Ein schwarzer Vogel sass auf der Brüstung und legte den Kopf schräg; was weiss er? Sein Auge glänzte feucht, aber hart – als wäre es und das ganze Innere des Vogels poliertes, schwarzes Gestein. Er hüpfte ein Stück weiter, sodass das letzte Licht anders auf sein Gefieder fiel, und da erkannte Suberg, dass der Vogel nicht schwarz wie Kohle war, sondern von einem Schwarz, das wie Öl auf Wasser schimmerte. Ein Sprung und wenige Flügelschläge später war er auf dem Tisch, an dem Suberg gerade ein ganzes Poulet verzehrt hatte; das Essen von Tieren war zurzeit sein einziger Trost. In kleinen Hüpfern näherte sich der Vogel dem Teller, den Kopf mal auf die eine, mal auf die andere Seite legend – was weiss er? Suberg hob die Hand und bewegte sie so, als wolle er dem Vogel Luft zufächern, der Vogel blieb. Er nahm das Glas, in dem noch ein Rest Rotwein war und bewegte es ruckartig nach vorn, um den Vogel mit einem Schwall zu übergiessen, doch der Vogel hüpfte rechtzeitig beiseite und senkte dann seinen Schnabel in die Flüssigkeit, die sich auf der glatten Oberfläche des Tisches langsam zusammenzog. Als Suberg ausholte, um den letzten Rest auf das Tier zu schleudern, entglitt ihm das Glas nach hinten und zerschellte auf dem Balkon einer Nachbarin, die er kaum kannte.
Suberg ging eine Allee von fetten Platanen entlang, unter deren Rinden Geschwüre lagerten. Die Nachtschichten machten ihm nichts aus; als der Abteilungsteiler ihn einmal versehentlich zweimal hintereinander zur Nachtschicht eingeteilt hatte, hatte er sich nicht beschwert. Die Nächte vergingen rasch, und er mochte es, im Morgenlicht als Eingeweihter nachhause zu gehen. Im Winter aber, wenn die Tage sehr kurz waren, war ihm, als sehe er kaum die Sonne – er stellte sich dann vor, wie seine Glieder sich wie Gewächse auf der Suche nach einem Flecken Sonne zerbogen. Er hatte Bilder dieser Krankheit in einem medizinischen Lexikon gesehen, das sie einst gedruckt hatten. Die Schwarzweissbilder des Lexikons, die absonderliche Zerformungen des menschlichen Körpers zeigten, verfolgten Suberg derart, dass er den Abteilungsleiter darum bitten musste, mit jemandem aus der Nachtschicht tauschen zu dürfen. Denn nachts wurde ausschliesslich die Tageszeitung gedruckt. – Plötzlich bellte etwas auf Suberg herab, es war der Vogel, er hockte auf einer der Platanen und verfiel nun in eine Tirade von spöttischen Pfeiflauten; als Suberg weiterging, flog der Vogel auf den nächsten Baum. Es wehte ein warmer Wind an jenem Abend, und Suberg hatte vorgehabt, den ganzen Weg zur Druckerei zu Fuss zu gehen, doch nun, da ein Vogel begonnen hatte, ihn zu beschimpfen, nahm er doch lieber den Bus. Als aber Suberg im schmalen Windfang der Bushaltestelle wartete, setzte sich der Vogel vor ihn auf den Asphalt und begann erneut sein verächtliches Gepfeife. Die anderen Wartenden bemerkten den Vogel, sie lachten und zeigten mit dem Finger auf ihn und Suberg. Dann imitierte der Vogel das Geräusch des einfahrenden Busses und das der Hydraulik, wenn er sich absenkte, solange, bis der Bus vorfuhr und Suberg der Erniedrigung durch den Vogel entging.
Als Suberg zum Schichtwechsel erschien, hatte der Lehrling Grütter dem Hilfsarbeiter bereits angeordnet, die Farbwerke zu waschen. Suberg war darüber überrascht; der Lehrling war eigentlich nicht dazu befugt, dem Hilfsarbeiter Befehle zu erteilen. Doch Suberg war in einer zu melancholischen Verfassung, als dass er wütend hätte werden können. Er verfluchte seinen Zustand, gerne hätte er sich eine Strafe ausgedacht. Das überhebliche Lachen des Lehrlings widerte ihn an, wahrscheinlich hatte er eine Freundin, die nun zuhause sass und darauf wartete, ihn zu befriedigen. Der Abteilungsleiter erschien am Steuerpult, lehnte sich ungelenk dagegen und lächelte beinahe unterwürfig, er sprach einige nichtssagende Sätze, bevor er Suberg bat, kurz mitzukommen. Allein diese Blossstellung vor dem Lehrling war im Grunde kaum verzeihbar; es würde ihn eine ganze Woche kosten, das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht des Lehrlings zu vertreiben.
Im Büro des Abteilungsleiters angelangt, holte dieser die gestrige Zeitung hervor, blätterte darin und legte sie dann offen auf den Tisch. Es war nicht nötig, dass er etwas sagte, der Mangel war zu offensichtlich: Ein breiter, blauer Schmierstreifen zog sich über die ganze Seite, eine ganze Spalte war unlesbar. Hunderttausend Exemplare, sagte der Abteilungsleiter. Er könne sich das nicht erklären, sagte Suberg. Der Abteilungsleiter meinte, dass die Redaktion ernsthaft diskutiere, morgen einige Zeilen der Entschuldigung ins Blatt zu nehmen. Werde dann sein Name genannt, wollte Suberg wissen, sein Chef lachte und schüttelte den Kopf.
Auf dem Weg zum Pausenraum fragte sich Suberg, wie das hatte passieren können; hatte er letzte Nacht seine Arbeit nicht so zuverlässig wie immer getan? Und wenn ihm gestern, hunderttausend Exemplare lang, der Schmierstreifen nicht aufgefallen war, war es nicht möglich, dass ihm bisher ganz andere Mängel auch nicht aufgefallen waren? Mängel, die sein Chef zwar bemerkt, ihm aber nicht mitgeteilt hatte? Dann konnte es sein, dass ihm bereits die Entlassung drohte. Es stimmte schon, er neigte dazu, seinen Gedanken nachzuhängen, wenn er arbeitete; doch machte er diese Arbeit schon so lange, dass seine Hände beinahe unabhängig arbeiteten. Hatten ihn letzten Endes gar seine Hände verraten?
Als er den Pausenraum betrat, grinste ihm der Lehrling ins Gesicht, und da durchschoss es Suberg: Er hatte gestern ungewöhnlich oft das Gespräch mit ihm gesucht, ihm Fragen zur Justierung der Feuchtwalzen gestellt. Doch das Interesse war geheuchelt gewesen, er hatte ihn bloss ablenken wollen. Suberg zündete sich eine Zigarette an, schlug ein Bein über das andere und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Der Lehrling trank Kaffee am Stehtisch und scherzte mit den anderen Druckern. Dann aber kam er wie zufällig zu Suberg herüber, sein Mund stand halboffen, er lehnte sich gegen die Hand Subergs. Einige Sekunden lang liess es Suberg geschehen, eine stille Wut überkam ihn. Der Lehrling verschränkte die Arme vor der Brust und schlug ein Bein über das andere, um den andern zu zeigen, dass nun sein ganzes Gewicht auf Subergs Hand ruhte. Da zog Suberg ruckartig seine Hand weg, der Lehrling wurde mitgezogen und fiel zu Boden. Die anderen Drucker hatten aufgehört, zu lachen, einer sprang herbei, dem Lehrling aufzuhelfen; es wurden einige abfällige Worte über Suberg geflüstert.
Als Suberg im ersten Licht nachhause ging, fühlte er nicht jene Leichtigkeit und Euphorie, die ihn normalerweise nach einer durcharbeiteten Nacht überkam. Sein Körper war schwer und seine Gelenke schmerzten. Wenn der Schmierstreifen tatsächlich im morgigen Blatt erwähnt werden sollte, dann war das eine kaum überbietbare Demütigung – für immer wäre diese Information in den Archiven gespeichert, unauslöschlich. Es war gewissermassen auch sein Fehler gewesen. Er hatte sich vom Lehrling ablenken lassen, hatte sein schlecht gespieltes Interesse nicht enttarnt. Was aber nützte es dem Lehrling, Suberg loszuwerden? Der Lehrling war, das war bekannt, der Sohn eines Freundes des Verlegers, und er hatte es deswegen anfangs schwer gehabt. Die üblichen Erniedrigungen am Anfang der Lehre hatte er doppelt so oft zu ertragen; auch als er diese schon durchschaut hatte, wurde er ihnen ausgesetzt und es wurde erwartet, dass er sich unwissend stellte, sich erniedrigen liess. Nun aber wurde er von den anderen mit Respekt behandelt, und es stand ausser Zweifel, dass er nächstes Jahr, wenn der neue Lehrling seine Ausbildung beginnen würde, einer der Grausameren sein würde.
Suberg zog die Vorhänge zu, legte sich ins Bett und massierte sich die Schläfen. Aus den Baumkronen auf der Höhe seiner Wohnung hörte er junge Vögel. Suberg verfluchte einmal mehr die Hellhörigkeit des Hauses und seine eigene. Nach unbestimmten Träumen weckte ihn Türklingeln. Eine Frau, weder alt noch jung, stand nachlässig gekleidet vor der Tür. Ihre Haare waren strähnig, die löchrige Strickjacke war ihr von der einen Schulter gerutscht und entblösste ein von lederner Haut überspanntes Schlüsselbein. Sie hielt eine Kehrschaufel voller Scherben in der Hand.
«Wir wissen alle», sagte sie, «was Ihnen widerfahren ist. Das heisst aber nicht, dass sie sich alles erlauben können.» Es klang nicht wie ein Vorwurf, vielmehr wie ein gutgemeinter Ratschlag. Sie hielt ihm weiterhin die Schaufel hin, und weil Suberg nicht wusste, was er sagen sollte, nahm er sie in die Hand. Ihre Miene entspannte sich, offenbar hatte sie genau das von ihm erwartet. Er versprach, sich um die Entsorgung der Scherben zu kümmern und ihr die Kehrschaufel dann zurückzubringen. Sie wünschte ihm einen guten Tag und wandte sich um, zu gehen. Als Suberg die Tür schon halb zugezogen hatte, drehte sie sich um, und sagte mit einem gütigen Lächeln: «Manche Menschen sind halt nicht dafür geschaffen, geliebt zu werden.» Sie lachte in kurzen, schrillen Tönen, die im hohen Treppenhaus mehrfach nachhallten.
Nachdem Suberg auf dem Balkon beinahe ein Kilo Hackfleisch verzehrt hatte, wollte er hineingehen, um sich vor der Nachtschicht ein wenig hinzulegen. Plötzlich glitt der schwarze Vogel ohne Flügelschlag auf die Brüstung, legte den Kopf schräg und betrachtete Suberg. Etwas war im Glänzen seiner Augen, das einem den Eindruck verschaffte, es denke dahinter. Er öffnete den Schnabel und Suberg lachte darüber, dass er im ersten Moment gedacht hatte, er werde nun sprechen. Das dümmliche Öffnen des Schnabels zeigte ihn als das geistig unterlegene Wesen, das er war. Suberg griff langsam nach der Pfeffermühle, liess sie unter den Tisch verschwinden und machte sich bereit, den Schädel des Vogels zu zerschmettern. Da aber drang aus dem Vogel, und doch nicht aus dem Vogel, etwas Menschliches; der Schnabel bewegte sich nicht, es war ein Lachen, der Vogel lachte in schrillen Stössen.
Lächelnd dachte er an die tausenden Liter von Isopropyl-Alkohol, die im Keller der Druckerei in der Nähe der Papierrollen lagerten
Suberg telefonierte dem Abteilungsleiter, er habe sich mehrfach übergeben und fühle sich nicht in der Lage, in dieser Nacht zur Arbeit zu erscheinen. Sein Chef akzeptierte die Erklärung ohne Nachfragen. Suberg legte sich schlafen, und als er erwachte, war er nicht sicher, ob es Morgen oder Abend war. Erleichtert stellte er fest, dass es heller wurde. Es klingelte an der Türe, und Suberg sprang auf, leerte die Kehrschaufel in den Müllsack und öffnete die Türe. Es war Grütter, der Lehrling. Als er eintrat, zog er seinen Fuss leicht nach. Suberg, der nie Besuch hatte, wusste nicht, was er tun sollte, schliesslich setzte sich Grütter ohne Aufforderung auf das Sofa. Suberg stand noch immer mit der Kehrschaufel in der Hand da. Der Lehrling sagte, dass es ihm leidtue, wie er sich verhalten habe, und dass er sich in Zukunft ihm, seinem Lehrmeister, ganz unterwerfen wolle. Tatsächlich nahm Grütter nun eine unterwürfige Haltung an; er bog den Rücken, liess die Schultern nach vorne sinken und legte den Kopf schräg, als wolle er Suberg seinen Hals darbieten. Suberg bedankte sich mit metallener Stimme und sagte dann, er brauche Ruhe, da er doch krank sei. Als der Lehrling die Wohnung verliess, warf er sein altes, selbstherrliches Lachen über die Schulter.
Als Suberg zurück ins Wohnzimmer kam, lag eine Zeitung auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa, es war eine frische Ausgabe der heutigen Zeitung. Er durchblätterte sie rasch, fand aber auf den ersten Blick nichts, er begann von vorne und mit genauerem Blick. Und da, auf dem Titel, fand er, wonach er suchte: Eine einspaltige, neunzeilige Meldung, worin sich der Verlag bei seinen Abonnenten dafür entschuldigte, dass die vorgestrige Zeitung «drucktechnische Mängel» aufgewiesen hätte. Man habe aus dem Vorfall gelernt und werde daraus Konsequenzen ziehen. Nun war die Verschwörung gegen Suberg offensichtlich; er war froh darum, denn nun waren alle Mittel erlaubt. Lächelnd dachte er an die tausenden Liter von Isopropyl-Alkohol, die im Keller der Druckerei in der Nähe der Papierrollen lagerten; herrliche Bilder der Zerstörung durchzuckten ihn. Das erste Mal seit Monaten fühlte Suberg eine tiefe Ruhe und Zufriedenheit.