Im Jahr 1944 stellte der Vorgänger der Central Intelligence Agency, das Office of Strategic Services (OSS) ein geheimes Handbuch zur Sabotage feindlicher Organisationen zusammen. Die darin enthaltenen Anleitungen waren für Menschen vorgesehen, die in Gebieten der Achsenmächte lebten, jedoch mit den Alliierten sympathisierten. Das Handbuch ermutigte zu «einfachen Zerstörungsaktionen», die keine spezielle Ausbildung, Werkzeuge oder Ausrüstung erforderten, nur eine minimale «Gefahr für Verletzungen, Enttarnung und Repression» mit sich brachten und von normalen Bürger*innen ausgeführt werden konnten. Dafür sah das OSS zwei Möglichkeiten vor: Die ‹klassische› Sabotage durch Beschädigung von Material, Gebäuden, Transport- und Produktionsmitteln sowie die menschliche Beeinflussung von Organisations- und Managementprozessen um «fehlerhafte Entscheidungen und mangelnde Kooperation» zu bewirken. Beide Formen zielen auf die Produktivität von Gruppen oder Organisationen ab. Interessant ist jedoch, dass die Unterwanderung der Arbeitsmoral von Mitarbeitenden als mindestens so wirksam angesehen wurde wie beispielsweise das Streuen von Zucker in einen Tank oder Sand in Maschinen.
Das 32-seitige Handbuch, das erst 2008 freigegeben wurde, enthielt präzise und detaillierte Anweisungen, die auf damaligen Vorstellungen über die Funktionsweise von Gruppen und Organisationen beruhten. Die Empfehlungen sind jedoch erstaunlich zeitlos. Möglichkeiten zur ‹Sabotage› gibt es auch heute immer noch genügend, denn «eine fehlerhafte Entscheidung kann einfach nur darin bestehen, dass Arbeitsmaterial an einer statt an einer anderen Stelle versorgt wird» und «eine unkooperative Haltung kann einfach nur darin bestehen, unangenehme Situationen unter den Mitarbeitenden zu schaffen, sich in Streitereien zu verwickeln oder sich schlecht gelaunt und dumm zu verhalten». Im Handbuch wird insbesondere der ‹Faktor Mensch› als besonders geeignet für Störungen beschrieben, da Menschen «auch unter normalen Bedingungen häufig für Unfälle, Verzögerungen und allgemeine Störungen verantwortlich sind».
Im Gegensatz zu den möglichen menschlichen Fehlerquellen hat sich die mechanische Produktion dank Fortschritten in den Abläufen und besserem System der Fehler- und Unfallsicherung stark verändert. Einfache Handlungen wie das absichtliche Durchbrennen von Sicherungen in einer Fabrik, das Anhäufen von leicht entzündlichem Abfall oder das Abstumpfen von Klingen, um die Produktion zu verlangsamen (alles Empfehlungen für einfache Sabotage) beschäftigen Betriebsleiter*innen und Manager*innen heute nicht mehr gleichermassen. Stattdessen machen sie sich Sorgen über ihre IT-Sicherheit, an denen ihre Mitarbeitenden beteiligt sind, wie z. B. Passwort-Phishing, Trolling und die Veröf-fentlichung vertraulicher Unternehmensdaten. Am bemerkenswertesten ist jedoch: In Bezug auf menschliche Sabotageakte müsste das Handbuch nicht wesentlich geändert werden. Die damals im zweiten Weltkrieg formulierten Anweisungen sind heute noch genauso geeignet, die Leistung einer Organisation zu verschlechtern.
Interessant ist dies vor allem darum, weil die in dem Handbuch beschriebene «organisatorische Sabotage» durch Menschen im Gegensatz zur materiellen Beschädigung durchaus unbeabsichtigt vorkommen kann.
Wer sich beim Lesen der Beispiele vornimmt, keine böse Absicht zu vermuten kommt immer noch in den Genuss eines Best-of von schlechten Arbeitsroutinen. Die ‹Agenten› von heute handeln möglicherweise in gutem Glauben und sind sich der Konsequenzen nicht vollständig bewusst. Es ist durchaus möglich, dass sie sich sogar an sogenannte ‹gute Managementmethoden› halten, wie zum Beispiel wichtige Entscheidungen in grossen und unterschiedlichen Gruppen zu diskutieren, um einen Konsens zu erzielen, Diskussionen sorgfältig zu dokumentieren, um Erkenntnisse und Perspektiven für künftige Projekte festzuhalten, etc.
Viele der Empfehlungen des Manuals können deshalb bei oberflächlicher Betrachtung als engagierte Mitarbeit verstanden werden, die jedoch – im Falle der Sabotage – über das Ziel hinausgehen soll. So wird im Abschnitt «Allgemeine Störungen von Organisation und Produktion» empfohlen, «über den genauen Wortlaut von Mitteilungen, Protokollen und Beschlüssen» zu streiten oder «auf Angelegenheiten zurückzukommen, die in der letzten Sitzung beschlossen wurden und zu versuchen, die Frage über den Beschluss erneut zu öffnen». Andere Empfehlungen zielen vor allem darauf ab, möglichst viele Personen in (sinnlosen) Schlaufen zu beschäftigen: «Verweisen Sie alle Angelegenheiten wenn immer möglich an Ausschüsse zur ‹weiteren Untersuchung und Prüfung›. Versuchen Sie, die Ausschüsse so gross wie möglich zu machen – niemals weniger als fünf.» Idealerweise folgt man dann auch gleich noch einer weiteren Empfehlung und äussert «Besorgnis über die Angemessenheit einer Entscheidung – werfen Sie die Frage auf, ob die in Betracht gezogene Massnahme in die Zuständigkeit der Gruppe fällt oder ob sie mit einer übergeordneten Richtlinie in Konflikt geraten könnte.» Auf diese Weise ist die Organisation beschäftigt, ohne tatsächlich vorwärtszukommen. Auch die heute wohl bekannteste Zeitverschwendung in Sitzungen findet seine Erwähnung: «Halten Sie ‹Reden›. Sprechen Sie so oft wie möglich und so lange wie möglich. Veranschaulichen Sie Ihre ‹Punkte› durch lange Anekdoten und Berichte über persönliche Erfahrungen.»
Und damit die Zermürbung von Arbeitsmoral und Eigeninitiative nicht zu kurz kommt, wird Managern empfohlen, Sitzungen möglichst dann einzuberufen, wenn es dringendere Arbeiten zu tun gäbe oder besonders nett zu ineffizienten Arbeiter*innen zu sein indem ihnen unverdiente Beförderungen gewährt werden. Gleichzeitig sollen effiziente Arbeitende benachteiligt werden, in dem sich der Manager zu Unrecht über ihre Arbeit beschwert. Die so geschaffene Fehlplatzierung von Arbeitskräften erzeugt Missgunst, die letztlich alle Mitarbeitenden beeinträchtigt.
Anti-Muster
Nach dem Handbuch sind es solche destruktiven Methoden die im Zusammenspiel mit alten menschlichen Verhaltensmustern die Organisationen derart anfällig für Unterwanderung machen. Auch dies klingt sehr vertraut. Die in der Sabotageanleitung des OSS vor nahezu 80 Jahren propagierten Verhaltensempfehlungen lassen sich auch in anderen Fachgebieten finden. Im Bereich der Softwareentwicklung bezeichneten die Informatiker Erich Gamma, Richard Helm, Ralph Johnson und John Vlissides in ihrem 1994 erschienenen Buch «Design Patterns. Elements of Reusable Object-Oriented Software» mit dem Begriff ‹Anti-Patterns› Lösungs- und Verhaltensmuster, die negative Auswirkungen auf den Ausgang eines Projekts haben. Das bewusste benennen und thematisieren von Anti-Patterns hat dort den Zweck, wiederkehrende Fehler besser erkennbar und damit vermeidbar zu machen. Inzwischen hat sich die Methode in weiteren Disziplinen etabliert und wird auch in Unternehmens- und Projektmanagement angewendet. Das Ziel ist auch hier, dysfuktionale Verhaltens- und Ablaufmuster zu benennen, um diese besser erkennen und vorbeugen zu können.
So bezeichnet zum Beispiel die als ‹Feature Creep› bezeichnete Unterkategorie ein Verhalten, bei dem ein*e Kund*in nach der Erstellung eines Projektplanes und nach Beginn des Projekts – unabsichtlich, fahrlässig oder absichtlich – versucht, das Projekt um zusätzliche Funktionalitäten zu erweitern. Dies führt letztlich dazu, dass ein in Arbeit befindliches Projekt nicht mehr so aufgebaut ist, dass die zu Beginn vereinbarten Termine, Kosten- und Zielsetzungen noch eingehalten werden können. Bei einem anderen Anti-Pattern, dem als ‹Death March› oder ‹Todesmarsch› bezeichneten Muster, liegt das Problem darin, dass sich ein Projekt ewig hinzieht. Nachdem gesetzte Meilensteine nicht mehr gehalten werden, entwickelt sich das Projekt aufgrund fehlender konkreter Termine zu einer zeitlich nicht abgeschlossenen Aneinanderreihung von Aktivitäten. Dies kann von einzelnen Verantwortlichen auch bewusst in Kauf genommen werden, um von Defiziten in der Organisation abzulenken und Entwicklungen zu verschleppen. Besonders häufig kommt dies vor, wenn es in der Organisation zu wenig sogenannte ‹Stakeholder› bzw. Interessensvertreter*innen gibt, die ein Interesse an dem Projekt haben. In diesem Fall sind die an der Entwicklung eines Projekts beteiligten Personen häufig noch die letzten verbliebenen Befürworter*innen des Projekts. Das als ‹Single head of knowledge› bezeichnete Muster beschreibt schliesslich die Situation in der ein Individuum als einzige Person über organisationsrelevantes Wissen verfügt. Je nach Ausgangslage kann dies von dem Individuum auch so gewollt sein. Wenn die Person jedoch die Organisation verlässt, geht mit ihr auch das mit ihr verbundene Wissen verloren.
Wie bereits im Handbuch des OSS zeigt sich auch hier, dass die Sensibilisierung für Fehler umso grösser sein muss, je mehr auf menschliche Faktoren vertraut wird. Dass Unternehmen mit einem hohen Grad an Hierarchie und Strukturierung nicht vor solchen Schwächen sicher sind, zeigt allein schon die Tatsache, dass der Ratgeber für ein Arbeitsumfeld in den 1940er Jahren geschrieben wurde, als strenge Hierarchien noch die Regel waren. Doch auch wenn die Beispiele solcher ‹bad practice› in allen Organisationen möglich sind, so sind gerade aktivistische und kollektivistische Gruppen besonders anfällig. Menschliche Faktoren haben darin allein schon durch z.B. freiwilliges Engagement und lose Zusammensetzungen einen grossen Einfluss.
Selbsorganisation statt Selbstsabotage
Wie anspruchsvoll eine solche Arbeit sein kann, beschreibt auch der von den Gruppierungen ‹Urban Equipe› und ‹Kollektiv Raumstation› 2020 herausgegebene Ratgeber «Organisiert euch». Sie haben mit zahlreichen Kollektiven gesprochen und gemerkt, dass viele mit ähnlichen Schwierigkeiten beschäftigt sind: «Leute brennen aus, es gibt Konflikte, es reden immer dieselben Leute in den Diskussionen…». Häufig drehen sich die Probleme dabei um (ungeklärte) Fragen der Struktur («Keine Struktur ist auch eine Struktur»), unterschiedliche Aufgaben und Kompetenzen sowie um den Wunsch nach flachen Hierarchien. Dass flache Hierarchien nicht mit Hierarchie-freiheit verwechselt werden darf, ist dabei eine wichtige Einsicht. Gerade wenn verschiedene Personen unterschiedlich aktiv sind, über mehr Vor- oder Fachwissen verfügen oder bereits seit der Gründung der Organisation involviert sind, entstehen rasch informelle Hierarchien, die das Kollektiv in ihrer Arbeit stark beeinträchtigen kann. Dies ist besonders dann der Fall, wenn diese informellen Hierarchien nicht erkennbar sind und darum nicht offen diskutiert werden können.
Im Gegensatz zu den Sabotage-Empfehlungen der OSS und der Sensibilisierung über Anti-Patterns durch Erich Gamma und seine Kollegen gibt der Ratgeber konkrete Empfehlungen dafür, mit welchen Möglichkeiten sich Menschen in Gruppen und Netzwerken möglichst fair, konfliktfrei und wertschätzend engagieren und organisieren können. Dabei werden Pauschalrezepte vermieden, denn nicht jede Lösung passt in allen Situationen und Zusammensetzungen. Die Handlungsanweisungen geben aber dennoch gute Anhaltspunkte mit denen sich Gruppen selber organisieren und wie sie – beabsichtigte oder unbeabsichtigte – menschliche Defizite vermeiden können.
So empfiehlt der Ratgeber beispielsweise, Hierarchien anzusprechen statt so zu tun, als wären sie nicht da. Denn «Wissenshierarchien sind auch schlecht für die Person, die in dieser Hierarchie oben stehen. Sie verhindern, dass sie Arbeit abgeben können und können damit langfristig zum Burnout derjenigen führen, die die Gruppe zusammenhalten.» Und manchmal kann es auch für Kollektive sinnvoll sein, Hierarchien konstruktiv zu nutzen. So lässt sich die Entscheidungsmacht in bestimmten Funktionen definieren. Dies erzeugt Handlungskompetenz für die mit den Aufgaben beauftragten Personen und gleichzeitig Rahmenbedingungen unter denen das Kollektiv ‹Stopp› sagen kann. Und manchmal lassen sich auch ganz allgemein Bedingungen schaffen, die bestimmte strukturelle ‹Gatekeepter›-Positionen vermeiden lassen, z.B. indem der Zugang zu Dokumenten einfach zu erreichen ist, Dateien nach einer nachvollziehbaren Ordnung abgelegt sind oder Sitzungen mit wechselnder Moderation oder sogar selbst-gesteuert stattfinden. Zentral ist bei all den Empfehlungen jedoch der Anspruch den die Gruppe an sich selbst stellt und was sie sowohl organisatorisch wie auch menschlich zu leisten fähig und bereit ist.
Die wichtigste Schlussfolgerung aus allen drei Handbüchern ist wohl, dass viele der grössten Bedrohungen für die organisatorische Leistung von innen ausgehen können und dies in der Praxis häufig auch tun. In einer Zeit, in der Organisationen und Unternehmen aufgefordert werden, agil zu sein, aus Experimenten zu lernen und innovativ zu handeln, sind wir immer noch anfällig für Fehler. Möglicherweise ist dies auch die wichtigste Erkenntnis. Denn menschliche Ursachen von Störungen in organisatorischen Abläufen, ob sie nun beabsichtigt oder unbeabsichtigt entstehen, sind oft subtil und schwer zu erkennen und beinhalten Handlungen, die auf emotionalen Grundlagen liegen. Und so sind wir alle potentielle Sabotierende; und alle ebenso verwundbar.