«Was wäre geschehen, wenn…?» Diese Frage wird gern als nutzlos abgetan. Trotzdem haben wir sie uns alle schon gestellt. Geschichte, die sich nicht ereignet hat, oder, anders formuliert, Vergangenheit, die nicht geschehen ist, beschäftigt uns. Was wäre geschehen, wenn ich mich in dieser oder jener Situation mehr angestrengt hätte? Wenn ich diese oder jene Person nie getroffen hätte? Wenn die anderen so reagiert hätten, wie ich es von ihnen erwartet hatte? Sich mit solchen Problemen zu beschäftigen kann in selbstquälerisches Grübeln ausarten. Es gehört aber grundsätzlich zur Bedingungsanalyse unserer eigenen Erfolge und Misserfolge, die wir ganz selbstverständlich immer wieder durchführen. Die Psychologie hat die Unfähigkeit, über «Was wäre geschehen, wenn…»-Fragen nachzudenken, als mangelhafte Funktion des Gehirns identifiziert.
Auf «Was wäre geschehen, wenn…?» -Fragen bauen Romane und Filme auf. Christian Krachts «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» beschreibt die Entwicklung einer Schweiz, die im Ersten Weltkrieg kommunistisch geworden ist. Christoph Ransmayrs «Morbus Kitahara» präsentiert eine alternative deutsche Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit deutlich aggressiveren Amerikanern. Düstere Geschichten um einen Sieg Hitlers, sei es Philip K. Dicks «Man in the High Castle», Robert Harris’ «Fatherland» oder Len Deightons «SS-GB» waren als Romane und Filme internationale Erfolge. Eine ganze Richtung in Mode und Design, Steampunk, fragt, wie Maschinen und Kleidung aussehen würden, wenn das 19. Jahrhundert seine Technikfantasien – etwa die von Jules Verne – hätte verwirklichen können. Laptop-Computer im Empirestil, Memorysticks aus Messing im Dampfmaschinendesign und Multifunktionszylinderhüte mit eingebautem Kompass und Teleskop stehen online und bei Szenetreffen zum Verkauf. Selbst in der Geschichtswissenschaft, der Hüterin des gesellschaftlichen Gedächtnisses, wird die «Was wäre geschehen, wenn…?»-Frage sehr ernsthaft diskutiert. Was wäre geschehen, wenn die Griechen die Perserkriege verloren hätten? Gäbe es dann kein Abendland mit freiheitlichen Traditionen? Was wäre geschehen, wenn Luther 1521 hingerichtet worden wäre? Wäre dann Zwingli der Begründer einer europäischen Reformation geworden? Was wäre geschehen, wenn das Frauenwahlrecht in der Schweiz schon 1959 eingeführt worden wäre? Hätte es dann in den 1960er Jahren andere Mehrheiten in der Bundesversammlung gegeben?
Kein Zweifel, die Spekulation über die Vergangenheit, die sich hätte ereignen können, sich aber nicht ereignet hat, ist ein riesiges Phänomen. Es wird als «Alternativgeschichte» oder etwas weniger sperrig mit dem Kunstwort «Uchronie» bezeichnet. So wie «Utopie», was mit «Nirgendwo-Ort» übersetzt werden könnte, ursprünglich einen fiktiven Ort beschreibt, so geht es bei «Uchronie», wörtlich «Niemalszeit», um fiktive Vergangenheiten.
Uchronie scheint ein typisches Phänomen der Postmoderne zu sein. Tatsächlich aber ist sie sehr alt. Auch wenn man ihr gegenüber stets skeptisch war, so begleitet sie doch die Geschichtswissenschaft seit ihren antiken Anfängen. Die Uchronien der Antike waren eine Form des Lobes für militärische Schlagkraft. Sie befassten sich mit staatlichen Einheiten ebenso wie mit Einzelpersonen. Herodot spekulierte schon über einen Krieg gegen die Perser, aus dem Athen sich heraushält. Livius liess in einem Gedankenspiel Alexander den Grossen Rom angreifen. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit dienten uchronische Gedankenspiele vor allem dazu, Gott als den Herren der Geschichte zu erweisen, die sinnvoll und regelhaft ist. Einen Höhepunkt uchronischer Argumentation entwickelten die Jesuiten im 16. Jahrhundert. Da Gott allwissend ist, kennt er auch die Zukunft. Wie verträgt sich das mit dem katholischen Glauben an die freie Selbstbestimmung des Menschen? Das Problem wurde mit Uchronie gelöst: Gott überblickt alle möglichen Entscheidungen des freien Willens jedes einzelnen Menschen und kennt alle sich daraus im Verlauf der Geschichte ergebenden Konsequenzen. Gott kann die «Was wäre geschehen, wenn…?»-Frage also immer beantworten. So kann er nicht nur die Zukunft – oder richtiger: alle möglichen Zukünfte – kennen. Er kann auch die Welt und die Geschichte nach seinem Plan lenken und dennoch den Menschen die Willensfreiheit lassen.
Als die Aufklärung die Uchronie in ihren Dienst nahm, verschob sich der Fokus: Im Zentrum stand der einzelne Mensch, der Geschichte «machte». Nun entwickelte die Uchronie ihr kritisches Potential: Sie hinterfragte die scheinbar selbstverständliche religiöse Grundlage Europas. Sie zeigte «Fehlentwicklungen» in der Geschichte auf und entwarf «bessere» Alternativen zum tatsächlichen historischen Verlauf. Schon 1791 erschien eine Alternativgeschichte, in der ein für die Aufklärung aufgeschlossener König Ludwig XVI. die gewaltsame Revolution in Frankreich verhindert und eine Republik durch friedliche Reform gründet. In Geschichtswissenschaft und Literatur war Uchronie früh mutig: Selbst radikale Veränderungen der gesamten Kultur wagte sie zu denken. Dazu gehört die Spekulation des englischen Historikers Gibbon, dass eine Niederlage der Franken gegen die muslimischen Invasoren bei der Schlacht von Tours und Poitiers 732 ein islamisches Europa zur Folge gehabt hätte. Gibbon schloss seine Argumentation mit einer Pointe, die seinen Zeitgenossen grotesk erschien: Wäre die Geschichte in dieser alternativen Bahn verlaufen, dann würden heute in Oxford muslimische Geistliche ausgebildet. Rasch entwickelte Uchronie aber auch ihr Potential als politische Pornografie: 1836 veröffentlichte ein Patenkind Napoleons, ein gewisser Louis Napoléon Geoffroy-Château, eine Geschichte, die Bonaparte nicht in Russland scheitern, sondern binnen weniger Jahre die ganze Welt erobern lässt. Der Abschluss der Karriere des Weltkaisers Napoleon war hier seine Heiligsprechung.
Mit der Neuordnung Europas und dem Ende der Monarchien in Mittel- und Osteuropa nach 1918 nahm das Interesse an historischen und literarischen Uchronien zu. In den politischen Suchbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg half Uchronie, sich neu zu orientieren und den eigenen Standpunkt zu bestimmten. Sowohl «linke» Autoren wie z.B. Kurt Tucholsky als auch rechte, wie z.B. Winston Churchill verfassten uchronische Texte. Bei Tucholsky überlebt die deutsche Monarchie irgendwie den Ersten Weltkrieg, was aber erst recht in die Katastrophe geführt hätte, da der Kronprinz einen Kaiser abgegeben hätte, der sogar noch unfähiger als Wilhelm II. gewesen wäre. Bei Churchill gewinnen die Südstaaten den amerikanischen Bürgerkrieg. Die Folge ist die Trennung der Konföderierten Staaten von Amerika von den Vereinigten Staaten von Amerika. Zünglein an der Waage im spannungsreichen Verhältnis der beiden feindlichen nordamerikanischen Brüder ist das britische Empire. Dessen Autorität und Bestand als Weltmacht bleiben damit garantiert. Unter Londons Führung können die drei englisch geprägten Nationen dann sogar den Ersten Weltkrieg verhindern. Der Ton der Uchronien der 20er und 30er Jahre war in der Regel nicht satirisch-heiter, sondern mahnend, sogar drohend. Dennoch fällt auf, dass viele der Uchronien der Zwischenkriegszeit die Tendenz hatten, den Ersten Weltkrieg irgendwie historisch unmöglich zu machen und aus der Geschichte zu streichen, oder aber seine Folgen abzumildern. Das allgegenwärtige Trauma des frühen 20. Jahrhunderts, der Grosse Krieg, sollte so uchronisch bewältigt werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu keiner weiteren uchronischen Welle. Das mag daran liegen, dass eine Neuordnung der Staatenwelt wie am Ende des Ersten Weltkriegs ausblieb. Durch den Triumph der Sowjets gewann der Marxismus, der tendenziell uchroniefeindlich ist, auch im Westen an Bedeutung. Die Ablehnung der Uchronie durch MarxistInnen rührt daher, dass nach einer orthodoxen Auslegung von Marx’ Theorien des Historischen Materialismus Geschichte bestimmten unwandelbaren Regeln folgt. Sie bewegt sich unaufhaltsam auf ein Ziel, nämlich auf den Sieg des Kommunismus und die klassenlose Gesellschaft zu. Über Alternativen zu spekulieren, ist schlimmer als sinnlos.
Man würde es sich aber zu leicht machen, wollte man die Zurückhaltung der Geschichtswissenschaft gegenüber der Uchronie bloss mit marxistischem Einfluss erklären. Dass Uchronie in der Geschichtswissenschaft auch heute noch gelegentlich auf Ablehnung stösst, hat mehrere Gründe. Bis in die 1960er Jahre wurden uchronische Gedankenspiele von allzu vielen HistorikerInnen selbst als Scherz und sinnfreies Fabulieren präsentiert. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde systematisch über Programm und Methodik der Uchronie nachgedacht, und erst jetzt wurde Uchronie in sinnvolle geschichtswissenschaftliche Fragestellungen eingebaut. Eine Vorreiterrolle spielte hier der US amerikanische Wirtschaftshistoriker Robert Fogel. Fogel legte sich die Frage vor, wie wichtig die Eisenbahn für die ökonomische Entwicklung der USA im 19. Jahrhundert gewesen war. Um diese Frage zu beantworten, konstruierte er ein riesiges, hochkomplexes uchronisches Szenario: Er beschrieb eine USA des 19. Jahrhunderts ohne Eisenbahn. Dazu rechnete er aus einer Unzahl von Statistiken die Leistungen der Eisenbahn heraus. Mehr noch: Er spekulierte über Alternativen zu Zügen, z.B. besser ausgebaute Wasserstrassen. Die Anerkennung für diese gigantische realistische Fantasie bliebt nicht aus: Als Fogel 1993 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft erhielt, begründete das Preiskomitee seine Entscheidung ausdrücklich mit Fogels uchronischer Methode.
Uchronie kann als besondere Methodik zur Klärung historischer Probleme eingesetzt werden. Die Voraussetzung dafür ist freilich, dass sie in eine klare geschichtswissenschaftliche Fragestellung integriert wird. «Was wäre, wenn…?» ist an sich keine wissenschaftliche Fragestellung. Man kann Uchronie aber verwenden, um historische Wirkungsgefüge zu analysieren. Dazu ist es notwendig, realistische, d.h. plausible Uchronien zu konstruieren. Plausible Uchronie greift so wenig wie möglich in die Geschichte ein. Sie ändert den einen Faktor, dessen Bedeutung es zu analysieren gilt, und entwirft davon ausgehend einen realistischen alternativen Verlauf, der alle anderen Faktoren unverändert lässt. Grösstes Interesse verdient eine Uchronie, die einen Punkt verändert, der in der realen Geschichte unsicher, von kurzfristigen Entscheidungen oder Zufällen bestimmt worden war. Würde es heute einen unabhängigen Schweizer Staat geben, wenn die schweizerischen Truppen am Abend vor der Schlacht von Sempach 1386 von einem Meteor getroffen worden wären? Das ist sicherlich keine realistische uchronische Frage, die für die Geschichtswissenschaft von Interesse ist. Hätte das NS Regime gestürzt werden können, wenn Stauffenbergs Bombe Hitler getötet hätte? Das ist eine realistische uchronische Frage, da der Diktator tatsächlich dem Attentat nur knapp entgangen ist. Diskutiert man hier die «Was wäre geschehen, wenn…?» Frage, dann lassen sich, je nachdem, wie man die Untersuchung schwerpunkten will, Erkenntnisse über die tatsächliche Stärke der VerschwörerInnen, die Bedeutung der Person des Diktators, die Machtbalance innerhalb der Diktatur usw. gewinnen. Hätte sich die Mehrheit der Wehrmachtsoffiziere selbst nach einem Tod Hitlers für Stauffenbergs Sache gewinnen lassen? Hätten nicht Göring oder Himmler Hitler ersetzen können? Oder wäre eine führerlose NSDAP wegen innerer Konflikte schnell zusammengebrochen? Die uchronische Diskussion trägt dazu bei, die wahre Bedeutung des Attentats richtig einzuschätzen.
Der Nutzen von richtig angewandter Uchronie ist unbestreitbar. Sie hilft, Ketten von Ursachen und Folgen besser zu verstehen. Uchronie kann historische Entscheidungsfindungsprozesse klären. Verantwortlich betriebene Uchronie kann ideologische Geschichtsklitterung kritisieren. Uchronie, die sich auch die ganz «grossen» Männer aus der Geschichte wegdenken kann, ermöglicht es, manchen historischen «Riesen» auf seine wahre Dimension zu schrumpfen. Uchronie zeigt, dass das Selbstverständliche und Notwendige vielleicht so selbstverständlich und alternativlos gar nicht war.