Musikgetriebene Ersatzhandlung: Unser Autor füllt den konzertfreien Sommer mit dem Aufnotieren von Erinnerungen. Der Weg führt von Montreux über den Lago Maggiore zu einem imaginären Super-Festival bis ins Epizentrum der primären Konzert-Sozialisation: die Aktionshalle. Eine Zeitreise zum Mithören.
Ich wollte eigentlich nur ein paar Zeilen schreiben, um meinem Gemüt etwas frische Luft zuzufächern. Um mir und diesem Sommer wenigstens gedanklich ein bisschen von dem zu schenken, was einen Sommer sonst für mich ausmacht: live inszenierte Musik. Will heissen: Ich hab mich heute hingesetzt, um mir ein kleines Bourbaki Panorama aus Erinnerungen zu kleistern.
Die ersten drei Anläufe klingen wie wenig kunstvolle Variationen eines Schulaufsatzes mit der Überschrift: «Mein schönstes Konzerterlebnis». Schwer zu sagen, ob mein Deutschlehrer Herr Schällibaum zumindest geschätzt hätte, dass ich auf dem Weg zur Klimax drei Erzählstränge entwickelte, da ich mich nicht zwischen Negu Gorriak (erstmals gesehen auf der Sommerbühne der Rote Fabrik irgendwann in den frühen Neunzigern), den Pet Shop Boys (erstmals gesehen 1991 im Hallenstadion, ich war 13, ging allein hin und staunte zweieinhalb Stunden) und dem alle Sinne ansprechenden japanischen Klangcollagisten Cornelius (erstmals gesehen 2004 in Montreux) entscheiden konnte. Als mir mitten in der Jonglage einfiel, dass mich das Konzert zu Commons Album «Be» (Montreux, mit dem Jahr bin ich unsicher) und Auftritte von Erykah Badu und den Roots gleichenorts mindestens so geprägt hatten, zwang ich mich die Mission abzubrechen, bzw. umzulenken.
Ich entschied mich, etwas über Montreux und die Stille zu schreiben, die sich dort statt des alljährlichen Jazz Festivals derzeit ausbreitet. Ich notierte meine Gedanken zu all dem, was Gründer Claude Nobs dort in jahrzehntelanger Lobbyarbeit an Mythos, Wohlklang und auch Volksfesttrubel initiiert hatte und landete auch dort wieder bei der Schule.
Im Musikzimmer, um genauer zu sein. Meine Erinnerungen bestehen aus einem Mitschüler, der die erste Stunde des Tages ausliess, zur zweiten mit einem farbigen Bändchen um das linke Handgelenk erschien und mit Stolz zum Lehrer sagte: «Ist etwas später geworden gestern. Wir waren in Montreux.» Der Musiklehrer akzeptierte das ohne grosses Aufheben. Sowas merkt man sich als freiheitsgeiler pubertierender Musiclover.
Drei Jahre später war ich dann endlich auch dort: Raggasonic, Double Pact, Bad im See, Parkbusse, Schlafsack, Weckdienst von der lokalen Polizei, leichtes Käterchen. Manches davon hat sich seither jedes Jahr wiederholt. Jedes Jahr, ausser dieses.
Es gibt inzwischen richtige Rituale: Den Sprung vom Schiffssteg in Territet zum Beispiel, den Weisswein auf der Terrasse des Hotel Victoria in Glion, den Abstecher zum Casino Pool. Und natürlich Konzert um Konzert. Immer unter der Prämisse: Hier ist jeder Auftritt etwas Einzigartiges. Man muss nur ganz fest dran glauben.
Die Erinnerungen an die musikalischen Höhepunkte der letzten 23 Jahre sind mehr als lebhaft: João Gilbertos Genuschel, Femi Kutis zweistündige Hommage an das menschliche Hinterteil, die unübertreffbare Zappelig- und Dringlichkeit der Band The Drums, die Bässe von James Blake, die das kriminell hässliche Kongressgebäude fast zum Einstürzen gebracht hätten, der Pathos von Lana del Rey, die Puppenhaftigkeit von Janelle Monae, die ausgewählten Worte von Cee Lo Green, das Desaster um Sixto Rodriguez. Jedes Jahr bot mindestens zwei, drei prägende Momente.
Und dann wollte ich selber prägen, wenn’s dieses Jahr sonst niemand tut. Ich stelle mir also ein Line Up zusammen. Zum Beispiel einen nigerianischen Allstar-Abend mit den Afrobeats-Künstlern Burna Boy, Wizkid, D’Banj, Tiwa Savage und Olamide, aufgelockert durch die junge Jamaikanerin Koffee. Oder einen Brüsseler Abend mit Damso, Roméo Elvis und Angèle. Und schon ab dem frühen Nachmittag würden sich in meiner Traumwelt auf der grossen Parkbühne Van Hunt, Anderson .Paak, Steve Lacy und Liniker e os Caramelos ablösen, während Randy Newman ganz ohne grosses Aufheben den kleinen Pavillon am See bespielt. Und irgendwie, irgendwo, irgendwann kämen dann alle nochmals zu einer gigantischen Jam Session zusammen.
Während ich all dies schreibe, sitze ich hoch über dem Lago Maggiore und schaue statt auf den See an eine Hauswand von Leuten, die zumindest finanziell mehr Glück gehabt haben im Leben. Sollen sie doch auf den See glotzen, ich glotze in Gedanken noch mal die Konzerte, die ich auf der Piazza Grande erlebt habe. In besonderer Erinnerung ist mir da allerdings eines geblieben, das an mir vorbeizog: der langersehnte Besuch von Stevie Wonder. Er bewies mir, dass auch der hohe Stellenwert, den Musik in meinem Leben einnimmt, zeitweise übertroffen werden kann. Deutschland verlor, und ich konnte mich einfach nicht auf die Bühne konzentrieren.
Richtig geprägt hat mein Leben aber nicht die Piazza, sondern die Rote Fabrik. Um zu verstehen, welcher Jugendkultur wir da eigentlich auf den Leim gekrochen sind, war dieser Ort entscheidend. Identitätsstiftend. Er war unser Mekka, und die Aktionshalle unsere Kaaba. Um Weihnachten 1993 betrat ich sie zum ersten Mal. Sens Unik waren in Zürich zu Gast und da mir ein älterer Freund ein paar Wochen vorher ihre erste EP und das Album «Les Portes du Temps» gegeben hatte, war ich Kenner, Fan, Eingeweihter, sofort süchtig nach mehr.
Aus irgendeinem elterntechnischen Grund verpasste ich einige Monate später das Konzert von A Tribe Called Quest. Vielleicht hatte ich auch einfach keinen Mumm zu fragen oder kein Taschengeld mehr – so genau weiss ich das nicht mehr. Ich weiss nur, dass mich kein anderes verpasstes Konzert mehr beschäftigt. Es wurmt mich bis heute.
Dafür erlebte ich The Fugees auf ihrer ersten Europatournee, als Vorgruppe von Das EFX und glühte danach für Monate vor Hip-Hop-Energie. Ich sah Method Man, Ol’ Dirty Bastard, GZA, OC und viele, die ich erst wieder aus dem Gedächtnis hervorkramen muss, denn es ist Jahrzehnte her. Alle paar Jahre wird die Erinnerung wachgerufen. Zuletzt etwa durch ein Konzert des New Yorker Rappers und DJs Edan im letzten Jahr, der in seiner Show zeigte, was man sich autodidaktisch alles anlernen kann und wie man mit dem Plattenspieler Geschichten erzählt. Ich glaube, es ging immer weniger darum, Lichtgestalten, Stars, oder grosse Namen zu sehen, als für ein, zwei Stunden von einer kreativen Energie eingenommen zu werden – Energie, die jeder in sich wecken kann. Und für jene kreative Energie war Wollishofen damals das Epizentrum.
Vielleicht würde ein Schulaufsatz zu diesem Thema drum so enden: Orte wie die Rote Fabrik waren mir mehr Schule als irgendwelche Gebäude an der Imbisbühlstrasse, an der Rämistrasse oder am Stadelhofen.