbeits-alltag. Diese Arbeitsintensivierung erschwere oder verunmögliche es ihnen, ihre Arbeit so zu erledigen, wie sie es aufgrund ihres beruflichen Pflegeanspruches tun müssten. Viele erzählten ebenfalls, dass sie dies emotional und gesundheitlich belaste und sie an ihre persönlichen Grenzen führe. Zusätzliche psychische Belastung entsteht durch die Furcht, aufgrund des Arbeitsstresses und des Zeitdrucks Fehler zu machen, der die Sicherheit der Patient*innen gefährden könnte. Die massive Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und die gesundheitliche Belastung der überwiegend weiblichen Pflegenden führt dazu, dass viele in ihrem Beruf keine Zukunft sehen. Laut einer Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums haben 2011 bis 2013 fast die Hälfte aller Pflegefachfrauen in der Schweiz den Beruf aufgegeben! Die 2013 eingeführte neue Spitalfinanzierung und die mit ihr verbundenen Fallpauschalen haben diese Tendenzen der Arbeitsintensivierung noch wesentlich verstärkt.
Grenzen eines kollektiven Protestverhaltens
Wenn die Arbeitsbelastung der Pflegenden in den letzten Jahrzehnten derart zugenommen hat, stellt sich die Frage, warum kollektive Protestformen in der Pflege so selten stattfinden. Neben den institutionellen Einflüssen, wie der Friedenspflicht bei bestehendem Gesamtarbeitsvertrag, hat v.a. der Fakt, dass hier mit Menschen gearbeitet wird, einen enormen Einfluss auf die Protestformen. Pflegende können nicht gleichermassen streiken wie Arbeiter-Innen in Industriebetrieben: Die Menschen, mit denen sie arbeiten, können nicht einfach aufs Abstellgleis gestellt werden wie Maschinen. Die Arbeitskämpfe im Pflege- und Sorgebereich müssen sich also von klassischen Streikkonzepten unterscheiden.
Ähnlich verhält es sich mit dem kontinuierlichen Versuch, Betreuungs- und Sorgearbeit nach wirtschaftlichen Kriterien zu organisieren. Während Rationalisierung und Ökonomisierung in industriellen Betrieben zu Effizienzsteigerungen führen können, führt die Ökonomisierung im Sorgebereich zu einer Abnahme der Betreuungs- und Sorgequalität. Im Industriebetrieb können durch Arbeitsteilung, Zunahme der Stückzahl etc. Abläufe optimiert werden, ohne dass die Qualität des Produkts schlechter wird. In der Pflege- und Betreuungsarbeit geht aber die zeitliche Verkürzung der Abläufe mit einem massiven Qualitätsverlust einher. Wir können nicht schneller Waschen, Trösten oder Betreuen. Und mit zunehmender Anzahl von Kleinkindern und PatientInnen wird die Betreuungs- oder Pflegearbeit sicher nicht effizienter. Die Qualität dieser Arbeit ist untrennbar mit dem Faktor Zeit verbunden.
Neue Formen der Arbeitskämpfe
In Berlin gingen im Sommer 2015 unter der zunehmenden Belastung hunderte Pflegende für bessere Arbeitsbedingungen auf die Strasse. Die Tarifbewegung für mehr Pflegefachpersonal an der Charité, eine der grössten Universitätskliniken Europas, hat international für Aufsehen gesorgt. Ein neues Streikmodell: der Betten- und Stationsschliessungsstreik, hat den Pflegenden erstmals in der Geschichte des Universitätsspitals ermöglicht, mit ihrem Protest tatsächlichen ökonomischen Druck auszuüben: Während elf Tagen wurden 1500 Betten bestreikt, 90 Prozent der Operationen fielen aus und pro Tag machte die Charité eine halbe Million Euro Verlust.
Der Charité-Streik hat gezeigt, dass die Notwendigkeit für Veränderungen im Gesundheitswesens besteht, und dass Widerstand gegen Ökonomisierung auch hier möglich ist. Sie wäre aber niemals so erfolgreich gewesen, wenn das Pflegepersonal nicht von einem breiten Bündnis einer Bürgerrechtsbewegung der PatientInnen und Angehörigen unterstützt worden wäre. Die Solidarisierung grosser Teile der Bevölkerung mit den Streikenden hat gezeigt, dass die Gesundheit eines der zentralsten öffentlichen Güter ist, welches alle betrifft. Der Streik und die Solidarität, die er erfuhr, veränderte mehr als nur das Kräfteverhältnis der Pflegenden zum Spital. Er greift in das gesellschaftliche Verständnis von Pflege ein und nimmt uns alle als potenzielle Kranke, Alte und Angehörige mit: Die Pflegearbeit wird schliesslich aus Notwendigkeit heraus getan. Und sie muss gut getan werden können, oder schlicht: menschlich.
Teilzeit für alle!
Doch es braucht mehr als einzelne erfolgreiche Streiks, um den Herrschaftsknoten zu entwirren, der patriarchale Strukturen, politische Herrschaft und Kapitalismus miteinander verflicht. Es ist an der Zeit, den Begriff «Arbeit» und die Politik darum neu zu denken: Wozu arbeiten wir? Während auf der einen Seite ganze Gesellschaften im Zuge der Digitalisierung um Arbeitsplätze bangen, bleibt notwendige Arbeit unsichtbar und unerledigt.
Dem müssen wir ein Umverteilungs- und Aneignungsprojekt von Arbeit und Zeitverfügung entgegensetzen – wir brauchen eine Zukunft, in der man sich in der Arbeit zuhause fühlt!
Die deutsche Soziologin Frigga Haug schlägt mit ihrer Vier-in-einem-Perspektive ein solches Projekt vor. Jede Gesellschaft muss vier Bereiche regeln: Die Produktion des Lebens, die Produktion der Lebensmittel, die Schaffung von Kultur, und die zivilgesellschaftliche Gestaltung der Bereiche selbst. Diese, sich mitunter feindlich gegenüberstehenden Bereiche, müssen demokratisiert werden. Anstatt also drei Bereiche der Erwerbsarbeit unterzuordnen, sollen sie nebeneinanderstehen, sich ergänzen und auf diese Weise menschlich werden. Ebenso dringlich, wie also eine gleiche Verteilung der Erwerbs- und Sorgearbeit ist, ist auch eine Verteilung kulturellen Schaffens und Geniessens, sowie der politischen Arbeit zu gleichen Teilen notwendig; denn es gilt die Gesellschaft verantwortungsvoll und basisdemokratisch zu organisieren. Diese Aufteilung, der für die Gesellschaft notwendigen Arbeit, gilt es grösser zu denken, als zwischen den Geschlechtern. Der Vorschlag zielt auf eine vollkommen neue Ordnung ab, die alle Menschen und alle Bereiche des Lebens gleichermassen berücksichtigt, und damit nicht nur Symptome eines ausbeuterischen und unterdrückenden Gesellschaftsmodells bekämpft, sondern dessen Ursachen behebt.
Jede*r soll sich in die Gesellschaftsgestaltung einmischen können und auf eine alle bereichernde Weise Politik machen. Doch auch der Bereich der Musse und Selbstentwicklung braucht seine Zeit. Das alles geht mit Vollzeiterwerbsarbeitsplatz genauso wenig, wie mit Alleinverantwortlichkeit für Haushalt, Kinder oder ältere Personen. Es braucht also auch neue Modelle des menschlichen Miteinanders.
Diese Vision wird die akute Care-Krise, in der wir uns befinden, nicht sofort lösen, aber Denk- und Handlungsspielräume für ein neues Zusammenleben schaffen, das von den Kämpfen der Frauen und der Pflegefachpersonen auf bunte, widerständige Weise inspiriert werden kann.
Lasst uns also die Verfügung über Zeit demokratisieren. Nennen wir es: die grosse Aneignung.