Die 80er-Bewegung in Zürich – eine assoziative Erinnerung auf Nebenpfaden… Am liebsten mag ich die Sachen, die von der Bewegung selbst nicht sehr geschätzt wurden. Die F+F Schule, Bands wie Kleenex/Liliput, das Projekt Verdorbene Jugend, die Welttraumforscher von Christian Pfluger, die Hexenkurse von Doris Stauffer an der Helmutstrasse, wo auch Luft & Lärm ihren Anfang nahm, die Arbeit von Robert A. Fischer oder das RecRec Musikgeschäft.
Meine Kindheitserinnerung an die 80er-Bewegung in Zürich ist, dass die Aktiven gar nicht in Zürich waren, sondern vor der polizeilichen Repression ins Tessin und in die Toskana flohen. Die spannendsten Leute waren besonders unter Druck: einerseits durch staatliche Repression und andrerseits durch ihre eigenen Freundinnen. Das haben sie erzählt, als wir sie in Spruga im Onsernonetal und in der Toskana auf einem Bauernhof besuchten. Eigentlich gute Orte. Manchen bezahlten die Eltern was dran – sie konnten da ohne Lohnarbeit leben. War die 80er-Bewegung also eine Mittelklasse-Bewegung? Zu einem guten Teil wahrscheinlich schon. Bei diesen Exil-Besuchen habe ich jedenfalls früh nicht nur Skepsis gegenüber staatlicher Allmacht, sondern auch gegen selbsternannte Szene-Chefs bekommen. Viele der Protagonistinnen sind mir recht unsympathisch, sie stellen sich oft extra dumm, geben sich als Einzelkämpfer*innen, machen derbe Sprüche gegen Sensibles und Intellektuelles.
Auch gescholten wurde die F+F. Die Schule für experimentelle Gestaltung war eine seit 1971 aktive Schule im Sinn der «Radical Education», sie entwickelte eine alternative Gestaltungspädagogik. Im 1987 abgerissenen Drahtschmidli, wo heute das Jugendkulturhaus Dynamo steht, hatte die Schule ihr Zentrum, weitere Schulräume waren Ende der 1970er-Jahre am Sihlquai 67 im Kreis 5 – gleich neben dem Autonomen Jugendzentrum AJZ, das am 28. Juni 1980 eröffnete. Im Kreis 4 hatte die F+F Ateliers an der Freyastrasse 20 und im Restaurant Sonne an der Hohlstrasse 32. Die Sonne war damals auch Treffpunkt der Hell’s Angels und Übungsraum von Kleenex. Bekannt ist es heute als «Milieulokal», oder sagen wir mal «Kontaktlokal». Ebenfalls im Kreis 4 eröffnete Doris Stauffer 1978 die Frauenwerkstatt für die Hexenkurse, die sie seit 1977 an der F+F angeboten hatte und dafür vom Schulleiter Hansjörg Mattmüller angefeindet wurde. Und in der Roten Fabrik hat die F+F seit 1979 ein Atelier, das heute noch besteht. Um 1980 war also die F+F Schule an vielen Knotenpunkten der 80er-Bewegung präsent. Sie hat den Style und den Drive dieser Bewegung massgeblich mitgeformt.
Klaudia Schifferle hatte an der F+F studiert. Sie war bei der Band Kleenex/Liliput dabei, die für die 80er-Bewegung in Zürich doch recht wichtig ist. Eine Frauenband, bei der zeitweise auch Jungs spielten. Mit einer Musik, die heute noch sehr gut klingt. Man kann natürlich die grosse Box kaufen, die 2010 bei Kill Rock Stars erschien. Und sicher sind all die Singles gut, die sie machten. Aber wenn wir mal eine LP in Ruhe hören möchten, spiele ich die Liliput LP von 1982, besonders Seite B. Die Plattencovers sind meist von Peter Fischli oder Fischli/Weiss gestaltet, was sie auch zu Hinguckern macht.
An der F+F waren auch Fredy Meier, der als Teil von «Herr und Frau Müller» über das Schweizer Fernsehen zu Bekanntheit gelangte, und Daniel Schäublin, der als Mann mit blutendem Auge, getroffen vom Gummigeschoss, abgebildet wurde. Daniel Schäublin war an der F+F Dozent und eigentlich ein spannender Fotograf, wie das Archiv der F+F zeigt. Nun ist er in die USA ausgewandert und äussert sich offenbar nicht mehr künstlerisch – oder versteckt es so gut, dass ich davon nichts finde. Ebenso realisierte Stephan Eicher seine erste Single mit Noise Boys, die als Kassette erschien, als Projekt an der F+F.
Völlig für sich stand Christian Pfluger mit seinem Projekt Welttraumforscher. Aber als Mitarbeiter im Musikzine «cut» war er ab 1982 doch mit der Zürcher Szene verbunden, für das er auch mal Fischli/Weiss (1984) interviewte. Musikalisch starteten die Welttraumforscher 1981 mit der Kassette «Herzschlag Erde» und machten ihr Ziel bekannt: «Der Weltentraum / der Traum der Welt / steckt irgendwo / auf dieser Welt / wir wissen nicht / ob es ihn gibt / und doch erforschen / wir den Traum der / Welt». Wer die Kassette nicht hat, kann es im Katalog nachlesen, der 2013 beim Kunsthaus Langenthal erschien. Stücke von der Kassette erschienen 2005 auf der CD-Compilation «21 Weltraum Standards», die ich leider nicht habe.
Bei «cut» schrieb manchmal auch Robert A. Fischer, damals im Tessin wohnhaft, der Ende 1976 das Fanzine «Minimal Rock» gestartet hatte: «Ich hab von Anfang an – ab November 76 im «Minimal Rock» und ab 1978 mit Arnoldo Steiner im «Pin-up» – das Tagebuch der «Bewegung» geführt: alle Neuerscheinungen, Gigs und Ereignisse, die ich für wichtig hielt, sind bis Anfang 1980 durch meine Schreibmaschine geschleust worden», schreibt er 1982 im Musikzine «Pin-up». Der Text wurde in «Hot Love», dem Buch zu Swiss Punk und Wave, 2006 noch mal abgedruckt.
Auch die Lektüre wert sind Ausgaben der Zeitschrift «Der Alltag» aus dieser Zeit, damals im herzerwärmenden A5-Format (später war sie grösser und dicker aber nicht mehr so charmant). Als «Sensationsblatt des Gewöhnlichen» enthält z.B. die Ausgabe vom Oktober 1980 einen Report mit Fotografien zur Stadtwanderung vom Flughafen Kloten bis nach Schwamendingen.
Bei Elke Betzel in Frankfurt am Main erschienen um 1980 mehrere spannende Bücher aus Zürich: Das Fotobuch von Walter Pfeiffer (mit Aufnahmen in der F+F), das Buch zur F+F («Genie gibt’s») und, sehr wichtig, «Prima Volta»: «der erste deutsche Fotoroman» von Beat Schmidlin und Barbara Schneider. Die Geschichte von «Prima Volta» spielt in Zürich. Sie handelt von einer Selbstfindung im Kunstmilieu, mit bekannten Gesichtern und wundervoller Gestaltung. Die Dekadenz, die Drogen, die oben-ohne-Bilder und das Bettgeflüster zeugen von einer machoiden Gesellschaft, von dem sich die Publikation nicht wirklich distanziert. Vielleicht waren das die 80er: Sie waren «dagegen», machten aber trotzdem voll mit.
Die Macho-Schlagseite von «Prima Volta» erinnert mich daran: Ja natürlich, «Kassandra» die «feministische zeit-schrift für die visuellen künste», die 1978 nur in zwei Ausgaben in Zürich und Berlin erschien, und die 1975 in Zürich gegründete «Lesbenfront». Beide sind lesenswerte Zeitschriften, kulturelle Ereignisse oder noch deutlicher: Wichtiges Kulturgut. Sie sind noch spannender als die «Fraue-Zitig», die jeweils bei meiner Mutter auflag. In der «Kassandra» Nr. 1 gibt es von der Gestalterin und Verlegerin Alice Juliana Lang auch einen Bericht zur zweiten «Hexenwoche» bei Doris Stauffer an der F+F Schule.
Doch zurück zum Kanon: Sicher war es sehr schön, wie Deutsch-Amerikanische Freundschaft im Houdini spielten, das im Kino Walche vom AJZ aus organisiert wurde. Auch hätte ich gerne das Festival «Tonmodern» gesehen in der Roten Fabrik, 1982 und 1983. Es gibt also durchaus bewundernswerte Ereignisse der 80er.
Der RecRec-Plattenladen war ein absolutes Highlight, aber gerade der RecRec blieb am Rande der Szene. Es wurde wenig wahrgenommen, was sie dort entwickelten: «RecRec Music betrachten wir als Forum der Anderen Musik – Musik, die sich nicht an einer Verkäuflichkeit orientiert oder modischen Trends anpasst – sondern mehr versucht, neue Formen des musikalischen Ausdrucks zu realisieren. (…) Musik reflektiert Wirklichkeiten und Veränderungen, in denen wir leben; sie betrifft, klärt, verwirrt und ist gegenwärtig.» So steht es im RecRec Katalog 1986–1988.
Nachdem Veit Stauffer mit einer Defizitgarantie des Vereins «Kunst und Kommunikation» der F+F Schule 1978 in Zürich ein Konzert der Band Henry Cow organisiert hatte, gründeten er und Daniel Waldner 1979 den RecRec Vertrieb. 1981 kam der Laden dazu. Die von ihnen in der Roten Fabrik, im Houdini des AJZ und anderswo organisierten Konzerte enthalten starke Namen, die ich sehr empfehlen kann. Um nur einige zu nennen: Feminist Improvising Group (1979), Aksak Maboul (1981), Red Crayola (1981), Family Fodder (1981), This Heat (1982) oder Honeymoon Killers (1982). Auch die erste LP ihres Labels mit Débile Menthol (1982) aus Neuchâtel ist ein Hit. Und die Gestaltung der Platte, gemacht von Peter Bäder, very nice. Der Aufkleber des RecRec-Versands gilt als Gütesiegel für Schallplatten. Eine davon ist «Verdorbene Jugend» von 1984. Im Lied «süchtig nach dir» lautet der Refrain: «Ich liebe dich, ich will dich vögeln, ich hasse dich, weil ich dich lieb.» Vielleicht sind das die 80er, aggressiv auf der Suche nach der eigenen Sensibilität.
Doch all diese kleinsten Pendelbewegungen des kulturellen Sensoriums sind wohl belanglos in der Wahrnehmung von aussen. So sind Massenbewegungen: Am Ende bleibt in den Köpfen nur der liebe Obdachlosen-Prediger mit dem Esel – und Tränengas. Schon verrückt, dass die gleiche Polizei, die heute Schwulenclubs beschützt und bei Verbrechen keine Nationalitäten mehr bekannt geben darf, damals wöchentlich Demos niederknüppelte und mit dem anti-linken Spitzeldienst von Ernst Cincera flirtete. Laut dem Blog von RecRecs Veit Stauffer war der Polizeichef der Stadt Zürich bei der Beerdigung der Kleenex/Liliput-Mitbegründerin und Gitarristin Marlene Marder (1954–2016) sogar diskret unter den Trauergästen, neben der Stadtpräsidentin Corine Mauch.