Franz Liszt und die Gräfin Marie d’Agoult am Walensee.
Als ich vor vielen Jahren eine längere Konzerteinführung zu einem abendfüllenden Klavierwerk von Franz Liszt (1811–1886) zu schreiben hatte, musste ich mir eingestehen, dass mein Wissen über diesen Komponisten nicht ausreichen würde, um der Aufgabe, die sich mir stellte, gerecht zu werden. Da es anmassend gewesen wäre, aus nur bruchstückhaften Kenntnissen eine Meinung über seine Musik und seine Person abzuleiten, fasste ich damals den hehren Entschluss, mich erst einmal eingehend mit dem Leben und Werk dieses Stars der Klassikwelt zu beschäftigen. Ich wollte die Gunst der Stunde nutzen, um meine doch erheblichen Wissenslücken zu stopfen – handelte es sich ja immerhin um einen sogenannten Klassiker, und von diesem Wissen, so sagte ich mir, liesse sich ein Leben lang zehren.
Von den zahlreichen neueren Biographien, die über Liszt vorlagen, wählte ich eine halbwegs ausführliche (es musste ja schnell gehen) und vertiefte mich in die Darstellung dieses Jahrhundertmusikers, um hinter den geschriebenen Musiknoten, der Partitur, die ich vor mir liegen hatte, den Menschen parat zu haben, sollte es denn darauf ankommen.
Während ich nach der Lektüre von den vielen Arbeiten des Komponisten eine klarere Vorstellung hatte, insbesondere von der fingerbrecherisch-schwierigen Klaviertranskription der Neunten Sinfonie Beethovens, über welche ich zu schreiben hatte, schien mir Liszts Biographie wie nicht von dieser Welt, sein Wesen ephemer, nicht greifbar, ein Zuviel an Ereignissen jenseits der Norm, ein ständiges Ineinandergreifen von Dichtung und Wahrheit.
Schon früh wurde Liszt zur lebenden Legende. Sein Wunderkind-Status öffnete ihm Tür und Tor. Viele, die damals in Europa etwas auf sich hielten, umwarben, empfingen und feierten ihn. Als Pianist, dem die Welt scheinbar zu Füssen lag, war er eine Attraktion, ein monstre sacré, als Kosmopolit nirgends und überall zu Hause. Den Sinnesfreuden nicht abgeneigt, lebte er ein Leben voller Widersprüche, sein anziehendes Äusseres und seine vielen Talente wurden ihm nicht selten zum Verhängnis. Ein Hang zur Selbstdarstellung und Exzentrik kam hinzu. Liszt war in allen Belangen ein Mann des Fortschritts, stets offen gegenüber den Zeichen seiner Zeit, aber, so sein Dilemma, auch tief gläubig. Gedanken, dem Irdischen zu entsagen, eines Tages gar einem Kloster beizutreten, waren ihm nicht fremd, ausgerechnet Liszt, der ein Leben in der Öffentlichkeit führte und dieses zuweilen auch in vollen Zügen genoss. Vielleicht aber auch genau deswegen. Mit 53 Jahren ging er nach Rom, empfing die niederen Weihen, trug den Titel «Abbé» und liess sich in klerikalen Kleidern ablichten, freilich im Bewusstsein, kein Keuschheitsgelübde abgelegt zu haben.
Aber da war noch etwas in dieser so rätselhaften Biographie Liszts, die mich bis heute immer wieder staunen macht: die unglaubliche Liebesgeschichte mit Marie d’Agoult (1805–1876), einer Gräfin aus Paris. Sie, dem Hochadel angehörig, verheiratet und Mutter zweier Kinder, bewegte sich kraft ihrer Herkunft und ihres Vermögens in den allerhöchsten Kreisen Frankreichs. Sie führte einen Salon, wo sie den tonangebenden Künstlern, Politikern und Gelehrten ihrer Zeit eine Plattform gab, und war ihrerseits schriftstellerisch tätig. Wohl musste ihr Vater nach der Revolution von 1789 aus Frankreich fliehen, und einige im Umfeld ihrer Familie starben im Zuge der Schrec-kensherrschaft 1793 auf dem Schafott, aber die Restauration und die Rückkehr der Bourbonen auf den Thron ermöglichten es dem ehemals geschmähten Adel, aus dem Exil nach Frankreich zurückzukehren, um daselbst das unbeschwerte Leben fortzuführen, an das sie sich einst gewöhnt hatten, so, als wäre nichts geschehen.
Marie d’Agoults Heirat aber, eine Standesehe und nach allen Regeln der Kunst arrangiert – selbst König Karl X. empfing sie an seinem Hofe – stürzte sie, die scheinbar alles Glück der Welt besass, in eine regelrechte Verzweiflung, war es doch keine wirkliche Liebe. In diesem Gemütszustand, den sie nach aussen gekonnt zu verbergen wusste, begegnete sie Liszt, der sich seit 1823 in Paris aufhielt, unter anderem in besagten Salons, wo er öfters gespielt hat. Ihr schicksalhaftes erstes Aufeinandertreffen hat sie in ihren Memoiren festgehalten:
«Es war gegen das Ende des dritten Jahres nach der Revolution von 1830. In den Künsten und in der Literatur hatte eine starke Bewegung eingesetzt. Zahlreiche Talente kamen auf. Unter diesen verschiedenen Talenten, Dichtern, Schriftstellern und Künstlern strahlte in der Sphäre der Musik ein wunderbarer Geist, der schon als Kind, sagte man, dem jungen Mozart gleichgekommen war. Als ich gegen 10 Uhr in den Salon trat [Salon der Marquise L.V.], war schon alles versammelt, als sich die Tür öffnete, und eine seltsame Erscheinung sich meinen Augen darbot. Ich sage Erscheinung, denn ein anderes Wort würde die ausserordentliche Gemütsbewegung nicht wieder-geben, die mir der ungewöhnlichste Mensch, den ich jemals gesehen, verursachte. Hochgewachsen und überschlank, ein bleiches Antlitz, mit grossen meergrünen Augen, in denen plötzlich Lichter aufblitzen konnten; leidende und doch gebietende Züge, unsicherer Gang, der mehr dahinglitt als schritt; zerstreute, unruhige Miene, wie die eines Phantoms, das jeden Augenblick in die Finsternis abgerufen werden kann: das war der Eindruck von dem jungen Genie, das vor mir stand und dessen geheimnisvolles Leben ebenso lebhafte Neugier erweckte, wie seine Triumphe vor kurzem noch Neid erregt hatten. Franz [sic] liess sich mir vorstellen, setzte sich neben mich und begann mit kühner Anmut, als kenne er mich schon lange, vertraulich mit mir zu plaudern. Es wurde ziemlich spät, ehe ich heimkam. Lange konnte ich keinen Schlaf finden, und seltsame Träume suchten mich heim.»
Flucht aus Paris
Die geheime Liebschaft, die in der Folge ihr Leben zunehmend bestimmte (und wohl auch nicht vereinfachte), und von der ja niemand erfahren durfte, drohte zu einem gesellschaftlichen Skandal anzuwachsen, als sie von Liszt schwanger wurde. Zwar vergnügte man sich in solchen Kreisen gerne auch mal ausserhalb der Zone, aber die Pariser Öffentlichkeit war unerbittlich, wenn sie sich eine Meinung machte. Gemeinsam beschloss man deshalb Ende Mai 1835, die Stadt und das Land zu verlassen, durchzubrennen, mehr oder weniger über Nacht, ohne jede Ankündigung, ohne festes Ziel, letztlich
also Familie, Freunde, Verpflichtungen, Gewohnheiten, jegliche Sicherheiten hinter sich zulassen.
Im Gegensatz zu Marie d’Agoult stand für Liszt wohl weniger auf dem Spiel, aber die romantische Vorstellung, auszubrechen, die Freiheit zu suchen, so, wie es die Romane dieser Zeit von Lord Byron, Chateaubriand und Senancour, die sie alle gelesen, ja verschlungen hatten, beschrieben, diese «idée fixe» wirkte auf beide wohl mehr als nur verführerisch. Schon 1833 schrieb Liszt vorausahnend in einem Brief an d’Agoult, einen Dichter zitierend: «Ich fühle, dass es im Dasein in Wirklichkeit nur einige Stunden, einige flüchtige Augenblicke gibt. Ich sehne mich heraus aus diesen unfruchtbaren Nichtigkeiten, die mein Herz einengen und bedrücken. Ich brauche eine andre Luft, einen andren Horizont, wo meine Gedanken sich in Freiheit entfalten und beginnen können, an dieser unendlichen Weite, die sich vor mir auftut, teilzuhaben…» Und schloss den Brief mit den Worten: «Ich bitte tausendmal um Verzeihung für diese Sentimentalitäten.» In einem späteren Brief Liszts an die Gräfin heisst es: «Alle meine Freunde finden mich schrecklich verändert; die einen mutmassen eine grosse Leidenschaft, die anderen sagen, es sei beginnender Wahnsinn. Ein geheimer Instinkt quält mich… Away! Away!»
Marie d’Agoult verliess Paris am 28. Mai 1835 und wohnte nach ihrer Ankunft in Basel im Hotel Les Trois Rois, standesgemäss an bester Adresse. Liszt reiste ihr nach, ebenso ihre Mutter, die von alledem nicht den blassesten Schimmer hatte und bald wieder die Rückreise antrat, nachdem sie vom ganzen Vorhaben in Kenntnis gesetzt wurde. Wenig später nahm das Paar die Kutsche und verliess Basel rheinaufwärts, um sich zwei Tage am Bodensee aufzuhalten, wo man unter anderem Hortense de Beauharnais besuchte, ihres Zeichens Stieftochter Napoleon Bonapartes und Mutter Charles Bonapartes, der später als Kaiser Napoleon III. die Geschicke Frankreichs leiten sollte.
Schliesslich gelangten sie von Rorschach über St. Gallen nach Herisau und Lichtensteig/Wattwil, wo ihnen die gerade kürzlich eröffnete Landstrasse über den Ricken – damals verkehrstechnisch ein Meilenstein für die Region – ein wohl holperfreies Weiterkutschieren Richtung Linthebene und Zürichsee ermöglicht haben muss. «Ziel» dieser Mehrtagesreise: Weesen am Walensee, damals ein Dorf mit wenigen hundert Einwohnern, eher abseits gängiger Touristenströme, wirtschaftlich noch wenig erschlossen, aber über einen ausgezeichneten Gasthof verfügend, den L’Epée d’Or, wo sie einkehrten. Mit dem Ruderboot ging es auf den See, und man verbrachte zwei wohltuende Tage, die, liest man sich durch die Memoiren der Gräfin, sicher zu den glücklichsten im Leben von Marie d’Agoult gehörten:
«Wir hatten keinerlei Pläne gemacht, keinerlei Reiseroute festgelegt. Ein Zufall hatte unsere Schritte nach der Schweiz gelenkt. Es war ja einerlei, wohin wir gingen. Wir hatten kein anderes Ziel, als allein, aber zusammenzuleben und zwischen uns und unserer Vergangenheit einen tiefen Graben zu ziehen. Wie unseren Horizont, so wollten wir unser Leben verändern, wollten Einsamkeit, Sammlung und Arbeit. Franz war ermüdet und irgendwie beschämt von dem Glanze einer vergänglichen Berühmtheit, und wünschte sich der Komposition eines grossen Kunstwerks hingeben zu können. Kein einziger Brief gelangte zu uns auf unsern zauberhaften Wanderungen durch die Berge. Niemand kannte unsere Namen in den einsamen Hütten und Weilern, in denen wir uns mit Vorliebe aufhielten. Fast überall hielt man uns für Geschwister, so ähnlich war unser Wuchs, unser Haar, unsere Augen, die Hautfarbe und der Klang unserer Stimme. Wir waren selig darüber. Die Gestade des Wallenstadtsees hielten uns lange Zeit fest. Franz komponierte eine melancholische Harmonie für mich, welche die Seufzer der Wellen und das Fallen der Ruderstangen nachahmte und die ich niemals hören konnte, ohne zu weinen.»
Reminiszenzen
Bei der erwähnten «Harmonie» handelt es sich um das Klavierstück «Au lac de Wallenstadt», eine Art Wassermusik und Idyll, das Liszt Jahre später in seinem Album d’un voyageur (1842) und in den Années de Pèlerinage (1855) veröffentlicht hat. Die Musik hat etwas leicht Schwebendes, Verträumtes, ja Entrücktes, und ist äusserst raffiniert gestaltet. In den gerade mal drei Minuten, die dieses Stück dauert, hat Liszt die ganze Episode am Walensee musikalisch aufgefangen, verewigt und verdichtet; es gehört meiner Meinung nach zum Besten aus seiner Feder.
Seither, wenn ich am Walensee bin oder mit dem Zug auf Durchreise dem kobaltgrün schimmernden See entlangfahre, spielt, ohne dass ich es verhindern kann, dieses Stück in meinem Kopf und mit ihm die Geschichte von Franz Liszt und Marie d’Agoult. Und ich stelle mir vor, wie es hier damals wohl ausgesehen haben mag, dieses faszinierende Walensee-Naturpanorama, wo Feigen, Kiwis und Palmen neben weidenden Kühen an steilen Felsformationen gedeihen. Wie es gewirkt haben muss, damals, in der Stille, ohne Autobahn, Tunnel, Zugverkehr und Dampfschiff, bevor die wirtschaftliche und geographische Erschliessung dieser Region ansetzte. Und ich stelle mir vor, wie es nur wenige Jahre her war, dass Hans Konrad Escher die Linthwerke erbaut hatte, dieses erste grosse Schweizer Wasserbauwerk, welches der damaligen «Wassernoth», den Hochwassern und Überflutungen der Linth-ebene und des Walensees Einhalt gebot, den Walensee schliesslich um einige Meter absenkte und Weesen eine Marina ermöglichte. Es ist noch nicht lange her, da stand ich am
Hafen in Weesen und blickte an der dortigen Wasserstandssäule empor, ein Mahnmal geradezu, nur um zu erahnen, was in den Jahren zwischen 1807 und 1824 unter «Wassernoth» zu verstehen war. Und ich stelle mir vor, dass die Walensee-Region zuvor in den Wirren der napoleonischen Kriege zum Bestandteil des helvetischen Experiments Kanton Linth mutierte, um dann wieder dem Kanton St. Gallen und Glarus sowie ergo dem Schweizer Staatenbund angegliedert zu werden, und dann letztendlich, 1848, dem heutigen Bundesstaat.
Die Geschichte von Franz Liszt und Marie d’Agoult hat mich nochmals dazu gebracht, mich mit den Ortschaften zu befassen, die ich seit meiner Kindheit so gut zu kennen glaubte. Zwar orientierte ich mich als gebürtiger Rapperswil-Joner je länger je mehr an Zürich, aber die Linthebene und der Walensee gehörten zur erweiterten Spielwiese. Während vier Jahren pendelte ich fast täglich zwischen Rapperswil-Jona und Wattwil, wo ich für die Matura so manches über die Geschichte der französischen Revolution lernen durfte, aber herzlich wenig über die Gegend, die vor mir lag. Während bei mir Liszts Klaviertranskription von Beethovens Neunter wenig Nachwirkung zeitigte, tat dies die Episode am Walensee, so wird mir heute bewusst, umso mehr.
Neue Horizonte
Von Weesen reiste das illustre Liebespaar weiter quer durch die Schweiz, um sich in Genf für längere Zeit niederzulassen. Im Oktober 1836 kehrten sie nach Paris zurück, begaben sich aber kurz darauf wieder auf Reisen, diesmal für zwei Jahre nach Italien, wo sich ihre Wege zum Ende hin allmählich trennen sollten. Aus der Liebschaft von Liszt und d’Agoult gingen drei Kinder hervor, wobei das zweite, Cosima, 1836 in Bellaggio am Comersee geboren, zur späteren Frau von Richard Wagner wurde, der seinerseits 1849, 14 Jahre nach dem Aufenthalt von Liszt und d’Agoult am Walensee, von Dresden über Rorschach nach Zürich geflüchtet war, weil er aktiv an der liberalen Bewegung der 1848er-Revolutionen teilnahm – jene demokratisch-freiheitliche Bewegung in Europa, welche Marie d’Agoult dann ihrerseits, im Kontext der Revolutionen in und um Paris als herausragende Chronistin ihrer Zeit ausführlich dokumentieren sollte.