«Das Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken», drückte Nietzsche 1882 in die Tasten seiner neu erworbenen Mallig-Hansen Schreibkugel. Eine Wasserstandsmeldung von der materiellen Seite des Schreibens. Die Geschichte der Schreibtechniken, von simplen distinkten Zeichenreihen zu komplexeren Schriftsprachen, heißt das, ist auch eine Geschichte der Schreibtechnologien, die neue Formen der Organisation und Speicherung von Symbolreihen ermöglichen. Die Arithmetik wäre ohne grafische Realisation, Zeichengebrauch und technologischen Fortschritt ebenso wenig denkbar wie der nouveau roman oder Kanye Wests letzter Twitterrage.

Wie sieht das heute aus? Wie verändert sich unsere Sprache, durch Google, iPhone, YouTube, durch Social Media, Microsoft Word oder pdf. Aber noch grundsätzlicher: Computer sind in ihrem Kern Textmaschinen. Was bedeutet das für unseren Sprachgebrauch? Der konzeptuelle Autor Kenneth Goldsmith formuliert das so: «What we take to be graphics, sounds, and motion in our screen world is merely a thin skin under which resides miles and miles of language.» Wir leben in einer Welt der Schriftsysteme, notierter und operationalisierbarer Sprache. Die technischen Strukturen, in denen wir uns an unseren Computern lesend und schreibend bewegen, strukturieren unser Lesen und Schreiben. Bewusst oder unbewusst nutzen wir dabei Sprachen, formulieren Text während unter der Oberfläche unserer Tastatur Textmassen mitlaufen, mitschreiben, Schreiben ermöglichen und limitieren.

Die ausführbaren Sprachsysteme, die als Software unsere Computer steuern, weisen dabei im Kern ideologische Züge auf. Sie vermitteln auf der einen Seite sehr explizit durch logische Befehle mit der Maschine in Form technischer Transkodierung, auf der anderen Seite aber verschleiern sie diese Vermittlung und ihre Bedingungen, um eine leichtere, störungsfreie Interaktion zu ermöglichen. «What is software», fragt die Medientheoretikerin Wendy Chun, «if not the very effort of making something explicit, or making something intangible visible, while at the same time rendering the visible (such as the machine) invisible?»

Der Erfolg einer Medientechnologie wird eben auch daran gemessen, wie sehr sie es schafft zu Gunsten störungsfreier Kommunikation in den Hintergrund zu treten. Und mit ihr der ideologische Rahmen, den sie setzt.

Übersteigert wird diese conditio des Digital Age von weiter um sich greifenden Formen der Automatisierung. So ziemlich die Hälfte des Traffic im Internet wird von Bots produziert: von Webcrawlern für Suchmaschinen, Datenerhebungen und analysen jeglicher Art, Überwachung, Spam usw. Bots verkörpern als Programme jene Doppelvalenz aus nachvollziehbarer, logischer Instruktion und verdeckter, im Hintergrund agierender Automatisierung. Goldsmith ist einer der Autor_innen, die an prominenter Stelle darüber nachdenken, welche Rolle Kunst und speziell sprachbasierte Kunst unter diesen Bedingungen spielen soll. Seine Argumentation sieht zeitgemäße poetische Praxis als Visualisierung oder Verfremdung ideologischer Strukturen durch Ent- bzw. Rekontextualisierung von Text.

Hierdurch sollen Aspekte des jeweiligen soziokulturellen Framings sichtbar werden. Wenn Goldsmith Wetter-, Verkehrs- oder Sportberichte einer bestimmten Radiostation über einen festgelegten Zeitraum transkribiert und als literarische Werke herausbringt, thematisiert das, neben Fragen des Kunstbetriebs, vor allem Formen und Verfahren des medialen Sprachgebrauchs, speziell, der Sprache und Inhalte solcher Radioberichte. Und es wird auch deutlich, wie die technischen Voraussetzungen des Radios die Sprache der Berichte mitkonstruieren.

Eine aktive und weniger von kulturpolitischen Kontroversen bestimmte Diskussion dieser Themen findet auf Twitter in Form von Twitterbots statt. Twitterbots nutzen Profile des Kurznachrichtendienstes für regelmäßige, automatisierte Interaktionen. Es gibt Bots, die zu Werbezwecken automatisch followen, replyen oder auf andere Weise Links promoten, ebenso wie Bots, die Nutzern bei der Organisation und Übersicht ihrer Follower helfen. Es gibt Bots, die offiziell Wahlkämpfe führen oder solche, die als Nutzer getarnt versuchen Meinungen zu beeinflussen. Ebenso gibt es Kollektive, die versuchen Bots auf Twitter zu indentifizieren und auszuschalten. Besonders interessant aber, und um diese soll es im Folgenden gehen, sind Bots, die nach  bestimmten festgelegten Regeln auf Twitter posten. In ihnen schneiden sich auf einzigartige Weise Verfahren des Conceptual Writing, generativer Dichtung, Code Literatur und Digitaler Poesie im kollektiven, performativen und sozialen Rahmen einer Social Media Plattform.

And Now Imagine @AndNowImagine 3 Std.
Imagine stuff you’d like to happen. Now imagine your family being kidnapped or murdered and then expected to entertain

Zwei beliebte Bots sind @TwoHeadlines von Darius Kazemi und @AndNowImagine von Ivy Baumgarten. Beide wählen aus einem festgelegten Kontext zufällig je zwei Phrasen aus, die miteinander kombiniert und als neuer Tweet gepostet werden.
@TwoHeadlines greift auf Schlagzeilen von Google News zurück, @AndNowImagine durchsucht Twitter selbst nach Tweets, die mit dem Wort   «imagine» eingeleitet werden. Auf der einen Seite fällt die Wahl also auf einen Sprachgebrauch, der sich wesentlich durch Aufmerksamkeitsbündelung, durch die Knappheit und vermeintlich objektive Faktizität einer Nachricht auszeichnet. Dagegen wählt @AndNowImagine als Material gerade jene Form von Social Media Nachricht, in der subjektive Privatheit, Empathie und Aufmerksamkeitsstreben forciert werden.

Diese zufälligen Kombination haben häufig surreale Sätze zur Folge. Und natürlich sind die Tweets meist auf eine sehr direkte Weise verstörend oder witzig. Aber sie weisen auch über diese unmittelbaren Affekte hinaus. Denn, indem sie einen bestimmten Sprachgebrauch mechanisch doppeln, werden die Normen und Funktionsweisen dieser Sprachbereiche sichtbar. Die Fragilität ihrer Strukturen tritt durch die irritierende Rekontextualisierung hervor. Diese Bots decken Ideologien von Nachrichtensprachen auf, indem sie sie durch Rekombination ad absurdum führen.

Wie @AndNowImagine wählen viele Bots Twitter selbst als Korpus für ihre Textgenerierung. Es gibt eine Reihe von Bots, die dabei klassische poetische Verfahren anwenden. Am prominentesten wohl Ranjit Bhatnagars @pentametron, der Nachrichten retweetet, die einen pentametrischen Rhythmus und als Abschluss ein entsprechendes Reimwort aufweisen, sodass sich immer eine Gruppe von Retweets zu einem klassischen Sonett zusammenfügen lässt. Ähnlich elegant geht auch @accidental575 von Cameron Spencer vor. Sein Bot durchsucht Twitter nach Posts, die genau die nötige Silbenzahl eines Haikus aufweisen, und retweetet sie mit eingeschobenen Zeilenbrüchen in der klassischen japanischen Gedichtform. Solche Bots finden Verfahren klassischer Poesie als ephemere, aber alltägliche Sprachpraxis in der Textflut von Twitter. Sie überbrücken die Kluft zwischen traditionellen Kurztextformen einer «hohen» Literatur und dem vermeintlich inhalts- und stilarmen Textgebrauch in Social Media und schließen sie in ihren kollektiv geschriebenen Anthologie-Timelines kurz. Sie machen sichtbar, wie maschinell Poesie und wie poetisch die Textmaschine Twitter sein kann.

@the_ephemerides und @rom_txt greifen bei der Suche nach poetischen Interferenzen dagegen auf externes Wortmaterial zurück. Allison Parrishs wunderbarer Bot @the_ephemerides nutzt als Textkorpus Bücher über Astrologie und die Erforschung des Ozeans aus dem vorletzten Jahrhundert. Diese Texte werden zu Gedichten rekombiniert, die von der Erforschung und Deutung des Unbekannten handeln und diese Erforschung selbst als maschinengesteuerte Sondierung des Wortmaterials vollziehen. Dazu postet der Bot Bilder von Planeten, die von Nasa-Sonden aufgenommen wurden, und erzeugt poetisch-existenzialistische Bild-Text-Kombinationen. @rom_txt von Zach Whalen sondiert dagegen den Code alter Arcade-Games und postet zufällig daraus ausgewählte Textfragmente. Das Textmaterial der ROMs, Chips, auf denen die Games gespeichert sind, enthält ebenso die auf den Screens angezeigte Sprache der Spiele wie deren Quellcode und mischt sie zu Texten die auf eigenartige Weise zwischen visueller Poesie, dadaistischem Noise und Computerspiel-Sprache flackern.

ROM TXT @rom_txt 18. März
TAKE A BATH^

\] MCMCII ATLUS LTD[
THANK YOU FOR YOUR
PLAYING [
QIKEAA
– #sassault (TurboGrafx 16)

Beide Bots erzeugen ähnlich enigmatische Kurztexte, so sehr sie sich auch im Stil ihres Outputs unterscheiden. Sie sind auf der Suche nach dem, was «dahinter» liegt, nach dem Übergang von Nicht-verstehen und Verstehen. Im Falle von @the_ephemerides durch ein stärker semantisch gesteuertes Vorgehen, bei @rom_txt durch einen Fokus auf das Wortmaterial selbst.

Die bisher besprochenen Twitterbots rekontextualisieren Sprache und legen Teile der sie konstituierenden ideologischen Strukturen als fortlaufende Projekte frei. Ein wesentlicher Reiz aber besteht in der Infiltrierung dieses Vorgehens in die Social-Media-Sprachumgebung von Twitter. Folgt man als User einer Reihe dieser Bots, wird die individualisierte Timeline regelmäßig durchbrochen von poetischer, dysfunktionaler Sprache. Der ereigniseifernde, aber meist leidlich ereignisarme Tweetfluss gerät ins Stocken, die Timeline selbst wird zum Ort poetischen Intervention. Hier flackert für einen kurzen Moment der technologische und soziokulturelle Rahmen von Twitter auf.

Finden diese Mikrointerventionen vor allem auf Ebene des Sprachmaterials statt, weisen die folgenden Beispiele in einem stärker politischen Maße darüber hinaus. @congressedits von Ed Summers bspw. registriert anonyme Bearbeitungen auf Wikipedia, die von einer IP Adresse des US Congress vorgenommen wurden, und postet einen Nachweis auf Twitter. Es ist die Ironie dieses Spiels mit Kontrolle, des US Congress gegenüber Wikipedia und des Versuchs von @congressedits sie zurück zu erlangen, dass die Mehrheit der Bearbeitungen Korrekturen von Komma- oder Formulierungsfehlern sind und gerade nicht jene politische Sprengkraft besitzen, die man bei dem Konzept des Bots vermuten würde. Auch @RedScareBot simuliert einen Kontrollmechanismus, indem er als McCarthy-Bot Twitter auf sozialistische Trigger-Wörter (wie «communist», «marx» usw.) durchsucht und diese retweetet. Sein All-Seeing-Eye führt vor wie simpel und zugleich erschreckend nichtssagend eine solche Datenakkumulation ist. Der Überwachunsmechanismus von @RedScareBot findet kommunistische Spione eben in jedem Winkel von Twitter!

Robot J. McCarthy @RedScareBot 13. Nov. 2015
Oh noes, Socialism RT @abblemeng: @Ricky_Vaugn99

@Nuclearcherries
REMOVE MARXIST
REMOVE KEBAB

Noch beklemmender verkörpert Gregor Weichbrodts @futur_news das Gefühl eines totalitären, deterministischen Ausgeliefertseins. Der Bot ändert die Zeitformen des Tagesschau-RSS-Feeds ins Futur und speist sie in das Twitternetzwerk. Dort erscheinen sie als Bildunterschriften unter schwarz-weißen Filmstills von Nachrichtensprecher_innen, als kämen sie direkt aus Orwells 1984 oder der Twilight Zone.

nachrichten futur @ futur_news 4 Std.
Mercedes-Pilot Nico Rosberg wird das erste Saisonrennen der Formel 1 gewinnen

Nur dass die Ereignisse hier nicht fiktional sind, sie finden statt, haben stattgefunden, werden stattgefunden gehabt haben. Und bei einem regelmäßigen Besuch von Twitter wird der Bot tatsächlich zu einem prophetischen Nachrichtensprecher, wenn die Überprüfung einer Nachricht aus gesicherter Quelle dem Posting des Bots erst nachträglich folgt. Die Irritation, die dabei entsteht, ermöglicht eine Reflexion über die Aktualitätsgier von Medienberichterstattung und über den ambivalenten Status von Twitter als Nachrichtendienst. Zugleich wird die vermeintlich mündige Nachrichten- und Informationsbeschaffung im Internet als Ausgeliefertsein gegenübern den Quellen entlarvt.

Twitterbots irritieren. Sie treten als Automaten in ein für Menschen eingerichtetes soziales Nachrichtenspiel ein und visualisieren oder verklären sprachliche Strukturen gerade durch ihr nichtmenschliches Handeln. In ihren besten Momenten praktizieren sie eine Poesie der Demystifikation von Sprachtechnologien, von Sprachkritik als Ideologiekritik und unterbrechen eingespielte, verkrustete Denk- und Sprechformen. Allerdings weisen sie in ihrem Vorgehen auch regelmäßig über diese Funktionen poetischer Intervention hinaus und generieren neue Ausdrucksformen. Sie zeigen, dass kulturelle Praktiken nicht bloß das Vögelchen im technikdeterministischen Goldkäfig sind, sondern im eigentlichen Sinne welterzeugend und damit hochgradig politisch.

Andreas Bülhoff ist Redakteur bei den Magazinen randnummer und Der Greif. Er schreibt und veröffentlicht Gedichte und promoviert zur experimentellen Poesie der Gegenwart.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert