«Wehe» – Das neue, unregelmässig in der Fabrikzeitung stattfindende Format des Autorinnenkollektivs Rauf. Dieser zweite Beitrag der Autorin und Erfinderin des Literaturdiensts ist die zauberhafte Geschichte eines entfremdeten Frauenkörpers – und jene zweier Freundinnen, die ihn sich wieder zu eigen machen.
Man sagte ihr, so erzählte sie mir, sie habe einen Glockenkörper. Glockenkörper, wiederholte ich. Glockenkörper, sagte sie, man habe sie auch wissen lassen, dass das nicht die schlimmste aller Körperformen sei. Es gebe noch ganz andere. Schlimmere Frauenkörperformen. Es gäbe die Tropfenform, da sei sie nicht, aber, so sagte man ihr, aufpassen müsse sie, nicht dort hin zu kommen. Es gäbe auch unerreichbare Körperformen für sie, zum Beispiel eine Blüte werde sie nie. Nicht mehr, habe man ihr gesagt, da sei sie schon zu weit, aber man könne seine Ziele doch nie genug hoch stecken. Die Flamme, sagte man ihr, erzählte sie mir, das könnte ein Ziel sein für sie. Da käme sie hin mit Disziplin, sagte man ihr mit einem Augenzwinkern. Man könne es versuchen, man solle nichts unversucht lassen, die Schönheit zurück zu gewinnen. Es sei ihre Entscheidung und ihr Körper, schlussendlich, so sagte man ihr, sei es ihre Schönheit.
Sie habe, so erzählte sie mir, nach Ein und Ausgängen ihres Körpers gesucht. Sie habe erfassen wollen, ob das Innere und das Äussere ihres Körpers in irgendeinem sichtbaren Zusammenhang stünden. Sie habe versucht, die Oberfläche nicht zu verletzen, aber manchmal sei das nicht leicht. Sagte meine Freundin zu mir.
Und sie sei innen grün, sagte sie dann, das habe sie sofort erkannt. Und beim Schliessen des Körpers habe sie etwas vom Inneren verloren und etwas eingeschlossen, was dort nicht hingehören kann. So komme es ihr vor, sagte sie. Der Körper habe gemurmelt, sagte sie. Sie habe da innen in ihm nichts zu suchen, habe sie ihn murmeln gehört, sie gehörten nicht zusammen, sie und ihr Körper. Das sei ein grosses Missverständnis, sagte sie, habe ihr Körper zu ihr gesagt.
Manchmal schaue sie, sagte meine Freundin, den Bäumen entlang. Die Bäume, deren Haut so grob sei, sie würde die Bäume bemitleiden, so erzählte sie mir, für deren Haut.
Und auch die Schweine. Und sie sei froh, dass sie keine Körperbehaarung mehr habe, dass sei eine grosse Erleichterung. Das schaffe ihr Unabhängigkeit.
Meine Freundin sagte weiter, dass sie das Lachen aufgegeben habe, denn für sie habe Lachen selten etwas mit Freude zu tun, geschweige denn mit Glück. Es schaffe nur unglaubliche Unruhe im Gesicht. Man habe ihr gesagt, so sagte sie mir, dass in ihrem Alter die Unruhe das Gesicht nie mehr ganz verlässt. Die würde bleiben und dann erstarren und dann habe man ein versteinertes Gesicht. Ein Gesicht mit Baumhaut, ein Gesicht mit Steinbruchoberfläche und ein Gesicht, in das man nicht gerne schaut. Aber, habe man zu ihr gesagt, sagte die Freundin, sie habe die Wahl, sie könne das Lachen reduzieren, sie könne etwas aus sich machen und viel von sich bewahren, aber sie müsse das auch wollen, es sei sie, die das bestimme, ohne sie ginge das nicht. Es sei ihre Schönheit, so sagte man ihr.
Und weiter erzählte meine Freundin mir von einem Traum, den sie wöchentlich habe. Meist an den Dienstagen. Was das wohl bedeuten könne, fragte sie mich. Was den passiere in den Träumen, fragte ich sie. Heidi Klum sei in ihrem Traum wahnsinnig glücklich, sagte sie. Und sie könne sich nicht vorstellen, sagte sie, was Heidi Klums Glück mit ihr zu tun haben kann. Und wie sie sich denn fühle in ihrem Traum, fragte ich meine Freundin. Das spiele keine Rolle, sagte diese, es ginge ja um Heidi und nicht um sie, um Heidis Glück.
Sie meide ab sofort das Neonlicht, sagte sie mir, und das Licht um uns war sehr weich, es war so weich, dass es eigentlich nicht mehr vollkommen von uns zu unterscheiden war. Wir waren Licht und das Licht war Wir, so sagte es meine Freundin und sie meinte auch, das gehe gut, damit könne man umgehen. Es sei dieser Mann gewesen, sagte sie.
Welcher Mann, fragte ich. Der Mann, der damals zu ihr gesagt habe, es gäbe eine Statistik darüber, dass Frauen in der Dämmerung am stärksten Glück empfinden würden. Das Licht habe ja auch etwas Schmeichelhaftes, habe der Mann zu ihr gesagt und über seine eigene Feingeistigkeit lachen müssen. So feingeistig, habe sie dann zu ihm gesagt, fände sie das nicht, es sei viel mehr eine Frechheit und zeichne ihn als sehr stumpfsinnigen Menschen aus.
Es sei doch wahnsinnig, sagte sie dann noch zu mir, dass sie aber trotzdem danach handle, das sei faszinierend.
Oder erschreckend, sagte ich. Ja, das auch, sagte meine Freundin und betrachtete uns in der Fensterscheibe. Sie drehte ihr Gesicht zur Seite. Das ist die Schönere.
Und hinter uns in der Scheibe gab es Teile einer Stadt zu sehen, die überirdischen Leitungen, die Hydranten, die Dächer, die Betonsiedlungen, die Balkone, daran Wimpel oder Windräder steckten in der Erde der Pflanzenkisten.
Und sie sagte, diese, ihre linke Seite sei die Schönere.
Und dass sie das wirklich beschäftige mit Heidis Glück in ihrem Traum.
Man habe ihr geraten, sagte sie, die Plakate in der Stadt mir einer gewissen Distanz zu betrachten. Diese Frauen hätten nicht viel mit ihr zu tun. Trotz allem sei es nie schlecht, das eigene Ziel hoch zu stecken. Nicht nachlässig zu werden. Weiter sich für das einsetzen, was man erreichen will.
Linsen, sagte man ihr, so sagte sie, erweitern den Horizont und machen ein Gefühl von Wasser im Körper. Leinsamen, sagte man ihr, so sagte sie, seien gut für die sexuelle Ausstrahlung und die Verdauung. Wasser, so sagte man ihr, so sagte sie, sei man ja sowieso und man vermehre mit Wasser das eigene Ich. Blüten, sagte man ihr, so sagte sie, würden die Räume schmücken und so auch den Körper, der die Blüten in die Räume trägt. Es liege in ihrer Hand, es sei ihre Schönheit, so sagte man ihr.
Was sie denn erreichen wolle, fragte ich meine Freundin.
Sie schaue jeden Tag aus dem Dachfenster. Seit 30 Jahren schaue sie jeden Tag aus diesem Dachfenster des Hauses ihrer Eltern auf den grossen Platz vor der Kirche. Dort hinge seit 30 Jahren diese Frau, riesengross und in wahnsinnig schwarzer Unterwäsche. Sie habe immer gedacht, dass sie das sei, wenn sie gross sei, dass sie so werde, wie diese Frau. Sie wisse nicht, wie sie darauf hatte kommen können, aber weil sie nie mit jemandem darüber geredet hatte, habe sie auch nie jemand vom Gegenteil überzeugen können. Sie habe jeden Tag in den Spiegel geschaut und ihre Lippen gesehen, ihre Finger, ihre Haut. Und sie habe viel mehr immer mehr wie ihr Vater ausgesehen, das hätten auch alle rundherum bestätigt, indem sie es wiederholt ausgerufen hätten. Wie der Vater, hätten sie gerufen.
Und sie habe das nicht glauben wollen, noch können, sagte meine Freundin, denn es sei doch klar gewesen, dass sie einmal aussehen würde wie diese Frau in der wahnsinnig schwarzen Unterwäsche. Sie habe sich Mühe gegeben so auszusehen, wie die Frau in der wahnsinnig schwarzen Unterwäsche.
Und sie liebe die Taube, einfach so, sagte meine Freundin. Und sie liebe die Schlange ihrer Haut wegen. Der Glanz der Schlange, sagte sie und machte dazu eine Schlangenbewegung mit dem Körper.
Sie selber sei eine Löwin, sagte sie mir und brüllte lange an die Scheibe, vor der wir standen und vor uns die Stadt und hinter uns das Licht aus Wolle. Und sie müsse über Brücken gehen, rief sie aus, dass sie fliegen müsse, sagte sie und dann wurde es sofort stiller um uns.
Ich solle sie ansehen, noch einmal ansehen, sagte sie zu mir und sie zog sich aus, stellte sich vor mich hin. Ich solle genau schauen, da stimme doch etwas nicht, sagte sie zu mir, das sei nicht ein Körper einer Frau. Sie wisse, dass sie sich schön finden müsste. Sie könne aber nicht, sie sei einfach nicht stark genug dafür.
Meine Freundin bat mich ein Bild von ihr zu machen und nun laufe ich durch die Stadt und klebe über all die Frauen in wahnsinnig schwarzer Unterwäsche ein Bild von ihr.