Shilan will ihre Schwester vor einer arrangierten Ehe bewahren und holt
sich dafür Prüfungshilfe von mafiaähnlichen Händlern. In seinem Film
«The Exam» zeichnet Shawkat Amin Korki die ausweglos scheinende
Situation zweier Frauen in der Autonomen Region Kurdistan nach.
Die Rote Fabrik zeigt den Film am 6. November.
«Rojin, lass dich nie von jemandem zu etwas zwingen, das du nicht willst.»
Shilan spielt mit dem Ring an ihrer linken Hand, blickt verzweifelt zur Decke und richtet das Wort an ihre jüngere Schwester Rojin. Die beiden liegen auf Matratzen in einem dunklen Zimmer in Sulaimaniyya, einer grossen Universitätsstadt in der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Shilan weint, während sie an Rojin appelliert und von ihrer Ehe mit dem Fischverkäufer Sardar und ihrem gemeinsamen Kind erzählt. «Ich wollte immer einen verständnisvollen Mann heiraten. Ich dachte, Sardar würde sich ändern, aber das tat er nicht. Und dann kam Senur.»
In ihrer Vermischung von Hoffnungslosigkeit, Notstand und dem daraus erwachsenden Emanzipationsdrang steht die Szene im engen Zimmer symbolisch für die Thematik des 2021 erschienenen Spielfilms «The Exam» (kurdisch: «Ezmûn») des kurdischen Regisseurs Shawkat Amin Korki. Drei Hauptthemen werden darin verhandelt: Der unter multiplen Zwängen stattfindende Alltag der Frauen, der eindringlich unternommene Versuch, über illegale Wege aus diesem auszubrechen und die grassierende Korruption in der Autonomen Region Kurdistan. In Fernsehbildern im Hintergrund flimmert auch immer wieder der parallel stattfindende Befreiungskrieg der kurdischen Einheiten der Peschmerga gegen den Islamischen Staat (IS) auf. Die vom IS besetzte Stadt Mossul steht damals kurz vor der Rückeroberung.
Die Schneiderin Shilan (Avan Jamal) will um jeden Preis verhindern, dass ihre jüngere Schwester Rojin (Vania Salar) dasselbe Schicksal ereilt, das sie selbst durchleben muss: eine arrangierte Ehe, geprägt von häuslicher Gewalt, Fremdbestimmung und Kontrolle. Denn der Vater der beiden, der als Witwer selbst vor einer neuen Ehe steht, dies aber geheim halten will, stellt Rojin vor die Wahl: Entweder sie schafft die Aufnahmeprüfung zur Universität, oder sie heiratet Faiq, einen Imbissverkäufer auf dem Markt – zu dem Rojin keine Gefühle empfindet. Doch weder taucht Rojin zu den Vermittlungsgesprächen mit der Familie Faiqs auf, noch kann sie sich auf die Prüfungen vorbereiten. Sie leidet unter Depressionen, hat in jüngerer Vergangenheit Selbstmordversuche unternommen und trauert ihrem vor zwei Jahren im Krieg verschollenen Freund nach.
Schon in den ersten beiden Szenen des Films werden die Dynamiken der Hauptfiguren deutlich: Die ältere Schwester Shilan weist Rojin in der Küche ihres Hauses an, auf keinen Fall zum Heiratsvermittlungsgespräch im Wohnzimmer zu erscheinen und stattdessen für die Prüfungen zu lernen. Während Vater und Schwester apathisch reagieren, ist es Shilan, die in hektischem Schritt die beiden älteren Frauen, die die Ehe arrangieren möchten, abweist mit den Worten: «Ich sagte Frau Rangin am Telefon, dass Rojin nicht heiraten will.» «Herr Aziz», antwortet eine der Frauen dem eben ins Wohnzimmer eingetretenen Vater. «Wir sind hier, weil wir um Rojins Hand anhalten wollen, aber es sieht so aus, als würden die Kinder für ihre Eltern sprechen.» Der Vater ruft daraufhin nach Rojin. Diese schliesst die Türe zum Wohnzimmer. Die beiden Frauen verabschieden sich und einigen sich mit dem Vater darauf, einen Monat später wiederzukommen.
Die darauffolgende Szene führt den eigentlichen Drahtzieher der Heiratspläne ein: Mit einem Stock schlägt Sardar auf den Schädel eines Fisches und durchschneidet ihm daraufhin die Kehle. Der Ehemann Shilans und Marktverkäufer ist aggressiv, schlecht gelaunt, paranoid und immer kurz vor dem Gewaltausbruch. Im Glauben an ein hierarchisches Geschlechterverhältnis will er die Ehe zwischen Rojin und seinem Freund Faiq einfädeln. Damit will er die patriarchalen Verhältnisse, die er selbst lebt, in seinem Umfeld konsolidieren. Die Beziehung zu seiner Ehefrau Shilan ist geprägt von Herrschaft, Anweisungen und Misstrauen. Während sich Sardar mit Freunden auf der Terrasse amüsiert, weist er Shilan in herrischem Ton an, Tee zu kochen. Er schreit sie an, fragt sie aus. In ihrem Zimmer stöbert er nach der Antibabypille, wittert eine Affäre. Dann verbietet er ihr das Haus zu verlassen.
Doch Shilan denkt nicht daran, sich zu fügen, denn je stärker sich Sardars Zwänge auswirken, desto grösser wird Shilans Motivation, ihre Schwester Rojin vor denselben Lebensverhältnissen zu bewahren. Das Studium würde verhindern, dass Rojin die arrangierte Ehe eingehen muss. Doch da die Prüfung schwer zu bestehen ist, nimmt Shilan Kontakt zu einem Bauunternehmer und seinem Partner auf, die in korrupte Geschäfte verwickelt sind und in Zusammenarbeit mit einem Lehrer zu einem hohen Preis an etliche Interessierte Prüfungsresultate verkaufen. Dafür händigen sie den Teilnehmenden Bluetooth-Ohrgeräte und ein Telefon aus, das sie unter ihren Kleidern verstecken sollen, damit während der Prüfung die Resultate durchgegeben werden können. Um das nötige Geld aufzubringen, verkaufen die Schwestern ihren Schmuck und Rojin legt die ersten Prüfungen erfolgreich ab. Währenddessen erweckt jedoch ein Prüfungsaufseher Verdacht und die ersten Verdächtigen fliegen auf. Infolge einer Interneteinschränkung an der Schule müssen die korrupten Händler umdisponieren und Shilan wird unter grosser Angst Teil von ihren Machenschaften.
Zum ersten Mal vor der Kamera
Zwischen Sozialdrama und Thriller bewegt sich «The Exam», dessen zwei Hauptprotagonistinnen in einem wechselnden Auf und Ab immer tiefer in die Ausweglosigkeit tappen. Der Spielfilm zeigt das düstere Bild einer Umgebung, in der an jeder Ecke stets der nächste finanzielle Engpass, die nächste Gewaltandrohung, die nächste Bestrafung droht. Nur selten kommt Hoffnung auf in den Strassen, den engen Zimmern und anonymen Parks, in denen sich Shilan und Rojin nach den Prüfungen treffen. Die einzigen Räume, in denen während einer kurzen Szene Ruhe und Vertrautheit zwischen den beiden Schwestern einkehrt, sind von der Gesellschaft abgetrennt. Ihre permanent angespannten und in Sorge gehüllten Gesichter werden einerseits durch die wuterfüllte Mimik von Shilans Ehemann Sardar kontrastiert. Andererseits durch das lässige Auftreten der beiden korrupten Händler, deren Tricksereien mit Bluetooth-Stöpseln und Ganzkörperverkabelung humoristisch anmuten. So fiebert man nicht nur mit Prüfungsteilnehmenden wie Rojin mit, sondern erweckt auch Sympathie
für diejenigen, die das mafiaähnliche Geschäft am Laufen halten – trotz oder gerade wegen der Kriminalität, mit denen die Menschen schlussendlich deshalb eine Allianz eingehen, um sich über sie von Ungleichheit der Familien- und Gesellschaftsverhältnisse emanzipieren zu können.
Damit wirft der Regisseur Shawkat Amin Korki einen kritischen Blick auf die von sozialen Verwerfungen, Geschlechterungleichheit und Korruption geprägte Gesellschaft Nordiraks. «Die meisten der Geschichten des Films stammen aus der Realität», sagt Korki in einem Interview mit dem Filmfestival FrauenWelten vor einem Jahr. «Einerseits wollte ich das Phänomen der organisierten Schummelei zeigen, andererseits die Situation von Frauen in irakisch Kurdistan.» Vor einigen Jahren, als seine Tochter in der 9. Klasse war und von einigen Studierenden erzählte, die bei Prüfungen mit Bluetooth-Geräten schummelten, sei ihm die Idee für den Film gekommen. «Ich ging in die Schule auf Recherche, sprach mit Leuten aus dem Kulturministerium und fand heraus, dass es grosse, organisierte, mafiaähnliche Strukturen gibt, die den Prüfungsteilnehmenden beim Schummeln helfen.» Im Zuge seiner Recherche sprach er unter anderem mit einem der Drahtzieher der organisierten Schummelei.
Auch die im Film thematisierte Zwangsheirat sei einer realen Begebenheit entsprungen, so Korki. «Obwohl sich die Situation in den letzten dreissig Jahren verbessert hat, ist die Zwangsheirat vor allem noch in ländlichen Gebieten irakisch Kurdistans und schwachen sozialen Schichten verbreitet.» Die in der Autonomen Region Kurdistan geltende Praxis, dass jede anerkannte religiöse Gruppe familienrechtliche Angelegenheiten nach religiöser Gesetzgebung regeln kann, begünstigt dieses Phänomen. Laut der deutschen Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale führt die oftmals konservative Auslegung der religiösen Gesetze zu Diskriminierung von Frauen und Mädchen, befördert sexualisierte Gewalt und trägt dazu bei, dass kaum rechtliche Möglichkeiten bestehen, dagegen vorzugehen.
Es sei nicht einfach gewesen, überhaupt weibliche Schauspielerinnen für die beiden Hauptrollen zu finden, sagt Korki: «Die beiden Hauptprotagonistinnen haben zuvor noch nie in einem Film gespielt. Sie standen noch nie vor einer Kamera. Ich wollte die beiden Rollen unbedingt von Frauen aus der Stadt Sulaimaniyya besetzen lassen. Es war eine Herausforderung, aber schlussendlich ein grosser Erfolg.»
«The Exam» solle ein Appell an die Menschen in der Region und darüber hinaus an die Gesellschaften des Mittleren Ostens sein, sich mit der gegenwärtigen Situation auseinanderzusetzen, so Korki. Mit intensiven Bildern, überzeugenden Hauptfiguren und einem spannenden Plot gelingt ihm ein kurzweiliges filmisches Werk, das dramatische, spannende und ironische Teile miteinander verbindet. Obschon die Rollen der Figuren und ihre Schicksale von Beginn an klar definiert scheinen, schafft es der Film, in die Tiefe zu gehen und komplex zu bleiben. Er drückt den Finger in die Wunde einer von Krieg und Korruption gezeichneten Gesellschaft, deren Bevölkerung sich in vielschichtigen gesellschaftlichen Abhängigkeitsgefügen wiederfindet – und in der Schummelei manchmal besser erscheint als in der Ehrlichkeit.
In der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak leben ca. 5.5 Millionen Menschen. Das selbstverwaltete Gebiet innerhalb des Iraks besteht faktisch seit dem Golfkrieg 1991, wird jedoch erst seit 2005 durch die Verfassung des Iraks anerkannt. Die der Autonomen Region eigenen Streitkräfte der Peschmerga befreiten seit 2014 im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) weite Gebiete im Nordirak, darunter die Region rund um das Sindschargebirge. Ausserdem waren sie Teil der Befreiung der Stadt Mossul zwischen 2016 und 2017.