In 15 Jahren werden 90 Prozent aller täglich publizierten Online-News maschinell erstellt. So die These eines in Chicago ansässigen Softwareunternehmens, das seit 2010 den dafür verantwortlichen Cyborg Journalisten züchtet. Was klingt wie das Todesurteil für die schreibende Zunft, könnte sich zum Segen der gebeutelten Medienbranche entwickeln.
Die Vergabe des Pulitzerpreises 2028 ist bereits heute eine ausgemachte Sache. Die höchste Auszeichnung für überdurchschnittlich begabte Wortakrobaten wird an den dann 18-jährigen Quill vergeben werden. Ein Cyborg Reporter aus Chicago, der bereits als Teenager mehr journalistische Geschichten erzählt hat als Henri Nannen und Rudolf Augstein zusammen. Ein Wunderkind der schreibenden Zunft also? Keineswegs. Quill ist ein akribisch gezüchtetes Erzähl-Genie. Ein Retorten-Journalist mit den narrativen Fähigkeiten einer ganzen Publizistengeneration. Dabei basiert seine exquisite Wortakrobatik noch nicht einmal auf der Syntax einer handelsüblichen Weltsprache. Quill ist ein Computer-Algorithmus, der Geschichten durch die intelligente Kombination von Nullen und Einsen erzählt. Schizophren? Vielleicht. Aber schon heute Alltag in den Redaktionsbüros von Forbes und anderen US-Publikationen, die bisweilen unerkannt bleiben möchten.
Mehr Nischeninhalte
Der ideologische Vater Quills ist Kristian Hammond, Gründer und Technologie-Vorstand von «Narrative Science». Das Softwareunternehmen mit Hauptsitz in Chicago konstruierte 2010 den Geschichten erzählenden Algorithmus unter dem Decknamen «Quill» und erobert damit seither die Medienbranche. Dass der von ihm erfundene Service die schreibende Zunft bedroht, weist der Computerwissenschaftler aus Utah vehement zurück: «Maschinell erstellte Nachrichten kosten keinen Journalisten den Kopf. Unser Service wird vielmehr dazu führen, dass Nachrichten publiziert werden, über die bisweilen niemand berichtet.» Seine These untermauert Hammond mit einem Fallbeispiel aus der lokalen Sportpresse: «GameChanger», ein Nachrichtenportal zur Spielberichterstattung lokaler Base- und Basketballspiele, ist ein Service der ausschließlich auf Hammonds Algorithmus basiert. Die statistikschweren Berichte lokaler Spielpaarungen werden für den Rezipienten auf Knopfdruck in lesbare Prosa verwandelt. «Wie viele Journalisten kennen Sie, die ihren Lebensunterhalt mit der Sportberichterstattung im Amateurbereich verdienen?» Es geht Hammond vor allem darum, Inhalte für Nischen zu erschließen. Auch für Forbes ist künstliche, journalistische Intelligenz kein Grund zum Personalabbau. Vielmehr versucht man dort, aktuelle Finanznachrichten schneller und kleinteiliger an eine interessierte Zielgruppe zu distribuieren. Das erhöht die Reichweite und damit den Profit.
Roboter zur Unterstützung
In Zeiten, in denen Redaktionen aufgrund chronischer Unterbesetzung ihren Qualitätsanspruch wiederholt verfehlen, bieten intelligente Erzähl-Algorithmen einen Ausweg aus dem Dilemma. Wie Ben Welsh, Datenanalyst der Los Angeles Times, in seiner Präsentation auf dem Online Symposium 2012 in Texas ausführt, ist die Idee keineswegs neu. Redaktionen wie die der L.A. Times arbeiten seit Jahren mit kleinen Helferlein, die Welsh unter dem archaisch klingenden Begriff des «Computer Assisted Reporting» (zu Deutsch: Computergestützter Journalismus) zusammenfasst. Nicht ohne Stolz stellt der amerikanische Datenanalyst fest, dass die hausintern entwickelte Software der Westküsten-Gazette schon zweimal die weltweit schnellste Eilmeldung einbrachte. Der primäre Erfolgsfaktor in einer Industrie, die seit alters her auf Schnelligkeit getrimmt ist. Schließlich ist nichts älter als die News von gestern. Unter diesem Aspekt liefern Anbieter wie Narrative Science oder sein US-Wettbewerber Automated Insights eine Lösung für die gebeutelte Nachrichtenindustrie: ein Service zur Aufbereitung schneller, faktenorientierter News in einem Markt mit schrumpfenden Umsätzen. Folglich sind Services wie Quill keineswegs als Substitut für den Narrateur aus Fleisch und Blut zu werten, sondern vielmehr als unterstützendes Element in der zeitraubenden Recherche harter Fakten, ihrer Korrelation und logischen Schlussfolgerung. Das Ergebnis: höhere Nachrichtenaktualität und Effizienz.
Der Maschinenstil
Dass ein Computeralgorithmus Statistiken besser und schneller auswertet als sein menschliches Recherche-Pendant, leuchtet ein. Aber wie steht es um die Formulierungskünste des Roboter-Journalisten? Kurz gesagt: ziemlich gut. Warum? Services wie der von Narrative Science sind als lernende Systeme konstruiert. Im Klartext: Journalisten aus dem jeweiligen Fachbereich füttern den Roboter mit narrativem Basismaterial wie Redewendungen und häufig verwendeten Adjektiven. Auch die Tonalität kann gesteuert werden. Ob umgangssprachlich locker oder konservativ glatt – der Schreibstil wird je nach Branche und Kunde angepasst. Klingt paradiesisch in der Theorie, aber in der Praxis? Lewis DVorkin, Chief Product Officer bei Forbes, attestiert dem Algorithmus auch im Alltag Höchstnoten: «In nahezu jedem Fallbeispiel trifft der Schreibroboter den Nagel der Geschichte auf den Kopf. Ich erinnere mich bisweilen an keinen nennenswerten Ausreißer, nicht einen.» Und dennoch hat der Erzählroboter einen elementaren Nachteil: Er ist eine Maschine. Folglich fehlt dem künstlich gezüchteten Narrateur jegliches Gefühl, das ein handwerklich begabter Geschichtenerzähler aus Fleisch und Blut zwischen die Zeilen seiner Geschichte packt. Für Matt Waite, Journalistik Professor an der Universität von Nebraska, das zentrale Argument gegen maschinell erstellte Inhalte. «Was unterscheidet durchschnittliche Inhalte von brillant erzählten Geschichten? Menschlichkeit.» Die Seele des Journalismus liegt für Waite in der Emotion: Heuchelei, Gier oder Empörung – all das sind Attribute, die ein Algorithmus weder identifizieren noch interpretieren kann. «Genau deshalb gibt es keinen Grund, sich vor einem Erzählroboter zu fürchten», macht Waite seinen Kollegen Mut. «Im Gegenteil, wir sollten uns vielmehr seine Fähigkeiten zu Nutze machen. Roboter geben uns mehr Raum Mensch zu sein.» Für maschinell erstellte Inhalte ist außerdem eine tadellose Datenbasis unabdingbar. Eine Tatsache, die nicht in jedem journalistischen Fachbereich gleichermaßen gegeben ist. Allerdings könnten analytisch getriebene Branchen, wie beispielsweise der Finanzsektor, davon mittelfristig profitieren.
Robotertexte überall
Damit ist die Medienbranche nicht der einzige Industriezweig, der von computergestützten Schreib Maschinen wie «Quill» profitiert. Narrative Science Mitbegründer David Rosenblatt bringt die mittelfristige Entwicklung des Services so auf den Punkt: «Journalismus ist erst der Anfang. Die größere Spielwiese liefern Management Reports in der freien Wirtschaft.» Dass der ehemalige «DoubleClick» CEO damit nicht falsch liegt, beweist seine Kooperation mit einer bekannten Fastfood Kette. Monatlich erhobene Verkaufszahlen werden in kurzen Management Essays gebündelt und an regionale Franchisenehmer verteilt. So aufbereitet sind die Inhalte verständlicher und implizierte Schlussfolgerungen werden vom Management besser umgesetzt. Die Liste potenzieller Partner der Quill-Erfinder ist lang. Von der Pharmabranche über das Gesundheitswesen bis hin zur Bildungspolitik sieht Gründer Kristian Hammond weitreichende Potenziale. Im Bereich des Bildungswesens gibt es bereits erste Gehversuche in Kooperation mit ProPublica, einer Non-Profit-Nachrichtenredaktion in New York. Auf Basis vorhandener Statistiken zu Bildungsangebot, Durchfallquoten und ethnologischer Verteilung an US-amerikanischen High-Schools wurden über fünfzigtausend Einzelberichte angefertigt, die Eltern bei der Entscheidung der richtigen Bildungseinrichtung für ihre Kinder helfen sollen. «In 20 Jahren wird es keinen Bereich geben, in dem nicht maschinell erzeugte Geschichten erzählt werden», blickt Hammond optimistisch in die Zukunft. Ob wir uns auch in Deutschland dafür wappnen müssen? «Die Kerntechnologie unseres Services ist Sprachanalyse. Damit kann der Algorithmus grundsätzlich auf jede Sprache adaptiert werden», so Hammond. «Derzeit ist die Nachfrage außerhalb Amerikas aber noch sehr gering. Perspektivisch sehen wir allerdings andere Sprachen am Horizont.»