Wie wirkt sich eine Kindheit mit Smartphone und Spielkonsolen auf die Aneignung von Sprache und Schrift aus? Wenn Kinder Probleme haben, diese elementaren Kulturtechniken zu erlernen, spricht man von Legasthenie oder Dyslexie, die sich als Barriere zwischen das Kind und die Umwelt stellen. Heute werden diese Probleme fast immer durch organische Störungen im Hirn oder als Gen-Defekt beschrieben und durch gezieltes Training behandelt. Eine Reihe von PsychoanalytikerInnen geht einen anderen Weg: Sie versuchen diese Störungen als Problem des familiären und sozialen Zusammenhangs zu behandeln, in dem die Kinder aufwachsen. Dr. Hans Hopf sticht in diesem Kontext durch seine zahllosen Veröffentlichungen heraus. ‹Kinderträume›, ‹AD(H)S› oder ‹Flüchtlingskinder – heute und gestern› heißen seine Bücher unter anderem. ‹Die Psychoanalyse des Jungen› ist seine letzte Veröffentlichung. Damit wollte er «den Jungs die Seele wiedergeben und sie nicht als ADHS-kranke Monster hinstellen. Ich wollte erklären, woher die Unruhe kommt, wie die gesellschaftlichen Zusammenhänge aussehen. Denn die sind für die Kinder nicht gerade günstig».
Alexis Waltz: Legasthenie und Dyslexie werden heute meistens als Probleme der Wahrnehmungs- und Sprachverarbeitung betrachtet. Wie sieht die Psychoanalyse diese Störungen?
Dr. Hans Hopf: Zunächst ist der Begriff Dyslexie bei uns kaum gebräuchlich. Wir sprechen von Legasthenie. Im ICD-10 (dem International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, d.Aut.) werden mit diesem Begriff Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten umschrieben. Ich war über 40 Jahre lang Psychotherapeut von Kindern und Jugendlichen, und ich habe kein einziges Kind mit dieser Diagnose in Behandlung bekommen. Es wird immer davon ausgegangen, dass Probleme des Lesens und Schreibens nicht mit der Entwicklung und der Persönlichkeit des Kindes zu tun haben, sondern physische Ursachen haben. Das ist eine verheerende Einschätzung.
Warum schicken SchulpsychologInnen, ÄrztInnen und PsychiaterInnen die Kinder nicht auch in eine psychoanalytische Praxis?
Die psychoanalytische Therapie kommt für die Behandlung der Legasthenie überhaupt nicht in Frage. Die betreffenden Kinder gehen woanders hin, machen etwa ausgeklügelte Legasthenie-Kurse. Denen gegenüber bin ich skeptisch eingestellt. Natürlich hatte ich viele Kinder mit Lese- und Schreibproblemen in Behandlung. Aber in meine Praxis kamen sie wegen anderen Symptomen. Aus meiner Sicht sind Probleme beim Lesen und Schreiben wie alle anderen neurotischen Symptome eingebettet in seelische Konflikte und Beziehungsprobleme. Die Schwierigkeiten beim Schreiben und Lesen gehen zurück, wenn die zugrunde liegenden Widersprüche bearbeitet werden.
Schreiben und Lesen zu lernen setzt natürlich voraus, sprechen zu können. Wie beschreibt die Psychoanalyse den Spracherwerb?
Das Sprachvermögen kann nur erworben werden, wenn das Kind äußere und innere Wirklichkeit zueinander in Beziehung setzen kann, dabei aber gleichzeitig den Unterschied feststellt. Das ist eine enorme Leistung. Der Erwerb des Sprechens ist von der Fähigkeit abhängig, sich aktiv von der Mutter wegzubewegen und auf Distanz kommunizieren zu können. Wenn ich ganz an der Mutter hänge, können wir uns wortlos in der Symbiose verständigen. Die Störungen sind stark geschlechtsspezifisch: Bei kleinen Mädchen bilden sich weniger Lese- und Rechtschreibstörungen, sondern mutistische Störungen – sie verweigern das Sprechen. Die Lese-Rechtschreibeschwäche tritt hauptsächlich bei Jungs auf.
In der Grundschule haben die meisten Mädchen ein gestochenes Schriftbild, während viele Jungs sich damit rumschlagen, lesbar zu schreiben.
Jungs sind oft lässig, schlampig und wenig konzentriert. Dass Mädchen in der Schule immer erfolgreicher werden, hängt meiner Meinung nach mit ihrem großen Einfühlungsvermögen zusammen und der Fähigkeit aushalten und durchhalten zu können. Das ist bei Jungen weniger stark ausgeprägt.
Wie kommt es zum Mutismus, den Sie angesprochen haben?
Das ist ein Ergebnis der symbiotischen Verklammerung des Kindes mit der Mutter. Das Kind verweigert, einen Dritten miteinzubeziehen. Dies hängt oft mit dem Scheitern der Triangulierung zusammen, also mit dem Beziehungsdreieck von Mutter, Vater und Kind, das notwendig ist, um sich die Sprache anzueignen. Der Vater spielt dann eine zu geringe Rolle.
Wie wird die Legasthenie als neurotische Struktur lesbar?
Die Sprache entwickelt sich zunächst in der Symbiose mit der Mutter. Bleibt jedoch das Kind an die Mutter gebunden, bleibt diese auch deren Speicher und das Kind muss nicht selbst lesen und schreiben lernen. Analog dazu lässt die Legasthenie in der Pubertät oft nach, wenn eine weitere Loslösung von den Eltern erfolgt. Ich habe Fälle erlebt, wo sich die Geschwisterrivalität beim Schreibenlernen niedergeschlagen hat. Ein Junge hat konsequent die Verdoppelung von Konsonanten – nn oder tt – vermieden. Er hat immer nur einen Buchstaben geschrieben; er ertrug niemanden neben sich. Ein anderes Kind mit großer Wut hat seine Texte bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert. Und wir ahnen auch, was sich zum Beispiel dahinter verstecken kann, wenn ein Jugendlicher «Religion» immer klein schreibt. Das sind alles unbewusste Fehlleistungen. Mein Kollege Thilo Grüttner hat vor vielen Jahren ein Buch darüber geschrieben: ‹Legasthenie ist ein Notsignal›. Wenn Lehrer nicht nur Lernbegleiter sind, sondern Beziehungspersonen, die die Kinder ganzheitlich wahrnehmen und fördern, dann ist viel zu erreichen. Stures Pauken wird vor allem bei Jungen wenig erreichen, weil es Vermeidung und Bockigkeit schürt.
Ich würde gerne nochmal zu der psychoanalytischen Sichtweise auf den Spracherwerb überhaupt zurückkommen. Wie eignet sich das Kind die Sprache in Beziehung zu den Eltern an?
Das Kind muss die Trennungsangst überwunden haben, die im achten Monat am stärksten aufblüht und es muss fähig sein, sich räumlich von der Mutter zu trennen. Diese Unabhängigkeit ist die Voraussetzung davon, überhaupt zu symbolisieren. Denn das Kind ist ja gezwungen, sich die abwesende Mutter vorzustellen. Kann es das nicht, bleibt es in der Trennungsangst stecken. Kann es sich die Mutter vorstellen, kann es sich auch vorstellen, dass Laute und deren Bedeutungen zusammenhängen. Heute beobachte ich mehr Symbolisierungsstörungen, und da spielen auch die Computerspiele eine Rolle. Ich denke, dass der Umgang mit den Geräten eine höchst einsame Angelegenheit ist. Bei den Spielen muss ich mich auf keinen lebendigen Partner einlassen, der auch mal widerständig sein kann. Das schürt den Narzissmus. Ich kann Personen erfinden, ich kann sie zerstören. Die Phantasie allmächtig zu sein wird geschürt, das Verhaften im sogenannten Lustprinzip verstärkt.
Wie sehen Sie die Beziehung von Legasthenie und ADHS?
Ich habe Probleme mit unserem Schubladendenken, egal ob von Legasthenie, ADHS oder Autismus-Spektrums-Störungen die Rede ist. Für mich sind das Symptome, in denen ich seelische Probleme erkenne, die behandelbar sind. Ich würde bei meinem Kind mit Lese- und Schreibproblemen die Neigung zu Computerspielen etwas zurückdrängen und liebevoll und mit viel Spaß Lese- und Schreibübungen machen, die lustvoll zu besetzen sind. Man liest vor und lässt sich vorlesen. Wer nicht mehr liest, schult nicht seine Vorstellungskraft.
Sie sprechen hauptsächlich von der Mutter, welche Rolle spielt der Vater?
Der Vater müsste unterstützend mitwirken. Seine Aufgabe ist es, aufmerksam zu beobachten und als Grenzsetzer zu wirken. Frauen können das natürlich auch, es ist aber einfacher, wenn die Rollen verteilt sind. So wirken Väter, das wissen wir aus unseren Beobachtungen, als liebevolle Grenzsetzer.
Wie wirkt sich der vorhandene oder nicht vorhandene Dialog zwischen den Eltern auf das Kind aus?
Das ist etwas ganz Wichtiges: Wird in der Familie gesprochen, auch über die eigenen Gefühle? Kann man offen über seine Gefühle sprechen? Wenn ich feststelle, dass meine Gefühle und die entsprechenden Worte zusammenhängen und dann noch merke, dass andere Menschen die gleichen Gefühle haben, tritt das ein, was man Mentalisierung nennt: Ich schreibe dem Gegenüber ein Seelenleben zu.
Wie sieht ein neurotischer Konflikt aus, der entsteht, wenn dieser Prozess nicht optimal abläuft?
Bei Mädchen sind aggressive Hemmungen am häufigsten: Die Angst, anderen Aggression zu zeigen, weil ich dann ihre Liebe verliere. Jungs haben eher die Neigung, Spannungen nicht aushalten zu können. Für sie ist dann Lesen und Schreiben eine Qual, weil sie ständig die Phantasie haben, etwas Schöneres, Leichteres zu machen. Weil sie diese Spannung nicht ertragen, führen sie sie über Bewegung ab; das nennt man dann ADHS. Sie können sich nicht beherrschen, ihre Affekte nicht kontrollieren.
ADHS wird heute oft mit Medikamenten behandelt.
Da haben alle etwas davon. Eltern sind froh; so haben die Probleme ihrer Kinder nichts mit ihnen zu tun. Und die Pharmaindustrie verdient Milliarden. Da sind die Psychoanalytiker nur störend. 1992 gab es noch 1600 ADHS Diagnosen, heute haben wir 800’000: Wo soll das herkommen, wenn es hirnorganisch ist? An dieser Stelle diskutiert man dann mit mir nicht weiter.
Wie vermittelt man den Eltern, dass sie Teil des Problems sind?
Das ist ein langer Prozess. Man muss den Eltern klar machen, dass wir ein anderes Verständnis haben, etwa von ADHS. Die Eltern müssen einsehen, dass alles, was in der Familie passiert, sich auch in der Entwicklung des Kindes niederschlägt. Wenn der Vater selbst aufbrausend und unbeherrscht ist, kann man nicht erwarten, dass sein Sohn etwas anderes gelernt hat. Dabei muss deutlich werden, dass sie nichts dafür können. Es hilft nicht, Schuldgefühlen nachzuhängen.
Worauf reagiert das Kind mit seiner Unruhe?
Das sind meistens ganz frühe Störungen der Affektspiegelung der Mutter. In einer lebendigen Beziehung werden die Affekte unbewusst gespielt. Die Störungen treten dann ein, wenn die Mutter in irgendeiner Form abwesend ist. Das kann mit einer depressiven Störung zu tun haben, aber auch damit, dass sie zu viel in ihrer Arbeit hängt.
Sie haben viel von der Rolle der Mutter gesprochen, welche Bedeutung hat der Vater?
Der Vater verkörpert die Grenzen, das Gesetz, was ein wenig furchteinflößend klingt. Gerade Legasthenie hat viel mit Regeln zu tun. Wer keine Regeln akzeptieren kann, wird nicht gut schreiben lernen. Natürlich kann auch die Mutter die Autorität verkörpern. Aber bei ihr wirkt oft die nachgiebige, empathische, verwöhnende Seite stärker. Und natürlich kann es auch der Vater sein, der diese Seite vertritt. Ich sage das so deutlich, denn das soll kein Angriff auf die Rechte der Frau sein. Schlecht ist es nur, wenn beide Eltern nachgiebig sind.
Was passiert mit dem Kind, wenn es zu wenige Grenzen erlebt?
Dann könnte eine narzisstische Störung entstehen. Das Kind ist zu viel mit seinem Vorteil und seiner Lust befasst. Es vermeidet die Leistung. Letztlich sind diese Kinder total enttäuscht von sich und leiden unter großen Minderwertigkeitsgefühlen. Der Computer ist ein idealer Bereich, um mit grandiosen Phantasien über diese Gefühle hinwegzutäuschen. Das betrifft besonders Jungen. Sie neigen dazu, Realitäts-Vermeider zu sein. Das geht auch über das Lesen und Schreiben hinaus. Manche wollen in der Schule überhaupt nichts mehr leisten. Es gibt Kinder, die gar nicht mehr beschulbar sind. Sie müssen lernen, die Realitätsprinzipien Schule und Leistung als notwendig anzuerkennen.
Sollen Computer und Internet gemieden werden?
Nein. Aber wir dürfen reale Beziehungen nicht vernachlässigen, und diese Gefahr ist heute groß. Kleine Kinder brauchen dialogisches Spielen. Durch die Sprache werden die Kinder in die Welt der Fantasien eingeführt, und Worte verwandeln sich in Symbole und Bilder. Die Vorstellungskraft wird geübt und eine lange Aufmerksamkeitsspanne entsteht. Mich hat als Kind der Lateinunterricht tödlich gelangweilt, aber ich sass da und habe an etwas anderes gedacht, mir etwas ausgedacht. Heute schauen Kinder auf ein Gerät oder springen auf. Dass ich mich überhaupt mit mir befassen konnte, ist schon eine Symbolisierungsleistung.