Hinter Abtreibungsverboten steckt kein kapitalistischer Geheimplan, um die Geburtenrate zu erhöhen. Denn die Attacken auf das Abtreibungsrecht sind eine Folge der extremen Ungleichheit, die der Kapitalismus zwischen den Geschlechtern produziert.
Ein halbes Jahrhundert lang war das Recht auf Abtreibung in den USA bis zu einem gewissen Grad im Bundesrecht anerkannt. Dem hat der Supreme Court ein Ende gesetzt, als er die Grundsatzentscheidung «Roe v. Wade» am 24. Juni 2022 zum Fehlurteil erklärte. Fortan können Bundesstaaten mit republikanischen Mehrheiten (die oft durch Gerrymandering, also die Manipulation von Wahlkreisgrenzen, zustande gekommenen sind) Gesetze zum Verbot von Abtreibungen oder zur Durchsetzung bereits bestehender restriktiver Massnahmen erlassen. Besonders in Bundesstaaten wie Mississippi, in denen der Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen schon seit Jahrzehnten eingeschränkt wird, leitet das Urteil des Supreme Court eine neue Ära der Strafverfolgung ein, die sich sowohl gegen Schwangere, die abtreiben wollen, als auch ärztliches Personal, das sie versorgt, richtet.
Dieser massive Rückschritt hat unter Linken eine breite Diskussion darüber ausgelöst, welche Motive der jüngsten Eskalation im Kampf gegen das Recht auf Abtreibung zugrunde liegen. Einige argumentierten, die neuen Beschränkungen hingen unmittelbar mit kapitalistischen Interessen zusammen. Demnach würde man in Wirtschaftskreisen Abtreibungsverbote befürworten, um angesichts historisch knapper Arbeitsmärkte und niedriger Geburtenraten eine ausreichende Verfügbarkeit von Arbeitskräften sowie Konsument:innen sicherzustellen. Vertreter:innen dieser Argumentationslinie behaupten, die Beschneidung reproduktiver Rechte sei nicht ausschliesslich deswegen eine Klassenfrage, weil sie arme Frauen am härtesten trifft. Vielmehr entspräche es auch den direkten Klasseninteressen der Kapitalfraktion.
Abtreibungen und die
Reservearmee
Auf den ersten Blick mag die Theorie des Arbeitskräfteangebots schlüssig erscheinen – vor allem in Zeiten, in denen die Medien ständig über einen angeblichen Mangel an Arbeitskräften berichten. Das Argument lautet wie folgt: Abtreibungsverbote oder harte Abtreibungsgesetze zwingen Menschen dazu, gegen ihren Willen Kinder zu gebären. Das führe zu einer höheren Geburtenrate und damit zu mehr Arbeitskräften. Ein grösseres Angebot an Arbeitskräften verringere wiederum die Verhandlungsmacht der Arbeitenden. Daher sei es im Interesse der kapitalistischen Klasse, Abtreibungen in Zeiten geringer Geburtenraten zu verhindern.
Doch auch wenn das schlüssig klingen mag, hat die Logik dieser Argumentation dennoch gravierende Blindflecke. Erstens können Abtreibungsverbote die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte, wenn überhaupt, nur langfristig erhöhen. Menschen müssen erst erwachsen werden, um produktive Arbeitskräfte zu sein. Zudem sind die Bedingungen, die auf dem Arbeitsmarkt in zehn, zwanzig oder gar dreissig Jahren herrschen, kaum vorhersehbar.
Anti-Abtreibungsmassnahmen sind also kein effizientes Mittel, um den unmittelbaren Bedarf des Kapitals an Arbeitskräften zu decken. Immigration, die sofort Arbeitskräfte ins Land bringt, ist weitaus effektiver als Abtreibungsverbote oder Geburtenkontrollen. Folgerichtig konzentrieren sich Organisationen der herrschenden Klasse auf Massnahmen wie die Reformierung der Einwanderungspolitik.
Zweitens verringern restriktive Abtreibungsgesetze die Zahl der gebärfähigen Personen, die dem Arbeitsmarkt aktuell zur Verfügung stehen. Dieses Problem offenbart eine noch gravierendere Leerstelle der Arbeitskräfte-Theorie. In einer Vielzahl von Kontexten haben Wissenschaftler:innen herausgefunden, dass der uneingeschränkte Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen die Erwerbsbeteiligung von Frauen erhöht, da sie dadurch mehr ökonomische Handlungsoptionen haben und seltener gezwungen sind, hauptsächlich (unbezahlte) Sorgearbeit zu leisten – das hat sich sowohl in den USA vor der Entscheidung vor «Roe v. Wade» gezeigt oder auch im heutigen Norwegen.
Abtreibungsverbote können den gegenwärtigen Arbeitskräftebedarf also nicht decken. Im Gegenteil, sie verschärfen die Lage sogar, da sie das Angebot an verfügbaren Arbeitskräften weiter verknappen. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die kapitalistische Klasse besonders besorgt über die «fehlenden Frauen» in der Arbeitswelt gezeigt hat, scheint es eher unwahrscheinlich, dass sie eine Massnahme befürworten würde, die noch mehr Frauen aus dem Arbeitsmarkt verdrängen würde.
Natürlich heisst das nicht automatisch, dass das Kapital keine Angriffe auf reproduktive Rechte unterstützen würde. Die kapitalistische Klasse agiert oft irrational. Eine genauere Betrachtung der kapitalistischen politischen Organisationen liefert jedoch kaum Anzeichen dafür, dass sich die Unternehmensspitzen für konservative Abtreibungsgesetze stark machen. Diese Organisationen scheuen sich nicht, Themen wie die Verfügbarkeit von Arbeitskräften zu diskutieren, im Gegenteil: Sie erstellen dazu sogar regelmässig Berichte. Doch selbst die am weitesten rechts stehenden Organisationen, beispielsweise die Heritage Foundation und das American Enterprise Institute, beziehen keine Position zu Geburtenraten in Bezug auf den Bedarf an Arbeitskräften. Stattdessen fokussieren sie sich darauf, den Wohlfahrtsstaat so weit auszuhöhlen, bis den Arbeitenden nichts anderes übrig bleibt, als den Lohn zu akzeptieren, den die Unternehmen ihnen zu zahlen bereit sind.
Es gibt momentan keine konkreten Indizien dafür, dass die Verbände der kapitalistischen Klasse die Abtreibungspolitik nutzen wollen, um den Arbeitsmarkt zu kontrollieren. Angesichts dessen ergibt es keinen Sinn, sie als eine der zentralen Kräfte aufzufassen, die auf die Kriminalisierung von Abtreibungen drängen.
Tatsächlich gibt es Anlass anzunehmen, dass zumindest einige Kapitalfraktionen eher in die andere Richtung tendieren. Einige der grössten Unternehmen der USA, darunter Amazon, Starbucks, Lyft und Uber, haben angekündigt, dass sie die Reisekosten für Angestellte übernehmen werden, die in Bundesstaaten mit abtreibungsfeindlicher Gesetzgebung leben und den Eingriff daher in einem anderen Bundesstaat vornehmen lassen müssen. Zugleich hat Amazon in Bezug auf den Arbeitskräftemangel erhebliche Bedenken geäussert. Derartige Initiativen lassen Zweifel daran aufkommen, dass die aktuellen Restriktionen des Abtreibungsrechts den amerikanischen Unternehmen zuzurechnen sind.
Sicherlich bringen einige rechte Politiker und Kapitalisten den Zugang zur Abtreibung mit der Sorge um die allgemeine Geburtenrate in Verbindung. Aber es gibt kaum Hinweise darauf, dass die kapitalistische Klasse als solche auf restriktive Abtreibungsgesetze drängt.
Abtreibungen, Sexismus und die
politische Bedeutung von Mutterschaft
Jede Untersuchung der Abtreibungspolitik in den USA muss sich mit der Dynamik der öffentlichen Meinung auseinandersetzen. Jahrzehntelange Umfragen ergeben, dass die Meinungen zum Abtreibungsrecht zwischen den Geschlechtern weniger stark polarisieren als bei vielen anderen politischen Fragen wie etwa der Aussenpolitik. Obwohl es eindeutige Beweise dafür gibt, dass Abtreibungsverbote das Leben von Frauen in vielerlei Hinsicht verschlechtern, befürworten Frauen den uneingeschränkten Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht wesentlich stärker als Männer.
Manche mögen argumentieren, diese Frauen seien durch die kapitalistische oder patriarchalische Ideologie indoktriniert worden. Dies ist jedoch nicht besonders überzeugend. Die Soziologin Kristin Luker hat in ihrem Buch Abortion and the Politics of Motherhood bereits vor einigen Jahrzehnten einen deutlich plausibleren Erklärungsansatz vorgelegt. Luker beschreibt darin nicht nur die Geschichte von Abtreibungsgesetzen, sondern untersucht ebenso die Motive von Abtreibungsgegnerinnen.
Die von Luker befragten Frauen stammten in der Regel aus weniger wohlhabenden Verhältnissen, waren weniger gebildet und hatten eher schlechte Berufsaussichten. Mutterschaft schien diesen Frauen die bei weitem beste Möglichkeit zu sein, um eine Rolle innerhalb der Gesellschaft einnehmen zu können, die wertgeschätzt wird. Ohne Aussicht auf sinnstiftende, gut bezahlte oder prestigeträchtige Karrierewege war Mutterschaft von zentraler Bedeutung für ihr Selbstwertgefühl und ihr Bedürfnis nach sozialer Anerkennung.
Der Rechtsanspruch auf Abtreibung machte die Mutterschaft zur Option. Sie war nicht länger zentrales Telos im Leben von Frauen und eignete sich folglich nicht mehr ohne weiteres als Hauptquelle des Selbstwertgefühls und der gesellschaftlichen Anerkennung. Das war aus Sicht der Abtreibungsgegnerinnen das grösste Vergehen der Bewegung, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzte. Der Kampf um den Zugang zu Abtreibungen bedeutete somit einen Kampf um den Platz der Frau in der amerikanischen Gesellschaft und darum, ob dieser Platz zentral durch Mutterschaft definiert wurde.
Lukers Untersuchung stammt aus den späten 1970er Jahren. Doch ihre Schlussfolgerungen haben ihre Gültigkeit behalten. Unter denjenigen, die keinen akademischen Abschluss gemacht haben, sind Frauen im Vergleich zu Männern tendenziell eher gegen Abtreibungsrechte. Am anderen Ende des sozioökonomischen Spektrums kehrt sich diese Dynamik um: Dort befürworten mehr Frauen das Recht auf Abtreibung als Männer.
Lukers Analyse ist insofern interessant, als dass sie eine Erklärung dafür liefert, weshalb sich mehrere Millionen Frauen in den USA in der Pro-Life-Bewegung engagieren. Diese Perspektive schlägt gleichzeitig die Verbindung zur politischen Ökonomie des Kapitalismus. Die verheerende wirtschaftliche Ungleichheit in den USA erzeugt eine Situation, in der die Überhöhung der Mutterschaft zu einer Art heiligen Pflicht für eine Grosszahl von Frauen eine der wenigen sinnstiftenden Erfahrungen in ihrem Leben darstellt.
Die Wissenschaftlerin Stephanie Coontz beschreibt das folgendermassen: «Frauen mit weniger ökonomischer oder persönlicher Autonomie fühlen sich oft zu einer Wertestruktur hingezogen, die die Familie ins Zentrum stellt und die Versorgerrolle des Mannes gegenüber der Frau stärkt. Frauen hingegen, die die Möglichkeit haben, sich eigenständig beruflich aufzustellen und zu behaupten, legen Wert auf Gleichberechtigung und unterstützen politische Massnahmen, die es ihnen ermöglichen, beruflich voranzukommen und Beruf und Familie zu vereinbaren.»
Ein erheblicher Anteil der Pro-Life-Bewegung sind Frauen. Aber auch männlicher Sexismus ist Teil der Realität. Rush Limbaughs herablassende Tiraden über die Verhütung von College-Studentinnen oder Republikaner, die öffentlich die Meinung vertreten, Frauen sollten Vergewaltigungen, wenn sie unausweichlich sind, einfach «geniessen», bezeugen: Die Pro-Life-Bewegung ist durchdrungen von Misogynie. Abtreibungsgesetze und die Stärkung der primären Rolle der Frau als Mutter sind für viele Männer, die dort aktiv sind, nur ein Teil eines grösseren Unterfangens, das die Zementierung der Unterordnung der Frau bezweckt.
Diese Frauenfeindlichkeit und Geschlechterhierarchie sind jedoch nicht nur unter Abtreibungsgegner:innen und -gegnern verbreitet, sondern wurzeln in der kapitalistischen politischen Ökonomie. Denn der Kapitalismus festigt tendenziell die soziale Rolle der Frau als Mutter und Hausfrau. Frauen werden schlechter bezahlt als Männer, sodass es in vielen Familien ökonomisch naheliegender ist, dass sie sich vorrangig um Kinderbetreuung und Hausarbeit kümmern, während Männer sich auf ihre Karriere konzentrieren. Frauen gelten, unter anderem dadurch bedingt, als weniger zuverlässige Arbeitskräfte (insbesondere in Berufen mit unregelmässigen Arbeitszeiten, wie in der Wirtschaft und in juristischen Berufen). Dadurch wird die Struktur der Ungleichheit weiter verfestigt.
Diese Ungleichheit entsteht auf dem Arbeitsmarkt, aber sie fördert auch Machtungleichgewichte innerhalb von Beziehungen. Frauen bleiben eher als Männer aus finanziellen Gründen in unglücklichen Beziehungen und leisten mehr häusliche Arbeit als Männer. Häusliche Gewalt gegen Frauen kommt häufiger vor, je grösser das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen ist. Das Vorhaben, die Arbeit egalitär aufzuteilen, wird durch Ungleichheiten in der Arbeitswelt untergraben. Wenn der Kapitalismus sich selbst überlassen wird, erzeugt er Geschlechterungleichheit und festigt die patriarchale Ideologie, die sie legitimiert.
Das Recht auf Abtreibung und
antikapitalistische Politik
Die politische Ökonomie des Kapitalismus und restriktive Abtreibungsgesetze sind in den USA eng miteinander verbunden. Doch diese Verbindungen führen nicht zu den Bankkonten von Kapitalist:innen. Sie verknüpfen vielmehr die Beschränkungen, die der Kapitalismus grossen Teilen der arbeitenden Klasse auferlegt, mit den Ideologien, die die Rolle der Frau als mütterliche Untergebene des Mannes begreifen. Angriffe auf reproduktive Rechte sind deshalb keine kapitalistische Verschwörung, sondern Ausdruck der pathologischen Ungleichheit unserer Gesellschaft.
Abtreibungsfeindliche Politik ist in den Ungleichheiten des Kapitalismus verwurzelt. Um den Kampf für reproduktive Rechte voranzubringen, müssen diese Ungleichheiten bekämpft werden. Zuallererst muss die in der US-Verfassung verankerte politische Ungleichheit beseitigt werden, die Mehrheitsverhältnisse aufhebt und nicht gewählte Richter dazu befähigt, Gesetze zu erlassen. Denn obwohl die Pro-Life-Bewegung die Unterstützung von Millionen von Menschen geniesst, lehnt eine klare Mehrheit der Amerikaner:innen ein Abtreibungsverbot ab. Echte politische Teilhabe würde den Abtreibungsgegner:innen einen vernichtenden Schlag versetzen.
Noch entscheidender ist, dass die Struktur der kapitalistischen Arbeitsmärkte offensiv angegriffen werden muss. Wie Lillian Cicerchia kürzlich vorschlug, müssen wir «die feministische Bewegung mit der Arbeiterbewegung und Kampagnen im Gesundheitssektor verbinden». Gewerkschaften verkleinern das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen. Familienfreundliche Regelungen zur Elternzeit würden Anreize schaffen, unbezahlte häusliche Arbeit gleichberechtigt aufzuteilen, und so die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt und in der Familie ins Gleichgewicht bringen. Und schliesslich müssen wir natürlich den flächendeckenden, öffentlich finanzierten Zugang zu Abtreibungen für alle erkämpfen, die ihn brauchen.
Der Kapitalismus und die Geschlechterungleichheit sind eng miteinander verbunden. Doch wenn wir die Beschaffenheit dieser Verstrickung missverstehen, erschwert das den Kampf für eine wirklich freie Gesellschaft.
Von Paul Heideman
Übersetzung von Franziska Heinisch
Dieser Text wurde zuerst im «Jacobin» veröffentlicht.
Paul Heideman ist der Herausgeber von Class Struggle and the Color Line: American Socialism and the Race Question, 1900-1930. Seine Arbeiten sind in «Jacobin», In «These Times» und «Dissent» erschienen. Er unterrichtet an einer High School in New York City.