Die Renaissance. Die Reformation. Die Ära des Individuums. Der Dreissigjährige Krieg. Ohne den Buchdruck hätte es diese Errungenschaften und Katastrophen nicht gegeben. Dass die Gutenberg-Revolution einen derart tiefgreifenden Umbruch auslöste, hat allerdings auch mit einem anderen, viel banaler – und eitler – wirkenden Objekt zu tun: dem Handspiegel.
Durch Fortschritte in der Glaserzeugung wurden ab dem 13. Jahrhundert kleine Wölbspiegel nach und nach auch für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich. Sie sorgten im Zusammenspiel mit den Ideen des Humanismus und der direkten Zugänglichkeit des Wortes Gottes in der Gutenberg-Bibel für Selbsterkenntnis, Individuation und die Emanzipation von den grossen Mächten. Bis dahin hatten die einen exklusiven Draht nach ganz oben. Jetzt bekamen es die Herrscher von Gottes Gnaden und die Kirche mit Untertanen zu tun, die sich selbst als Menschen erkannten und – das darf man mit Jacques Lacan annehmen – darüber verzückt waren. Die besondere Rolle des Handspiegels in diesem Prozess hat der Autor David Samuels im Januar 2019 in einem Beitrag für Wired beschrieben, und zwar unter der Überschrift «Is Big Tech Merging With Big Brother? Kinda Looks Like It.» Wie der Titel verrät, geht es Samuels dabei nur am Rande um frühneuzeitliche Spiegelkunde. Sein Text beschäftigt sich mit der Allianz zwischen den grossen IT-Konzernen mit ihrem unstillbaren Datenhunger und der Staatsmacht mit ihrem Drang, vorhandene technische Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Ihre liebsten Schlagworte sind «usability» und «Sicherheit». Die Folge ist Gewalt durch Kontrolle.
Samuels gibt eine Ahnung davon, wie der Umbruch zum Zeitalter der lückenlosen Überwachung bereits jetzt wirksam wird. Und er wirft dabei fast beiläufig eine Frage auf: Wenn das Zusammenspiel von Buchdruck und Handspiegel vor über 500 Jahren unsere Wahrnehmung der Welt und unser Leben derart veränderte, was passiert dann, wenn eine Milliarde Menschen Druckerpresse und Spiegel (und Telegraf und Mikrofon und Peilsender und Kamera und Bewegungssensor…) vereint in einem einzigen Device jederzeit in ihrer Hosentasche haben? «Die Informationsrevolution, die durch das Aufkommen digitaler Technologien angestossen wurde, könnte noch mächtiger wirken als die Gutenberg-Revolution», schreibt Samuels. Und fügt hinzu: «Wahrscheinlich wird sie blutig.»
Large Eyes: Make your eyes appear bigger
Super Retina HD Display; 5,8“ All‑Screen OLED Multi-Touch Display (14,7 cm Diagonale); HDR Display; 2436 x 1125 Pixel bei 458 ppi; Typisches Kontrastverhältnis: 1.000.000:1; True Tone Display; Display mit grossem Farbraum (P3); 3D Touch; Maximale typische Helligkeit: 625 cd/m²; Fettabweisende Beschichtung; Unterstützung für die Anzeige mehrerer Sprachen und Zeichen gleichzeitig.
Das ist ein Beispiel für die Feature-Poesie auf dem Handspiegel des 21. Jahrhunderts: die technischen Spezifikationen des Displays eines iPhone X. Es war mit 12,7 Millionen Einheiten das weltweit am häufigsten verkaufte Smartphone im 1. Quartal des Jahres 2018. Das Smartphone ist ein Designwunder. Nicht nur die verführerischen Bilder der Produktwerbung, auch der direkte Kontakt mit dem Objekt verstärken den Eindruck, dass man es hier mit dem Interface schlechthin zu tun hat: mit einer äusserlich bis zur Perfektion reduzierten Black Box, die zum Streicheln einlädt und mit genau dieser Liebkosung des Displays eine revolutionäre Mensch-Maschine-Schnittstelle geschaffen hat. Haptisch ist der Erstkontakt mindestens sinnlich, optisch wirken die Geräte wie Mehrfachspiegel. Schon in ausgeschaltetem Zustand sind Smartphones Reflektionswunder in glänzendem Schwarz, Silber oder Champagne Gold, die auch den Status ihrer Besitzerinnen schillern lassen. Eingeschaltet werden sie zum Spiegel der Welt und reflektieren wiederum die Userinnen samt ihrer Äusserlichkeiten, Vorlieben und Aktionen zurück an alle personellen sowie privatwirtschaftlichen und staatlichen algorithmischen Einheiten, die durch den Datenstrom miteinander verknüpft sind.
Wie einst der Handspiegel sind Displays heute Erkenntnisschnittstelle und Bestätigungsmaschine, sie sorgen für die Individuation im Bilderstrom des Immergleichen. Die Gewalt, die sie dabei ausüben, ist nicht offensichtlich. Dabei liegt sie gerade in dem, was man sieht. Hier ein Auszug aus den Spezifikationen der «TrueDepth Kamera» auf der Vorderseite des iPhone X:
7 Megapixel Kamera; Porträtmodus; Porträtlicht (Beta);
Animoji; 1080p HD Videoaufnahme; Retina Blitz; ƒ/2.2 Blende; Fotos und Live Photos mit grossem Farbraum; Körper- und Gesichts erkennung; Automatische Bildstabilisierung; Selbstauslöser. Zusatz: Face ID; Ermöglicht durch eine TrueDepth Kamera für Gesichtserkennung.
Spotlight: Adjust the brightness and location of the spotlight
Der digitale Spiegel ist ein Instrument zur Ausübung von Gewalt in ihrer feinsten und perfidesten Form. Jener Art von Gewalt, die man sich selbst antut – und es dabei noch nicht einmal merkt. Smartphones können mit dem Versprechen von immer noch mehr Usability ihre Nutzer*innen total erfassen. Identität, Standort, Kommunikationsdaten und -inhalte, Audiodaten, biometrische Daten. Es sind Interfaces der Kontrolle, der Disziplinierung, der Selbstzensur.
Zugang zu bestimmten sozialen Räumen oder Dienstleistungen gibt es längst nur mehr, wenn man ein bestimmtes Interface nutzt und sich darüber identifiziert. Die Instagram-Experience oder bestimmte Funktionen beim Online-Banking gibt es nur in Verbindung mit Smartphone und App. Es ist alles andere als unwahrscheinlich, dass auch sozialstaatliche Leistungen irgendwann an vergleichbare Bedingungen geknüpft werden. Wer sich ihnen verweigert, gibt mindestens Teilhabe auf, manchmal auch Rechte. Irgendwann folgen Sanktionen.
Die US-Soziologin Sandra Trappen spricht im Zusammenhang von Big Data und Überwachung von einem Sichtbarkeitszwang. Ihr Konzept überführt das Panoptikum aus Michel Foucaults Disziplinargesellschaft ins digitale Zeitalter. «Verordnete Sichtbarkeit ist der Preis, den wir bezahlen, um in der modernen Gesellschaft zu leben», schreibt Trappen. «Sie sorgt dafür, dass niemand aus der Reihe tanzt und dass die Individuen disziplinierte Körper und Subjekte bleiben.»
Wie gut das mit der Selbstdisziplinierung der Körper funktioniert, zeigt ein gespenstisches Detail in den Fotostreams der Selfie Culture. In ästhetischer Hinsicht kann es sogar als ihr Hauptmerkmal gelten: der quasi-hypnotisch immer haargenau neben die Kameralinse fokussierende Blick der Sich-Abselfenden. Sie schauen nicht den späteren Betrachter*innen ins Auge, sondern überprüfen ihr eigenes Abbild auf dem Display. Sitzt die Entenschnute richtig? Passt die Frisur? Sind unvorteilhafte Zonen kaschiert? Dieser Blick auf das Selbst ist geprägt von zahlreichen Normierungen – von Schönheitsstandards, Optimierungszwang, Angst vor Shaming –, man kann ihm kaum je genügen. Und der digitale Spiegel manipuliert dabei die Körper und ihre Wahrnehmung. So gibt es für das weitere Instant-Enhancement der Persönlichkeit ein breites Angebot an Filtern und Tools, etwa den «Beauty Modus» des Galaxy S8 von Samsung. (Einige Beauty-Modus-Features bilden die Zwischenüberschriften in diesem Text.)
Slim Face: Adjust the face shape and make your face appear slimmer
Noch markanter als die Kontrollhypnose-Selfies sind nur die Mirror Selfies. Sie zeigen Personen vor einem Spiegel beim Abselfen. Man sieht ihren Körper, das Smartphone in ihrer Hand, ihren Blick, der sich nicht etwa geradeaus auf die grosse Glasfläche ihnen gegenüber richtet, sondern auf das Device in ihrer Hand schielt. Die Verschiebung der Definitionsmacht vom alten zum neuen Spiegel ist auf diesen Selbstporträts vollendet.
Albrecht Dürer hätte das vermutlich gefallen. Er musste sein Selbst noch aus Einzelbildern zusammenstückeln, als er um das Jahr 1500 ein Ganzkörper-Selbstporträt als Akt zeichnete, mit für ihn ungewohnt expressivem Strich. Die grössten Dürer verfügbaren Spiegel dürften zu jener Zeit etwa 40 Zentimeter Durchmesser gehabt haben. Darin hätte sich der Renaissance-Maler nie komplett von seinem Haarnetz bis zu den Knien betrachten können. Vermutlich hat er das Selbstbild daher aus einzelnen, mit der Hilfe von Handspiegeln entstandenen Körperteilstudien komponiert.
Ein perfektes Selfie? Dürer hat über einen langen Zeitraum hinweg mehrere Porträts von sich angefertigt; sie stehen auch für das erstarkte Selbstbewusstsein des Künstlers in einer neuen Ära. Auf keinem anderen zeigt Dürer aber so viel von seinem Körper, auf keinem anderen ist er nackt. Er hat die Zeichnung zu Lebzeiten mit niemandem geteilt, sondern nur für sich behalten. Anders als der junge Mann aus dieser Überschrift des Time-Magazins: «Teenager Reportedly Tried to Kill Himself Because He Wasn’t Satisfied With the Quality of His Selfies.» Der kurze Artikel aus dem Jahr 2014 beruht auf einer Meldung aus dem englischen Daily Mirror. Ein 19-jähriger Brite unternahm einen Selbstmordversuch, berichtet der Text, da er es trotz täglicher stundenlanger Versuche nicht schaffte, «das perfekte Selfie» von sich zu schiessen. Das Time Magazin stellt darauf fest: «Psychologen haben begonnen, Selfie-Sucht als ein ernstes Problem psychischer Erkrankung zu betrachten.» Direkt unter der Überschrift findet sich auf der Time-Website das weisse F auf blauem Grund, mit dem die Selbstmordstory bequem im eigenen Feed gespiegelt und zum Liken freigegeben werden kann.
Skin Tone: Make your skin appear brighter and clearer
Es gibt Gegenmodelle, Display-befreite Zonen, zumindest in temporären Räumen. Der Berliner Technoclub Berghain ist nicht unbedingt als Hort digitaler Aktivistinnen bekannt. Aber es gibt dort nirgendwo Spiegel. Die Kameralinsen der Smartphones von Besucherinnen werden beim Einlass mit bunten, kreisrunden Etiketten abgeklebt, schön säuberlich, eine Etikette auf die Kamera vorne, eine Etikette auf die Kamera hinten. Erstes Gebot: Du sollst dir kein Bild von dir selbst machen. Zweites Gebot: Du sollst auch kein Bild von irgendjemand anderem machen und die Hallen des Exzesses nicht an die schnöden Bilderfeeds der Aussenwelt verraten.
Es gibt auch die Überzeugung, dass man den Spiess umdrehen und die Technologien der Überwachung als emanzipatorische Werkzeuge nutzen kann. Die «Sousveillance», ein von Steve Mann geprägter Begriff, bezeichnet die Umkehrung der Überwachung. Dabei wird mit denselben Mitteln dagegengehalten, nur eben «von unten» statt von oben. Bekannt wurden in den letzten Jahren vor allem Fälle, bei denen Polizeigewalt in den USA mit Handyaufnahmen dokumentiert wurde. Schon 1991 war der brutale Übergriff auf Rodney King in Los Angeles von einem Zeugen mit dessen Camcorder festgehalten worden. Nach dem Freispruch der vier beteiligten Polizeibeamten im April 1992 brachen in der Stadt tagelange Unruhen aus. Über 50 Menschen starben.
Der Digital-Universalgelehrte Piero Scaruffi hält nicht besonders viel von Sousveillance. Er glaubt, dass sich anstelle von Unter- oder Überwachung ohnehin längst eine Mischform durchgesetzt hat: die Coveillance, die gegenseitige Bespitzelung aller. Scaruffi stellt Porträt, Selfie und Surveillance in eine Entwicklungsreihe und spricht, wie Sandra Trappen mit Verweis auf Foucault, in unserer heutigen Gesellschaft von einem «voluntary panopticon». Die Überwachung wird kollektiv internalisiert, und sie passiert freiwillig.
Dafür braucht es auch nicht unbedingt spiegelnde Flächen und TrueDepth Kameras mit Face ID. Das quantifizierte Ich erfährt seine Selbsterkenntnis im Datenspiegel. Durch «self-tracking» werden die Körper und all ihre Aktivitäten konstant vermessen. Jüngere Smartphones haben eine entsprechende App standardmässig vorinstalliert und locken mit den üblichen Instant-Gratification-Bonbons. Ziel ist die immerwährende Optimierung des Selbst. Und die Krankenkasse freut sich auch über die Daten.
David Samuels Wired-Text über Big Tech, Big Data und Big Brother beginnt mit einer Anekdote aus dem Arbeitsalltag eines Freundes in Los Angeles. Dem war aufgefallen, dass eine Mitarbeiterin aus China jeden Morgen zu Fuss zur Arbeit marschierte. Er bot ihr bequemere und schnellere Alternativen an, sie lehnte ab. Sie müsse ihren Step-Count auf einem gewissen Niveau halten, sonst würde sie im Social-Credit-System der Volksrepublik entscheidende Punkte verlieren. Dieses System kann man sich vorstellen wie einen gigantischen, für 1,4 Milliarden Menschen gedachten Spiegel.