Eric Garner wurde im Juli 2014 auf einer Strasse in Staten Island von der Polizei ermordet. Dieser Strassenabschnitt an der Nordküste der Insel – urban, dicht besiedelt, die Hauptschlagader in einer hauptsächlich schwarzen und lateinamerikanischen Gemeinde – hat wenig Ähnlichkeit mit dem Rest von Staten Island. Tatsächlich wurde Staten Island, wie es heute in den Köpfen der meisten Menschen existiert – eine autodominierte Vorstadt mit Reihenhäusern, die von weissen Arbeiterschichten wie aus den «Sopranos» oder «Jersey Shore» bewohnt werden – in der Folge eines Exodus aus dem städtischen New York geboren.
Dieser Exodus wurde durch die Eröffnung der Verrazano-Narrows-Brücke und des Staten Island Expressway im Jahr 1964 ermöglicht. Beide versprachen, Staten Island endlich mit dem Rest der Stadt zu verbinden und die Tür für eine gross angelegte Entwicklung zu öffnen. Als sich nun die ländliche Mid-Island und South Shore des Bezirks von einem offenen Raum in eine Vorstadt verwandelten, verstärkten sich an der Nordküste industrielle Produktion und Umweltverschmutzung, wo die relativ wenigen farbigen Gemeinden von Staten Island ungleich zahlreich vertreten waren.
Einige AktivistInnen kämpften gegen die Pläne zur Bebauung der Freiflächen und errangen auch einige Siege gegen den New Yorker Baumeister Robert Moses. Doch sie konnten weder den Niedergang der Nordküste noch die Ausbreitung von Reihenhäusern im Süden stoppen. Sobald neue Häuser gebaut wurden, kamen neue BewohnerInnen nach Staten Island, meist Weisse aus Brooklyn, um sie zu füllen – und den städtischen Problemen und beengten Vierteln ihrer ehemaligen Nachbarschaft zu entfliehen. Die Entwicklungskämpfe in den 1960er und 1970er Jahren zementierten eine ethnische und politische Geographie, die auf Staten Island noch immer besteht. Sie ist unverzichtbar für das Verständnis der gegenwärtigen Entwicklungskämpfe, da Stadtviertel wie das von Eric Garner von Polizei überschwemmt und überwacht werden – und schliesslich einmal mehr Zielscheibe für Immobilienspekulanten und Stadtentwicklerinnen sind.
In den 1960er Jahren expandierte New York City weiter in seine Peripherie, um sowohl den Druck der Bevölkerungsdichte zu mindern als auch die industrielle Wirtschaft von den Bevölkerungszentren zu trennen und zu vergrössern. Staten Island hatte unbebaute Landstriche, die Möglichkeiten für Industrie- und Wohnungsbau boten. Die Verrazano-Narrows-Brücke, die 1964 eröffnet wurde, spielte bei dieser Expansion eine wichtige Rolle. Das Jahr 1964 bleibt ein Wendepunkt in der Geschichte der Insel, ein einzigartiges Ereignis, das eine Community von kleinen Städten, die durch Grünflächen verbunden waren, in die Postkarte einer weissen Fluchtvorstadt verwandelte.
Im Mittelpunkt dieser Umgestaltung stand ein System von Autobahnen, entworfen von Robert Moses, dem mächtigen Regionalplaner, der als der Bösewicht von Jane Jacobs’ Kampf zur Rettung von Greenwich Village und Washington Square Park in Erinnerung bleibt. Moses half nicht nur bei der Planung der Verrazano-Brücke, sondern baute auch den riesigen Staten Island Expressway, der die Insel an ihrer breitesten Stelle überquert und eine Betonlinie von der Brücke nach Brooklyn im Osten bis zur Goethals-Brücke über Elizabeth, New Jersey, im Westen verläuft. Der Expressway schuf eine Arterie für den Handelsverkehr und öffnete den Weg für Hafen- und Industrieanlagen an der Nord- und Westküste. Aber die Schnellstrasse fungierte auch als physische Barriere, welche die weiter entwickelte Nordküste vom Rest der Insel trennte, die weitgehend ländlich blieb: eine Mischung aus Feuchtgebieten, Urwald, winzigen Gemeinden und kleinen Familienbetrieben. In den frühen 1960er Jahren wurde die gesamte Nordküste für die industrielle Nutzung eingeteilt, während der Rest der Insel für den Wohnungsbau geöffnet wurde, als an den Strassen, die bis dahin nur imaginäre Linien auf den Stadtplänen darstellten, bereits Reihenhäuser zu spriessen begannen.
Zehntausende neuer BewohnerInnen strömten über die Brücke, um in die neuen Häuser zu ziehen, die sich fast so schnell verkauften, wie sie gebaut werden konnten. Der Traum von der Vorstadt gedieh auf Staten Island, auch wenn die Realität – unzureichende Sanitäranlagen, schlechte Infrastruktur in den Vierteln und überquellende Klärgruben – das Versprechen nicht einlöste. Moses stellte sich eine Stadt vor, die sich über mehrere Inseln erstreckt, aber durch grosse infrastrukturelle Eingriffe vereint ist: Brücken, Tunnel und Autobahnen, die eine Ära der Verbindung und Mobilität einläuten. Er wollte den Übergang des Bezirks von Bauernhof, Wald und Feuchtgebiet zu einer Schlafstadt vollenden. Er plante Parkanlagen, um neu errichtete Viertel mit den Brücken und Schnellstrassen zu verbinden, die er gerade gebaut hatte. Hätte sich Moses durchgesetzt, wäre die Insel von einer Handvoll Autobahnen durchzogen worden, die die Küstenlinien umrunden und quer durch das zentrale Hochland verlaufen würden.
Doch Ende der 1960er Jahre schien ein Sieg über Moses, der lange undenkbar war, endlich möglich. Moses’ Macht schwand, da der Bau von Strassen und die Bulldozer-lastige Stadterneuerung den New Yorkern nicht die versprochenen Vorteile gebracht hatten. Unterdessen formierte sich auf Staten Island eine Organisation namens SICPC (Staten Island Citizens Planning Committee), die sich überwiegend aus gebildeten, fortschrittlichen BürgerInnen der Nordküste zusammensetzte. Sie widersetzten sich dieser Entwicklung und verschrieben sich dem Naturschutz. Es gelang ihnen nie, eine breite Volksbasis aufzubauen, aber sie waren erfolgreich durch ihre organisatorischen Fähigkeiten, Allianzen mit Bezirks- und Stadtpolitikerinnen und ihr Geschick, die Hebel der städtischen Bürokratie zu manipulieren.
Ihr Kampf konzentrierte sich zunächst auf die Rettung des High Rock Park, eines Wald-Sommerlagers, das den Girl Scouts of America gehörte und fast im geographischen Zentrum der Insel liegt. Die Pfadfinderinnen hatten das Grundstück 1951 billig erworben, aber da die Preise während des Brückenbaus in die Höhe schnellten, planten sie, das Grundstück an einen Bauherrn von Gartenwohnungen zu verkaufen. Der SICPC verbündete sich mit der örtlichen Umweltanwältin Gretta Moulton und den Eltern der Pfadfinderinnen, um die Stadt davon zu überzeugen, den Verkauf zu stoppen, das Grundstück zu beschlagnahmen, den Bauherrn auszuzahlen und das Land als Stadtpark auszuweisen. Moses selbst spielte bei den Bemühungen eine wichtige Rolle; der Park schloss eine Vorfahrt für seinen geplanten Richmond Parkway ein, der die Insel von der Outerbridge Crossing im Südwesten bis zur Verrazano-Brücke im Nordosten diagonal überqueren sollte. Aber eine Strasse durch das Waldschutzgebiet war nicht, was die Aktivisten wollten. Durch geschickte Manipulation bürokratischer Prozesse, durch Public-Relations-Stunts wie öffentlichkeitswirksame Spaziergänge mit Politikerinnen, und mithilfe des Engagements des neuen Bürgermeisters John Lindsay für die Beteiligung der Öffentlichkeit am Planungsprozess gelang es den Umweltschützerinnen, den Bau des nördlichen Teils der Strasse (der südliche Teil war bereits gebaut worden) auf unbestimmte Zeit zu verzögern. In den 1970er Jahren war Moses dann raus, und der Bau der Autobahn nicht mehr möglich.
Bis 1984 wurde die Grünfläche offiziell als Parksystem ausgewiesen, der «Greenbelt» ist bis heute die grösste offene Fläche in New York City. Bald wird der Gürtel um die Hügel und Sumpfgebiete des Freshkills Park erweitert, der durch die Umgestaltung der einst grössten Mülldeponie in New York City entstanden ist. Letztendlich hat Robert Moses verloren und die Staten Islanders haben gewonnen. An diesen Kampf erinnert ein 260 Fuss hoher Haufen Serpentinit-Felsen, der aus dem Inselgestein herausgeschnitten wurde, um den Knotenpunkt zu bauen, an dem der Staten Island Expressway auf den Richmond Parkway treffen sollte. Als die Bauarbeiten eingestellt wurden, wurde der Haufen mit Erde bedeckt – so durfte er Teil des Grüngürtels werden. Die Bewohner nennen ihn scherzhaft Moses Mountain, um ihren Sieg über den Titanen zu feiern.
Wer sich an den Kampf um den Parkweg erinnert, kommt jedoch nicht umhin eine soziale Dynamik hervorzuheben, die von Misstrauen und Ressentiments gegenüber Aussenstehenden geprägt ist. Als sich diese Umweltschützerinnen gegen die Schnellstrasse versammelten, taten sie das auch, um ihre Verachtung für die billigen Reihenhäuser auszudrücken, die begonnen hatten, den südlichen Teil der Insel zu erobern. Sie teilten eine Vision der Insel als eine kleine Gemeinschaft mit ausgedehnten Gebieten wilden Hinterlands. Bis in die 1960er Jahre gab es unter den Staten-Inselbewohnenden eine alte Tradition von Allmenden – sie jagten, sammelten und fischten wild – was vielen half, in Wirtschaftskrisen durchzukommen. Naturschützer, die gegen die Autobahnen kämpften, wussten kaum von dieser populären Praxis. Stattdessen kämpften sie für ein «ewig wildes» Naturreservat, von dem sie hofften, dass es, zumindest für den zufälligen Beobachter, relativ frei von menschlichen Eingriffen bleiben würde. Dieses Ideal stand im Widerspruch zum Leben, wie es von vielen Bewohnenden von Staten Island geführt wurde: Sie betrachteten das wilde Land als öffentliche Ressource. Aber es widersprach sich noch mehr mit dem Leben der Neuen, die eine Gartenzaun-Vorstadt wollten. Am Ende konnten sich die Umweltschützerinnen auf einen Kompromiss mit den Politikern und den Bauträgerinnen einigen. Sie akzeptierten, dass im Austausch für die Erhaltung des «Grünen Gürtels» der Rest von Staten Island habgierigen Bauprojekten überlassen würde. Ein schmerzlicher Verlust für jene, die die Küstenfeuchtgebiete lange Zeit als Quelle für Fisch, Wild und essbare Pflanzen genutzt hatten.
Die Neuen, die in den 1960er Jahren nach Staten Island kamen, waren hauptsächlich Iren und Italo-Amerikaninner aus Brooklyn, die in der Verheissung des Bau- und Immobilienbooms eine Chance sahen, der Armut, der Gewalt und dem Chaos ihrer alten Viertel zu entkommen. Ihre Entscheidung herzuziehen wurde stark von Infrastrukturprojekten wie der Brücke und der Schnellstrasse beeinflusst. Diese ermöglichten, weiter in den Vierteln in Manhattan und Brooklyn zu arbeiten und enge Familienbeziehungen zu unterhalten. Während sie ihre Identität als Transplantate behielten (und die Inselbewohnenden aus der Zeit vor der Brücke an ihren Inselwurzeln festhielten), übten sie einen übermässigen Einfluss auf die lokale Politik aus. Die Identifikation mit der weissen Ethnie nahm zu, und andere demographische Gruppen, darunter Nachkommen früher britischer, holländischer und französischer hugenottischer Siedler, zogen sich in den Hintergrund zurück. Doch sowohl die neuen als auch die alten Inselbewohnenden fanden zusammen in einer Politik des kulturellen Konservatismus und der wirtschaftlichen Unterstützung für jeden Vorschlag, der versprach den Eigentumswert zu steigern. Sie alle verband der Wunsch, Staten Island von den sogenannten städtischen Problemen freizuhalten, die den Rest von New York City in den 70er und 80er Jahren plagten.
Nun steht Staten Island vor einer neuen Herausforderung: New York City sieht den Stadtteil wieder als einen Ort, in dem Land (relativ!) billig ist und eine Entwicklung mit hoher Dichte noch nicht stattgefunden hat. Die industriellen Wasserfronten von New York City wurden erneut neu eingeteilt, um eine hoch verdichtete Wohnbebauung zu ermöglichen. Während Robert Moses wollte, dass sich Staten Island in seine unbebauten Gebiete ausbreitet und die nördliche Wasserfront in eine Industriezone umwandelt, haben die zeitgenössischen Entwicklungsinteressen die Nordküste im Blick für eine neue Art der Expansion. Die Bauträger hoffen, diese Wasserfront in eine gentrifizierte Zone mit Luxuswohnungen und überteuerten Annehmlichkeiten zu verwandeln, wie sie es mit grossem Erfolg in Brooklyn und Long Island City getan haben. Die Nordküste ist dem Wohnbauboom der 50er und 60er Jahre weitgehend entgangen, da sich die Vorstadtbebauung auf die Südküste konzentrierte. Und weil diese neuen Häuser voll weisser Brooklyniten waren, konzentrierten sich die schwarzen, lateinamerikanischen und asiatischen Staten Island-Bewohnenden in den eher vergessenen North-Shore-Bezirken. Wie die Anthropologin Melissa Checker dokumentiert hat, stellen diese Bezirke wegen der Schwerindustrie am Wasser eine Gefahr für die menschliche Gesundheit dar. Diese Viertel sind jetzt Hauptziele für die städtische Revitalisierung, d.h. die Gentrifizierung.
Diese zwei Zyklen der Spekulation, der Vertreibung und des Baubooms haben viel gemeinsam. In beiden Fällen ebnete die Stadtpolitik den Weg für das Horten von Land und für Transaktionen, die Grossgrundbesitzer auf Kosten von Mieterinnen und Hauseigentümern belohnten. In beiden Fällen konzentriert sich die Entwicklung stark auf einen Teil von Staten Island, während die Bewohnenden in anderen Vierteln mit Besorgnis vom Rand aus zusahen. In beiden Fällen ist die Zielgruppe weiss und wohlhabend, ungeachtet der Tatsache, dass sie mit ihren kulturellen Vorlieben und ihrem ethnischen Hintergrund nicht zu den derzeitigen Inselbewohnenden passen. Obwohl es sich bei den für die Entwicklung von North Shore verantwortlichen Parteien in der Regel um grosse Unternehmen handelt, wird sich das Immobilieninteresse noch steigern, wenn die Werte der Häuser in North Shore steigen und die so genannte «Quality of Life»-Politik aufblüht. (So zum Beispiel die strikte Durchsetzung von Gesetzen gegen den Verkauf von einzelnen Zigaretten auf der Strasse, was die NYPD-Beamten erst dazu veranlasste, Eric Garner zu konfrontieren.) Seit den 1960er Jahren befindet sich das politische Zentrum der Insel südlich des Expressway. Selbst in seiner teilweisen Niederlage zementierte der Bau von Moses die soziale und ethnische Geographie des Bezirks. Wie auch immer ihre Gefühle zur Top-Down-Entwicklung im Allgemeinen sein mögen – es sind jene, die an der Südküste leben, (die meisten von ihnen selber aus Brooklyn oder deren Nachkommen), die jetzt gegen neue Einwanderungswellen protestieren, die Präsidentschaft von Donald Trump unterstützen und sich von New York City abspalten wollen. Als sie nach Staten Island kamen, zerstörten sie eine Art von Idylle. Nun interpretieren sie eine neue Welle der Urbanisierung und des demographischen Wandels als eine Bedrohung für ihre eigene. Sie wollen nicht, dass in ihrem Bezirk ein mondänes, dichtes Hafenviertel gebaut wird, und würden sich sofort widersetzen, wenn ein solches Programm auf ihre eigenen Viertel ausgeweitet werden sollte. Dennoch ist es überaus wahrscheinlich, dass sie, wie andere Bürgeraktivistinnen vor ihnen, den Wandel akzeptieren werden. Es sei denn, der New Yorker Wohnungsmarkt kühlt sich ab oder eine andere Koalition von Staten Islandern kann für einen umfassenderen Plan zur Erneuerung und Dekontaminierung der Nordküste mobilisieren. Schliesslich waren sie schon einmal Nutzniesser der Entwicklung – warum sollte es diesmal also anders sein?
Aus dem Englischen von Michelle Steinbeck