Mathilde war gerade zwölf, als ein Buch ihr Leben in neue Bahnen lenkte. Es war nicht die Bibel, nicht der Koran, nicht das Kapital und auch nicht «Die Kammer des Schreckens» – zweifelsohne alles Werke mit Einfluss auf Mathilde, aber an die Existenz von Gespenstern, Muggeln und Propheten hatte sie nie wirklich geglaubt. Dias waren an diesem Nachmittag zum Glück schon ausgestorben, doch Sonntage bei Verwandten waren nach wie vor Speerspitzen der Monotonie. Auch im 21. Jahrhundert.
Es war also ein langweiliger Sonntagnachmittag, jede Minute kam ihr mindestens doppelt so lange vor. Ein bisschen wie beim Zähneputzen, da dauerte es auch immer länger als man dachte. Mathilde lag mit verschränkten Armen auf einem Kanapee (so einem muffigen Sofa) und starrte auf die Tischuhr, die wie angewachsen in der Schrankwand stand. Ihrem Gefühl nach hätte sich der Minutenzeiger in der Zeit schon hundertmal bewegt haben sollen, bestimmt waren es aber nicht mehr als
zehn Bewegungen gewesen. Die Regalfächer der Schrankwand waren hauptsächlich mit Büchern gefüllt, Freiflächen wurden besonders geschmacklos mit Vasen (heute würde sie sagen: Keramiken) und kleinen Statuen (sprich: Statuetten) zugestellt. Mathildes Ästhetikbegriff war noch nicht sonderlich
geschult, jedoch konnte sie Kunst von Kitsch und Krempel trennen. Diese kleine Bibliothek war eine wunderbare Spielwiese für den bildungsbeflissenen Bürger, aber für Mathildes Kaliber fand sich hier wenig Interessantes. Beim letzten Besuch vor ein paar Wochen hatte Mathilde immerhin einen roten Kofferfernseher entdeckt, der sich in einer Zimmerecke versteckt hatte. Nachdem sie wahllos an den Knöpfen und Reglern gefummelt hatte, flimmerte das entfärbte, rauschende ARD-Programm übers gewölbte Glas.
Als Mathilde aber an jenem Nachmittag stundenlange Fernseh-Freuden erwartend in das Zimmer gekommen war, gab es gleich die Enttäuschung: Der rote Koffer war weg. Mit verschränkten Armen hatte sie sich aufs Kanapee gelegt und die Mundwinkel verzogen. Mathildes kleiner Bruder hatte es an diesem Nachmittag deutlich besser getroffen. Der war auf einem Geburtstag eingeladen und so der Langeweile entflohen.
Es dauerte noch eine halbe Stunde, dann nahm die körperliche Fadesse bei Mathilde endgültig überhand. Sie sprang auf; sie musste etwas machen. Sie ging zur Schrankwand und versuchte die Schubladen aufziehen. Allesamt verschlossen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, strich mit der Hand über die Vasen und Buchrücken. Ihre Fingerkuppen wurden staubig. Sie musste niesen. Wischte sich die Nase ab. Sie überflog die Autorennamen. Nie gehört. Was für eine nutzlose Bibliothek. Dann blieb sie mit dem Zeigefinger an einem Buchrücken hängen. Darauf war eine kleine Pyramide gestickt. Mathilde ruckelte ein wenig und zog das Buch ein Stückchen aus der Reihe.
Auf dem Umschlag waren eine goldene Pyramide und eine Taube abgebildet, auf der Rückseite ein Foto: Cedric D. Thompson, Historiker, Schriftsteller und argwöhnischer Schnauzbartträger. Eine braune Hornbrille zierte sein Gesicht. Ein richtig netter Onkel, dachte Mathilde. Nicht so wie Onkel Claus, der jetzt mit ihren Eltern unten in der Küche saß und über abwegige Themen wie Weltpolitik und Bausparverträge diskutierte. Mathilde nahm das Buch ganz aus dem Regal und setzte sich in die Ecke, in der vor ein paar Wochen noch der Fernseher gestanden hatte.
Auf dem Cover glänzte die Pyramide, in der Pyramide befand sich ein Stern, im Stern eine Taube, im Schnabel der Taube so ein Jesuskreuz.
«Die verlorene Wahrheit. Mythos der freien Welt und das Geheimnis der Macht.»
Das klang ganz stark nach Harry Potter. Mathilde blätterte bis zum ersten Kapitel und las geduldig die ersten Seiten. Das Ganze hatte weniger mit Magie zu tun als mit Rittern und irgendwelchen Adeligen, die irgendwelche anderen Adeligen beherrschten. Da gab’s den Karl Varnhagen von Hense, den Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, den soundso von dem Bussche, von Göchhausen, Eichendorff und so weiter. Es gab auch Franzosen mit noch absurderen Namen. Comte de Ferrand oder Jean de Vergier de Hauranne (Namen, die Mathilde erst viele Jahre später korrekt aussprechen konnte). So richtig war sich kein Reim auf die Geschichten zu machen, aber gerade deswegen machten sie Mathilde Spaß. Irgendwie geheimnisvoll. Mathilde merkte sich die Seitenzahl und kroch dann aus der Ecke. Die Tischuhr zeigte, dass sie fast eine Stunde in dem Buch geblättert hatte. Sie schob es unter ihren Pullover und lugte in den Flur. Bahn frei. Behutsam stieg sie die Treppe hinab und verstaute das Buch in ihrem rosa Rucksack. Onkel Claus hat das Buch nie vermisst.
Mathilde hat das Buch keinmal komplett von A bis Z gelesen. Meistens las sie es in kleinen, heimlichen Dosen, wenn sie sich sicher sein konnte, dass niemand zu Hause war. In der Zwischenzeit lagerte das Buch in einer Puzzlebox unter ihrem Bett. Später versteckte sie in der Box Geld und Zigaretten. Natürlich drehte sich das Buch nicht bloß um Freiherren und Herzöge, sondern auch um Erfinder, Präsidenten und Scharlatane (um Herzoginnen oder Präsidentinnen drehte es sich natürlich nicht). Grob gesagt ging es um die gesamte Menschheitsgeschichte. Eine Telenovela der letzten 2000 Jahre zwischen Revolution, Mordkomplott und Geldgier. Selbst nach mehrmaligen Lesen war das Geflecht von Illuminaten, Israeliten, Jesuiten, Jansenisten, Jakobiner, Juden, Johnson & Johnson nicht ganz zu durchschauen. Jesus war Jude und Goethe ein Illuminat. Oder so ähnlich.
Im dritten Jahr auf dem Lyzeum fiel Mathilde dann Walter Lubenskis «Weltbürgerrepublik» in die Hände. 600 Seiten stark, eine Gesamtdarstellung der abendländischen Geschichte (angereichert mit allerlei Zirkelschlüssen), geschrieben mit einer fast pathologischen Akribie. Im gleichen Jahr verfasste Mathilde einen Aufsatz über die grauen Herren in Michael Endes «Momo». Die Arbeit wurde mit fünfzehn Punkten benotet und von ihrem Lehrer kommentiert: «Liebe Mathilde, phantastische Darstellung, beim nächsten Mal achtest du bitte ein wenig auf den Antisemitismus ;)»
Nach Lubenskis Lektüre machte sich Mathilde weiter schlau und stieß dabei auf Rolf Niemann, Koryphäe der «Neuen Geschichtswissenschaften» (und Chimäre der Erkenntnis). Niemann plädiert für eine Neukonzeption des Mittelalters, indem er das siebte, achte und neunte Jahrhundert (nach Christus) als reine Erfindung entlarvt. Mathilde las das Buch in einem Monat drei Mal durch und begann jede der 1200 Fußnoten zu recherchieren. Im Geschichts-Abitur hätte sie gerne über Karl den Großen geschrieben, aber keines der angebotenen Themen passte. Karl der Große, Großvater der französischen und deutschen Nation, Taufpater der Europäischen Union. Was für eine infame, dreiste, nationalistische Lüge. Alles eine Erfindung von passabel intelligenten Autoren. Mathilde hätte sich noch weiter echauffiert, aber sie absolvierte ihr Abitur mit sehr guten Noten und der Schulstoff war schnell vergessen.
Im Studium (Englische Literatur und Orientalistik) kam sie mit Frederik zusammen, der selbst eine passable Niemann-Bibliothek besaß. Sie waren ein studentisch sehr engagiertes Paar, manche nannten sie universitäre Arschkriecher. Nach zwei Semestern trennten sie sich. Frederik hatte unter anderem behauptet, die Stadt Bielefeld sei nur eine «kommunikative Projektionsfläche und ein ontologisches Luftschloss der Bundesregierung zur
Hinterziehung von Steuergeldern». Bielefeld existiere nur auf der Landkarte. Mathildes Großmutter stammte aus Bielefeld, Frederik musste ein dummer Lügner oder geisteskrank sein. Nach der Trennung brach sie ihr erstes Studium ab und studierte anschließend Deutsch und Englisch auf Lehramt.
Vor einem Jahr dann saß sie in der Uni-Bib und wälzte Erstausgaben von Johanna Spyri, parallel tippte sie Anmerkungen in ihren Laptop, scrollte sich durch den Lebenslauf. Mathilde war total entkoffeiniert. Am Kaffeeautomaten hing ein Defekt-Schild. Sie ließ ihren Kopf auf die Tastatur sinken, einige Haarsträhnen blieben am Monitor hängen. Im selben Moment teilte jemand einen Online-Artikel im E-Mail-Verteiler der Deutsch-Fachschaft. «Konspirative Konspiration. Die Lüge hinter der Lüge». Es war eine schlecht geschriebene Polemik gegen AutorInnen wie Niemann & Co., die «materialgesättigte Quellenfiktionen» nutzten, um darauf ihre eigenen Fiktionen zu gründen. Dabei seien aktuelle AutorInnen bloß «Weiterführende einer tautologischen Literaturgeschichte». Sie seien Nutz-nießer der Kulturindustrie und Profitgeier vor dem Herrn. Sie imaginierten Intrigen und Allmachtsfantasien, um die Auflage zu steigern.
Ganz genau wie der der James-Bond-Bösewicht und Medienmogul Elliot Carver in «Tomorrow Never Dies», dachte Mathilde. Toller Spielfilm. Mathilde schloss den Artikel und klickte wieder auf den Tab mit dem Lebenslauf von Spyri. Interessant. Johanna Spyri war 1901 an einem Sonntagnachmittag verstorben.