Stellen Sie sich vor, vor Ihnen auf dem Tisch oder auf Ihrem Schoss würde sich plötzlich ein Buch materialisieren. Es wäre ein etwa 70 Millimeter dünnes Taschenbuch mit elegantem, schwarzweissen Cover, das in einen grünen Schutzeinband eingeschlagen wäre und dessen Design auf einer einfachen, fetten Typografie basierte. Durch seine kontrastreiche Schlichtheit, finden Sie vielleicht, wirkt das Design ein wenig mid-centuryhaft. Und der Titel? Schwer zu sagen, denn das Buch wäre auf Arabisch. Schlügen Sie es auf und blätterten ein wenig darin herum, gäbe Ihnen nichts auch nur ansatzweise Aufschluss über Textgattung, Inhalt, geschweige denn Qualität des Werks. Ist es ein didaktisches Buch zum Thema Zahngesundheit? Unwahrscheinlich, denn in solchen Büchern gibt es ja in der Regel Abbildungen. Hier sind aber keine. Andererseits – wer weiss das schon? Vielleicht kommen arabische Bücher zur Zahngesundheit ja gänzlich ohne Abbildungen aus? Oder ist es vielleicht ein Lebensratgeber zum Thema «Erfolg in der IT-Branche»? Ein queerfeministisches Manifest? Selbst wenn ich Ihnen nun – als «Sachverständige» – sagen würde, dass es sich bei dem Buch um einen Erzählband mit urkomischen, teils bizarren Kurzgeschichten zu Themen wie Gentrifizierung in Berlin, Partydrogen, Sprache und Asyl handelt, bliebe das Buch für Sie erstmal eines mit sieben Siegeln. Eine Blackbox, nicht konsumierbar. Abgesehen von dem hohen Vermittlungsaufwand, den ich, wie Sie sich gewiss vorstellen können, jetzt auf mich nehmen müsste, um im Vorfeld Ihr Interesse für besagtes Buch zu wecken, wozu Sie mir und meinem Geschmack ja überhaupt erstmal vertrauen müssten, müsste ich Ihnen das Buch eigentlich komplett übersetzen, bevor Sie dazu eine Position beziehen könnten. Und an dieser Stelle möchte ich Sie zu einem weiteren Gedankenexperiment einladen:
Bei anderen Kunstformen, zum Beispiel in der Malerei, wäre das ja nicht so. Und das klassische Medium der Malerei ziehe ich deshalb als Beispiel heran, weil es sich aufgrund der Abwesenheit maschineller Prozesse sehr gut mit dem literarischen Übersetzen vergleichen lässt: Strich für Strich, Wort für Wort, werden in Kleinstarbeit Welten (nach-)erschaffen.
Es mag zum Beispiel sein, dass ich ein Gemälde überhaupt nicht verstehe, keinen Zugang dazu finde oder es vollkommen fehl deute. Aber sehen kann ich es immerhin. Nun andersherum: Hätte ich, die ich beispielsweise des Japanischen nicht mächtig bin, einen Roman auf Japanisch vor mir liegen, würde ich nur das physische Buch vor mir wahrnehmen, sein Inhalt wäre für mich undurchdringlich. (Vermutlich wäre ich mir nicht einmal sicher, ob es Japanisch ist.) Jetzt stelle man sich vor, nicht nur Bücher, sondern auch Gemälde müssten erst übersetzt werden, damit man sie ausserhalb eines Sprachraums wahrnehmen und konsumieren könnte. Um dieses Gedankenspiel weiterzuspielen, müsste es natürlich auch in der Malerei unterschiedliche Sprachräume und Sprachen geben. Also nicht nur so, wie es sie natürlich tatsächlich gibt, im Sinne unterschiedlicher Stile, Genres et cetera, sondern viel drastischer, wie bei geschriebener und gesprochener Sprache: Dann gäbe es Gemälde, die ein Grossteil der Menschen gar nicht sehen könnte, beziehungsweise von denen für sie nur die Bilderrahmen wahrnehmbar wären – genau wie Sie jetzt, des Arabischen nicht mächtig, nur das Objekt «Buch» vor sich liegen sehen. An dieser Schnittstelle kämen die Malereiübersetzer ins Spiel. Eine Malereiübersetzerin mit den entsprechenden Sprachkenntnissen wäre auf jeden Fall in der Lage, Bilder in beiden Malereisprachen zu sehen. Die Bilder, die für die der Sprache nicht Mächtigen unsichtbar wären, hätten vor ihrer Übersetzung etwas Geisterhaftes. Ihre Präsenz wäre beunruhigend, wie die unsichtbarer Wesen im Raum.

Wenn die Malereiübersetzerin ein Bild übersetzt, muss sie es komplett neu malen. Wichtig anzumerken ist hier, dass das, was sie tut, völlig anders wäre, als das, was ein Kunstfälscher tut. Sie könnte das Gemälde ja nicht einfach kopieren – bei allem technischen Geschick, das auch das Kopieren selbstverständlich erfordert – denn das Gemälde müsste ja in einer anderen Sprache ganz und gar neu gemalt werden! Das, was ein Kunstfälscher tut, wäre eher vergleichbar damit, eine mit der japanischen Originalausgabe identische Raubkopie des Buches zu erstellen, indem man jeden Satz händisch neu abtippt.
Bei der Gemäldeübersetzung gäbe es für die Malereiübersetzerin unzählige Entscheidungen zu fällen. Male ich nur die Konturen, sodass lediglich klar wird, welche Formen und Gegenstände zu sehen sind und lasse den Inhalt neutral und weiss? Oder soll ich alles ausmalen? Dann wird‘s kompliziert: Wie male ich es aus? Welchen Nachdruck, welches Tempo hat mein Pinselstrich? Verwende ich beispielsweise Neonfarben, um die Modernität zu unterstreichen, die das Bild in seinem (für den Betrachter der Zielsprache ja unsichtbaren) Originalkontext auch ohne Neonfarben hat, die aber bei wortwörtlicher Farbübertragung nicht «rüberkäme»? Oder ist es gar ein antikes Bild in einer veralteten Sprache? Suche ich dann nach alten Pigmentmischungen, wie man sie in unserer Sprache zu etwa jener Zeit benutzt haben könnte, und überstreiche es am Ende mit einer rissigen Patina? Und was ist mit den Figuren: Wie gehe ich beispielsweise mit einem sozialkritischen Bild um, auf dem Menschen zu sehen sind, die der Maler ganz subtil karikativ überzeichnet hat? Wie übertrage ich das in einen Kontext mit völlig anderen sozialen Trennlinien?
So. Jetzt wissen Sie mehr über die Tätigkeit, mit der eine Literaturübersetzerin ihr Einkommen bestreitet, in meinem Fall mit Übersetzungen aus dem Arabischen. Es ist fast schon ein Klischee, aber das wahrscheinlich Bemerkenswerteste am Literaturübersetzen ist der hohe Grad an kreativer Verantwortung und Urheberschaft, der sich für die Übersetzerin ergibt, gegenüber dem ebenfalls hohen Grad an Unsichtbarkeit. Vielleicht liegt der Hund schon in unserer Berufsbezeichnung begraben. Oft, finde ich, werden wir auf den technischen Teil unserer Tätigkeit reduziert, der Fokus liegt auf unserem
Werkzeug, den Fremdsprachenkenntnissen. Wir sind Literatur–Übersetzer. Da ist einmal die Literatur, der literarische Text. Der ist ja schon da, bevor wir ins Spiel kommen. Wir müssen ihn also nur noch übersetzen. Oder übertragen. Und was dieses Übertragen ist, scheint in den Augen Vieler in erster Linie wirklich etwas mit Transport zu tun zu haben – als wären wir
etwas ähnliches wie die Transportfirmen, die man beauftragt, um beispielsweise Bands auf Tourneen herumzufahren. Vielleicht kommt es daher, dass wir teilweise nicht einmal namentlich erwähnt werden. Dabei wäre das, was wir in Wirklichkeit tun, ja kaum denkbar, sagen wir etwa im Showbiz. Der Grad an kannibalistischer Einverleibung, wie wir sie mit literarischen Werken betreiben müssen, um unseren Job zu tun, wäre schlicht blasphemisch. (Christiane Quandt schrieb in «Verbotene Tiere», ihrer Kolumne auf tralalit, der Plattform für übersetzte Literatur, in Anlehnung an eine Übersetzungstheorie brasilianischer Avantgardisten der 1920er Jahre: «Die Übersetzerin wird also bei ihrer Arbeit zur Menschenfresserin».)

Nehmen wir beispielsweise Missy Elliott. Wir würden auf der Bühne stehen und die gesamte Choreografie nachspielen. Würden all ihre Moves und Texte in einer anderen Sprache neu erfinden müssen, und die Menschen in unserem Sprachland würden grösstenteils nur unsere Version kennen. Beim blossen Gedanken erröte ich vor Scham, und der Vergleich hinkt vorne und hinten, aber er verdeutlicht das aussersprachliche Spezialwissen, das bei literarischen Übersetzungen vonnöten ist: Style, Pose, Gestus, Kontext. I put my thang down, flip it and reverse it. Also, ich könnte nie und nimmer Missy Elliott übersetzen.
Aber nochmal, apropos Übertragen. Vielleicht ist es ja so: Je tiefer der Graben ist, über den ein Text getragen werden muss, desto mehr rückt das «eine Sprache überhaupt können» als Leistung in den Vordergrund – was für unseren Fame durchaus auch ein bisschen fatal ist. Bei vermeintlich «exotischen» Sprachen wie dem Arabischen wird die Schlucht als besonders tief und die Trageleistung als das eigentlich Schwere empfunden, während die literarische Arbeit am deutschen Text, die diesen für deutsche Lesende überhaupt zum Leseerlebnis macht, völlig in den Hintergrund rückt.

Es gibt aber einen Teil meines Arbeitsethos, der tatsächlich etwas Kunsthandwerklicheres hat, etwas Ordnendes. Dann kommt es mir vor, als würde ich mit der Summe meiner Übersetzungen an der Erstellung eines riesenhaften Wörterbuches mithelfen. Als würde ich unendlich viele Bezugspunkte im Raum miteinander verbinden. Mit diesem Gefühl stellt
sich eine Befriedigung ein, die der beim Stricken ähnelt: Masche für Masche bewegt man sich ein klitzekleines Stückchen näher auf ein unendlich fernes Grosses zu. Mit jedem arabischen Text, den ich gepitcht habe, jedem, den ich übersetze, schaffe ich tausende neuer Verknüpfungen und Bezüge in den Nervensystemen von Völkerverständigung und Sprache. Oft muss ich auch Fussnoten und Glossare erstellen, manchmal sogar Landkarten, was dem tröstenden Grössenwahn, immerhin eine Art Pionierin zu sein, zuspricht. Facebook kann da sehr hilfreich sein. Dort kann man die irrwitzigsten Threads eröffnen, um an die abwegigsten Informationen zu kommen, zum Beispiel, dass das «deutsche» Pendant zum in der Levante beliebten Kartenspiel «Trex» Bridge oder Skat wäre. Toll ist auch: Man kann von so gut wie überall aus arbeiten. Man kann sich zum Beispiel, um der durch laufende Waschmaschinen, spielende Kinder und telefonierende Partner verursachten Unruhe im Homeoffice zu entfliehen, mit dem Laptop in ein Café oder den 24/7 Dönerladen an der Ecke setzen. Für einen Platz in einem Gemeinschaftsbüro reicht das Einkommen nämlich eher nicht. Eine inoffizielle Umfrage, die ich eigens für diesen Text in einer Facebookgruppe gestartet hatte, in der sich die Crème de la Crème deutschsprachiger Literaturübersetzerinnen tummelt, bestätigte: Literarische Übersetzerinnen kommen, wohlgemerkt bei voller Auftragslage, selten über 20.000 Euro Jahresumsatz. So schrieb eine altgediente, mehrfach preisgekrönte Übersetzerin in einem Kommentar: «Ich habe 39 Jahre gearbeitet, 27 davon als Übersetzerin, und bin im Schnitt pro Jahr auf 12 – 15.000 Euro gekommen.»
Dabei scheint man bei vielen Kulturproduktionen nicht nur der letzte Posten in der Budgetplanung zu sein, sondern bleibt auch noch völlig unsichtbar – aber mit Unfehlbarkeitsanspruch. Wenn ich zum Beispiel Theaterstücke übersetze, suche ich nach Äquivalenten, lese mir die Szenen selbst laut vor, muss teils aufwändig Dinge recherchieren, gerade wenn mit Zitaten gearbeitet wird; ich übertrage Poetik, Situationskomik, Tonfälle, Stimmen, Slangs und versuche nebenbei das Ganze noch so kompakt zu halten, dass man es während einer Vorführung als Übertitel gut mitlesen kann. Den hohen Anspruch teile ich natürlich mit Publikum und Auftraggeberinnen: Die Übersetzung sollte so smooth sein, dass man am Ende den Eindruck hat, man lese einen Text im Original. Mein Teil der kreativen Arbeit soll sich sozusagen in seiner Perfektion auflösen. Was vollkommen verständlich ist. Was ich aber nicht verstehe, ist, wie eine so zentrale kreative Arbeit, an einem der Kernmaterialien eines Stücks, nämlich der Sprache, und ein so sensibler Prozess, nämlich deren Übertragung, dann doch im Vergleich so unwichtig ist, dass man zwar bei fremdsprachigen Theaterproduktionen die Namen von Kamera- und Videotechnikerinnen, Regieassistenz, Produktionskoordination und derer, die für Bühne und Kostüme verantwortlich sind, anführt, nicht aber
die der Übersetzerinnen. Ohne deren Arbeit man das Stück doch weder verstehen noch geniessen könnte! Ich bin es leid, die Theater jedes Mal darauf hinzuweisen.

Is it worth it? Bräuchte es vielleicht einen Literaturübersetzerinnenstreik? I put my thang down, flip it and reverse it. Ti esrever dna ti pilf nwod gnaht ym tup i. Ti esrever dna ti pilf nwod gnaht ym tup i.

Sandra Hetzl (*1980, www.sandrahetzl.com) studierte an der UdK Berlin Visual Culture Studies und übersetzt literarische Texte aus dem Arabischen, u.a. von Rasha Abbas, Mohammad Al Attar, Bushra al-Maktari, Aref Hamza, Kadhem Khanjar, Aboud Saeed, Assaf Alassaf und Raif Badawi und ist Gründerin des Literaturkollektivs 10/11 (teneleven.org) für zeitgenössische arabische Literatur. Sie lebt in Berlin.

4 Kommentare auf “Missy Elliott oder Gedankenspiele zum literarischen Übersetzen

  1. Karo sagt:

    Ein toller Text, herzlichen Dank dafür!

  2. Ulrike Moreno sagt:

    Eine wirklich großartige – und kenntnisreiche – Beschreibung unserer „Tätigkeit“ bzw. KUNST!!! Vielen Dank dafür.

  3. Sandra Hetzl sagt:

    Danke! Wie schön, dass ihn jemand gelesen hat!

  4. Yola Schmitz sagt:

    Herrlich! Vielen Dank für die pointierte Zusammenfassung dieses ewigen Dilemmas.

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