Mitte Januar trafen sich in Davos einmal mehr die exklusivsten Hochkaräter aus Wirtschaft und Politik zum jährlichen World Economic Forum. Hoch oben auf der Agenda stand dabei wie so oft die rhetorische Frage nach Verantwortung – dieses Jahr spezifisch im Zusammenhang mit der zunehmenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Spaltung. Ebenfalls in Davos, allerdings vor 22 Jahren, sass der ehemalige Viehzüchter und Grateful Dead-Songtextschreiber John Perry Barlow in seinem Hotelzimmer und verfasste ein Manifest: Regierungen können – und dürfen – das Internet nicht regieren. «Der Cyberspace liegt nicht innerhalb eurer Grenzen. Glaubt nicht, dass ihr ihn erbauen könnt, wie wenn er ein öffentliches Bauvorhaben wäre. Es geht nicht. Es ist eine natürliche Entwicklung, die durch unser kollektives Handeln wächst». Barlow, einer der Gründer der «Electronic Frontier Foundation», einer Non-Profit Organisation, die sich für Rechte im Internet einsetzt, schrieb die «Declaration of the Independence of Cyberspace» am 8. Februar 1996. Es war der letzte Abend der Konferenz. Zuvor hatte er tagelang den planlosen Vertretern aus Wirtschaft und Politik zuhören müssen, wie diese das Internet zu verstehen und zu regulieren versuchen. Zusätzlich angefeuert war Barlow durch die Tatsache, dass Bill Clinton gerade dabei war, ein Gesetz zu verabschieden, dass Zensur im Internet ermöglichen sollte.
Das Internet war damals Inspiration für utopische Träume von unbegrenzten Bibliotheken und globaler Vernetztheit. Viele sahen in ihm ein aufstrebendes neues Medium, auf dem sich kleine Magazine, Blogger und selbstorganisierte Angebote frei tummeln würden. Die Informationstitanen des 20ten Jahrhunderts wiederum würden diesem dezentralisierten System Platz machen müssen. Es galt, den Einfluss des Staates in diese neue – zugegeben von ihm geschaffene – Infrastruktur gering zu halten. Heute, gut zwanzig Jahre nach der Entstehung des Manifests scheint dessen deregulierendes Gedankengut volljährig geworden zu sein. Während die bis anhin gekannte Liberalisierung 2007 in der Öffentlichkeit schamvoll eine Finanzkrise auszubaden hatte, wütete sie im Hinterzimmer der Technologiebranche bereits fröhlich weiter: Die Konsequenzen jenes beispielloses Deregulierungsbooms werden uns erst allmählich bewusst. An dem unabhängig, aber nahezu zeitgleich zum WEF 2018 stattfindenden World Web Forum wurde denn nun unter dem Motto «The End of Nations» mit zahlreichen Gästen aus der Tech-Elite in Klartext darüber diskutiert, wie Unternehmen das Korsett der Regulierung sprengen und global nach ihren eigenen Regeln wirtschaften können. Ihre These: Die Macht des Staates schwindet – erfolgreiche UnternehmerInnen definieren heute die Regeln selbst.
Wer ein Ticket für 1780.– Franken erworben hatte, durfte am 18. und 19. Januar an den Lippen «visionärer Manager und Erfinder» hängen. Als Partner will selbstverständlich niemand aussen vor bleiben: Von der Post bis zur Swiss Life über Tamedia zu Zürich Tourismus sind alle dabei. Scheinbar haben wir, zwanzig Jahre nach «Aufschwung beginnt im Kopf – Zuerst in Deinem» tatsächlich internalisiert, dass jede und jeder alleine für sein Wohl und Scheitern verantwortlich ist. Die Verheissungen der digitalen Dienstleistungen haben zu einer sonderbaren Allianz aus digitalen Nomaden, profitorientierten Unternehmen und politischen Mitläufern geführt. Die Möglichkeiten der digitalen Sharing Economy werden schliesslich zu Recht als Argument für ein alternatives Wirtschaftsmodell gepriesen. Dass mit der kommerziellen Vermietung von Apartments über Airbnb oder der schnellen Lieferung durch Notime-Kuriere jedoch bestehende Regulierungen durch die Hintertür ausgehebelt werden, wird vielen erst allmählich klar. Ebenso, dass diese beileibe nicht nach demokratischen Prinzipien funktionieren: Abgesehen davon, dass solche Unternehmen ihren ArbeiterInnen weder Schwangerschaftsurlaub, noch Pensionskasse oder Unfallversicherung bezahlen, sammeln sie Benutzer- Daten, wie es ihnen in die Geschäftbedingungen passt, optimieren Steuern nach ihren Wünschen und stellen sich am Ende mit grosszügigen Spenden an Stiftungen ihrer Wahl als philanthropische Wohltäter dar – eine Gnadenherrschaft wie im Mittelalter.
Einige haben sich sogar bereits so sehr an die neuen Realitäten gewöhnt, dass sie keinen Anlass zur Klage sehen. Forderungen von traditionellen Dienstleistern auf «gleich lange» Spiesse bei den Regulierungen entgegnete Eric Scheidegger, Chefbeamter des Staatsekretariats für Wirtschaft in einem Interview, dass neue Anbieter wie Uber oder Airbnb vielmehr beweisen, wie die alten Regulierungen in Frage gestellt sind und es vielmehr angebracht wäre, von «gleich kurzen Spiessen» zu sprechen.
Das Versprechen ist immer dasselbe: Die Wirtschaft sei viel innovativer als es der Staat jemals sein könnte. Einen Beleg dafür sieht das World Web Forum z.B. in der Tatsache, dass es mittlerweile mehr Nutzer bei Facebook als Einwohner von China gibt. Dass die neuen digitalen Zonen jedoch nicht wie behauptet eine «world without borders» darstellen, muss jedem und jeder spätestens klar werden beim Versuch, Inhalte auf Facebook, Pinterest, Linkedin etc. ohne Login anzusehen oder Daten auf eine andere Plattform zu migrieren. Die Grenzen werden dabei ziemlich schnell klar. Und ohne Regelung geht’s bei weitem auch hier nicht: So bestehen Airbnb’s Nutzungsbedingungen aus stolzen 94’000 Zeichen. Dagegen lesen sich die Grundrechte in der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft mit gut 10’000 Zeichen wie ein Comic. Und während die Grundrechte das Resultat einer gesellschaftlichen Verhandlung sind, werden die Allgemeinen Geschäftsbedinungen der Grosskonzerne einseitig durch die in ihrem Interesse handelnden Anwälte definiert.
Es wäre unfair, den frühen Verfechtern eines freien Internets diese Entwicklung anzulasten. Erstaunlich ist jedoch, wie die Sprache der heutigen Liberalisierungsliebhaber jener von früheren staatskritischen Bewegungen und Protestkulturen ähnelt. Die neue anarcho-libertäre digitale Elite ist voll von Phrasen und Worten wie «selbstorganisierend» oder «disruptiv», die sich wie Parolen der Anti-Thatcher-Bewegung von britischen Punks oder Agit-Prop-Sprüche der Zürcher 80er Unruhen anhören. Wie salonfähig die Staatsfeindlichkeit geworden ist, zeigt sich auch in der heuchlerischen Unverhohlenheit, mit der die Unterstützer der No-Billag-Initiative behaupten, dass ein Service Public auch von privater Seite erbracht werden könnte.
«There’s no such thing as society.» – Die grosse Dereguliererin Margaret Thatcher sagte es schon 1987: So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Also gibt es auch kein Solidaritätsprinzip. Es gibt nur Individuen, die für sich selbst schauen. Deregulierung verkauft sich gerne als Befreiung von den einschränkenden Regeln eines bevormundenden Staates. «Soll doch jeder selbst entscheiden dürfen, was er will!» Tatsächlich wird sich nach Überwindung von staatlicher Regulierung aber einfach das Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht und damit in vielen Fällen das Recht des Stärkeren durchsetzen.
Vielleicht entstehen aus den neuen digitalen Werkzeugen aber auch Möglichkeiten, sich aus der Abhängigkeit von zentralisierten Wirtschafts- und Produktionsverhältnissen zu lösen, ohne eine solidarische Gesellschaft aufgeben zu müssen? In dieser Fabrikzeitung werden nationale und internationale Prozesse und Mechanismen der Deregulierung und Liberalisierung beobachtet und in einen aktuell relevanten Bezug gestellt. Es geht um No-Billag und Bitcoins, um Tisa und Foodora, um Pop und ja: Utopien!