1. Der helvetische Bürgerkrieg.

Der helvetische Bürgerkrieg von 2015 wird nur in meinem Roman «Land ganz nah» nach aussen getragen. Gegärt ist der fiktive Bürgerkrieg in mir, inwendig losgetreten worden ist er, als die realexistierende Volkspartei ihren Wahlkampf tatsächlich – wie in «Land ganz nah» nacherzählt – im HB Züri lanciert hatte. Diejenigen, die am Stadtrand am stärksten sind, aber in den Städten nie erfolgreich waren, besetzten den internationalsten und unbeständigsten Ort der Stadt: den Bahnhof.

Am Limmatufer wird Leder gegerbt, «Scherbenquartier!» meint der Blick. Und manche fühlen sich an die frühen Neunziger erinnert. Verschläge prägen den Platzspitz, Baumhäuser, Lastwagenblachenwohnungen. Die Kiffer, die sonst hier rumhängen, kommen weiterhin her. Einige arbeitslose Theaterpädagogen verlassen ihre Zimmer im besetzten Haus draussen in Altstetten, leeren nicht mal die Aschenbecher auf dem Nachttisch und ziehen in den Park. Die HB-Halle wird zum anarchischen Mittelaltermarkt. Mittlerweile kommen auch täglich Leute aus Ungarn, Frankreich und Deutschland an. Diese Freiwilligen wollen aber oft nicht einfach Linsensuppe schöpfen, sondern fühlen sich primär angezogen von der «neuen Lebensform», der «Gegen-Existenz». Es sind viele Soziologiestudenten – Soziologiestudent*innen – unter ihnen. Die Flüchtlinge treibt’s nach Wiedikon, zum Bahnhof Enge, nach Oerlikon, an S-Bahnhöfe in Dietikon und Schlieren. Eine Gruppe Afghanen, die in Stäfa UNHCR- Simmenthal-Dosen verkaufen will, wird mit Tränengas in die Stadt zurückgetrieben. Für die Erklärung von Bern, für Amnesty, Helvetas, das Rote Kreuz ist klar: Die Goldküste ist No-go-Area. Zu gefährlich für Syrer, Afghanen, Pakistaner, Eritreer. In der «jungen welt» erscheint ein Manifest, das das revolutionäre Moment einer solchen Situation erkennt. Es trägt den Titel: «Unruhe, Widerstand – kein ruhiges Hinterland!» Was dem offiziellen und inoffiziellen Zürich nicht ganz genehm ist: Zürich als Hinterland. («Land ganz nah», S. 7/8)

«Land ganz nah» gräbt die Schweiz um und schüttet das Erdreich überall dort zu Wällen auf, wo sie auch nur im Entferntesten denkbar erscheinen. Nicht weil ich die gesellschaftliche Polarisierung in der Schweiz als gefährlicher wahrnehme als anderswo, sondern weil ich die möglichen Wälle und Burggräben hier halt wirklich kenne, und weil sie in diesem kleinen föderalistischen Land besonders eng gebaut werden können: von der Unzahl der Mundarten bis zum Kantönligeist. Je lächerlicher, je kleinräumiger der abgesteckte Raum ist, desto besser kann man ausstellen, wie absurd die Gräben und Mauern sind. Und natürlich bedeutet es etwas Anderes, wenn man über das Eigene oder vermeintlich Eigene schreibt, als wenn man es über das Andere tut.

2. Mein Fiction-Welteditor

Die Post kommt nicht mehr. Das war plötzlich so, es gab keine Rede dazu. Nur die Aktionsprospekte von Toys‘R‘Us und Otto’s im Briefkasten, die ich auf den feuchten Brei aus Rechnungen und Aufstellungen meiner Kreditpunkte vom Studium lege. Dieser Papierbrei bildet sich schon eine Weile. Ich schreibe Karola per Whatsapp, ob bei ihr die Post auch nicht mehr komme. Auf srf.tv steht nichts davon, dass die Post nicht mehr komme. Auf Facebook steht sehr viel darüber, dass die Post nicht mehr komme. Und auf der Facebook-Seite der Post steht, dass die Post stolz darauf sei, die Zustellung jedes Briefes zu gewährleisten. Dass die Fronten für die öffentlichen Dienste nicht unpassierbar seien. Dass man eng mit DHL zusammenarbeite, und dass es keine Gruppe zwischen Sargans und Porrentruy, zwischen Schaffhausen und Genf gebe, mit der die Post nicht in Kontakt stehe. 2346 Likes, 43 Trauer-Emoticons, 867 Wut-Emoticons, 1300 Kommentare. Das heisst wohl quantitative Sympathiehoheit, aber qualitativ: Leute aus Bad Zurzach, aus Köniz, aus Altdorf, aus Flims beschweren sich darüber, dass keine Post mehr komme. «Dise Hurren-Guerilla nimmt uns das letzte!» – «Es ist ja klar, dass die Post nicht neutral ist, die Post steht für den Lügenstaat.» Aber sowohl von der Post als auch vom «Lügenstaat», also von der Regierung in Bern, hört man beeindruckenderweise nichts. Keine Positionierungen mehr, jedenfalls keine, die nach Zürich dringen. Dass weder Blick.ch noch NZZ noch eins der Tamedia-Blätter was zur Nicht-Tätigkeit von Parlament und Bundesrat publizieren, verstört, aber die Medien werden auch weniger wichtig. In den Kantonsregierungen gibt es die, die da sind, sich einbunkern in Verwaltungsaufgaben, oder sie schreiben Wutmanifeste, Ärgermanifeste, was am Kampfgeist der «dekadenten Neohippies, die nie Dienst geleistet haben, noch nicht mal Zivildienst» oder der «Geranienschweiz, der wir viel zu lange mit Vernunft und Argumenten begegnet sind», nagen soll. Karola schreibt, sie bekäme Post. Aber nicht jeden Tag. Meine Post kommt nicht mehr, und drum verunsichert es mich auch nicht mehr, wenn keine Rechnung für die Krankenversicherung kommt. Oder die Semestergebühren. «Ist man noch Student, wenn die Uni, an der man studiert, ihren Betrieb eingestellt hat?» poste ich auf Facebook. («Land ganz nah», S. 139/140)

In manchen Computerspielen gibt es «Welt-Editoren»: Man erstellt seine eigenen Rummelparks, Zoos oder Schlachfelder. Es sind dann natürlich nicht komplett eigene, sondern man kombiniert die Optionen, die einem die Spieleentwickler*innen geben: eine Liste von Bäumen, eine Liste von Erhebungen, eine Liste von Gebäuden. Für «Land ganz nah» schöpfte ich aus einer Liste von Wissen, Halbwissen, Kollektivchiffren, Mythen und einer wohl zu detaillierten Liste von regionalem und subkulturellem Insiderwissen. Das war mein Fiction-Welteditor – Bäume habe ich dafür selbst erfunden.

Ist literarisches Schreiben nicht immer ein Welteditor? Nein. Ein solches Spielfeld muss nur entstehen, wenn man versucht, eine Gesellschaft oder kollektives (Unter)bewusstsein zu erzählen. Wenn sich das, was man schreibt, zur Realität verhalten muss. Figuren können irgendwas tun, irgendwohin reisen – Geschehnisse aufploppen oder ausbleiben. Das leere Blatt ist kein Welteditor; das leere Blatt markiert keine Spielfeldränder.

3. Was Literatur von Geschichtswissenschaften unterscheidet

Kontrafaktisches Bewusstsein ist wichtig für Historikerinnen, kontrafaktische Szenarien durchzuspielen hingegen nicht.

Es hat in der Woche angefangen, in der «dä George Clooney vo de Aupe» der NZZ sagte, dass die Schweiz pro Jahr maximal hundert Asylbewerber aufnehmen könne. Plötzlich sind sie da. Vor ein paar Wochen sind Reporter für nix beziehungsweise für zwölf Personen an die Grenze nach Buchs gefahren, jetzt zweigen ab Salzburg viele Flüchtlinge Richtung Schweiz ab. Das war auch deshalb nur eine Frage der Zeit, da für den Weg nach Bayern und Deutschland der ICE meist gewechselt werden muss. Zu uns kann man sitzen bleiben. («Land ganz nah», S. 71)

Die kontrafaktische Ausgangsfrage «Was wäre, wenn in Salzburg alle Flüchtenden im Zug sitzengeblieben wären?» beschreibt kein singuläres Ereignis. Anders als jene kontrafaktischen Szenarien, die Historikerinnen oft durchspielen: Was wäre, wenn diese oder jene Vertragsverhandlung anders geendet hätte? Was wäre, wenn Napoleon in Waterloo gewonnen hätte? Was, wenn Stalin 1936 gestorben wäre? Das sind die kontrafaktischen Gedankenspiele, denen sich Historikerinnen annehmen, und sie sind deshalb verfänglich, weil sie das Geschehene als einfache Gleichung tarnen. Sie tauschen Plus- und Minuszeichen aus und erwecken so den Eindruck, dass das, was dann passiert wäre, «berechenbar» bzw. «errechenbar» ist. Sie behaupten, ein «Was wäre, wenn…» sei dekodierbar. Was wäre, wenn sich Stalin 1936 an einer Salzbrezel verschluckt hätte? Niemand weiss es. Kontrafaktische Szenarien zeigen Historikerinnen also vor allem die Leerstellen und unbekannten Triebkräfe auf. Das Bewusstsein für die Frage «Was wäre, wenn…» ist in den Geschichtswissenschaften wichtiger und spannender als das Durchspielen von Szenarien. Die Frage führt vor Augen, wie mächtig Chaos ist. In der Literatur ist es gerade umgekehrt. Wer Literatur schreibt, hat Kontrolle.

4. Journalisten-Befindlichkeiten

Auch wenn sie erfunden wären, könnte man die besten journalistischen Geschichten am Kiosk kaufen. Mit dem Verlagslogo von Bastei-Lübbe drauf. Die besten journalistischen Geschichten wären schlechte Literatur.

Im journalistischen Schreiben geht es nicht in erster Linie darum «gut» zu schreiben, besonders originell oder spannend zu sein. Es geht darum, vertretbar zu schreiben. Journalistisches Schreiben bedeutet Arbeit an Texten, die Beschreibung eines Fitzelchens Wirklichkeit sein sollen und als solche – hoffentlich! – vertretbar, lauter und fair.

Die Haltung des Publikums steht beim Lesen von journalistischen Texten unter anderen Vorzeichen: Bei der Beschreibung der Wahrheit ist das «You can’t make this up» im Hinterkopf Teil der Lesemotivation. Es geht um die Faszination, den Schrecken und das Weirdo-Moment, dass eine Reporterin etwas tatsächlich erlebt hat. Dass sie ein Phänomen in der Welt beschreibt. Dass sie ein besonders absurdes Stück Realität herausschält.

Beim Schreiben von kontrafaktischen Szenarien kreiert man eine Gesellschaft im Welteditor. Das Schreiben muss sich nichts und niemandem gegenüber verantworten. Das führt dazu, dass man gesellschaftliche Konfliktlinien und Mythen radikaler betrachten kann, als in der Profession, die sich der Realität verpflichtet hat. Im kontrafaktischen Schreiben kann man zuspitzen, ohne zu beleidigen. Und man kann zuspitzen, um eine Extremvariante von etwas Existierenden oder Wahrgenommenen durchzuspielen. Man kann alle ausgleichenden Variablen mit radikalen ersetzen und behaupten, was dann passiert. Es geht bloss um Plausibilität – Lauterkeit und Vertretbarkeit sind keine Kategorien. Und weil diese Kategorien wegfallen, erwarten die Lesenden etwas Anderes vom Text. Dies, weil sie wissen, dass die Schreibenden das Geschehen kontrollieren. Dass sie als absolutistische König*innen vor dem leeren Blatt gesessen haben.

5. Männliches Ego-Schreiben

Das «Was wäre, wenn…» spielt immer mit beim Schreiben eines literarischen Textes. Es entfällt bloss dann, wenn jemand einen absoluten Anspruch auf Wiedergabe der Realität formuliert. Der Anspruch, das Innere komplett nach Aussen zu stülpen, ein Erleben in Sprache zu kopieren, ist per se naiv und folgt einem Geniekonzept, das eigentlich überholt ist. Aber die Behauptung eines 1:1-Abbilds hält dann am ehesten stand, wenn jemand so selbstbezogen wie möglich schreibt. Niemand kann den Gegenbeweis liefern, wenn jemand behauptet, das Geschriebene bilde ein individuelles Inneres komplett ab. Und das unverschämt Selbstbezogene generiert Leserinteresse. Hypersincerity heisst das Schlagwort und Karl Ove Knausgård ist der Kassenschlager.

Es gibt Autorinnen, die ihre Biografie literarisieren, ohne privatistisch zu werden. Annie Ernaux ist ein Beispiel für solches ethnografisches Schreiben. Ihre Texte klopfen eine Biografie auf ihre gesellschaftliche Relevanz ab. Ernaux erforscht sich schreibend und sucht in ihrem Erinnern nach Empfindungen, die gesellschaftlich Bedeutung tragen können. Sie betrachtet sich, ihre Tagebücher, alte Fotos – und sucht dabei nach Splittern, die eine allgemeine, gesellschaftliche Perspektive reflektieren. Über ihre gesellschaftliche Position und das Körperbewusstsein als Frau oder über das Milieu, in dem sie aufgewachsen ist.

Die männlichen Schreiber dieses Genres tendieren stattdessen zu Sentimentalität und versuchen, ihre persönliche Erfahrung von der Gesellschaft zu entkoppeln, wollen sie singulär und genialisch setzen. Hypersincerity ist die radikalisierte, Amphetamin-gedopte Jahrtausendwende-Variante von Flaneur-Literatur. Ich, ein Mann, Teil der Mehrheitsgesellschaft, habe nichts Besseres zu tun, nichts Besseres zu denken und nichts Besseres zu schreiben, als meine auf die Welt gekotzte Wahrnehmung. Vielleicht beschreibt Knausgard das Gurkenschneiden gar nicht so anders als Ernaux. Aber bei Knausgard erscheint – im Werk selbst – der Anspruch, dass alles Geschriebene private Wahrheit sei. Dass er nicht anders könne, als diese private Wahrheit niederzuschreiben. Deshalb betreibt er im Unterschied zu ihr Propaganda für den Rückzug ins Private: Es gibt nichts Wichtigeres als mein privates Erleben. Und die «Ennui», die Langeweile, mit der er dieses Private beschreibt, verteidigt den Status Quo. Das Gegebene. Die Verbissenheit, mit der er andererseits seine Meinung zur Welt beschreibt, macht ihn reaktionär. Er ist die Dandy-Variante eines Online-Trolls.

Sein Schreiben ist auch übergriffig: Knausgård nutzt die absolutistische Macht, die er als Schreibender hat und greift damit die chaotische Realität seiner Verwandten und Bekannten an. Dieser Gedanke führt vom männlichen Ego zurück zum Kontrafaktischen: Realität ist Chaos, Literatur bedeutet Kontrolle. Nicht im Moment des ersten Niederschreibens, aber im Prozess des Überarbeitens und Auswählens.

Das Verschieben von Realitätsparametern, der Absprung in eine kontrafaktische Fast-Gegenwart, half mir einem Kausgård‘schen Authentizitizitizitätsbedürfnis zu entfliehen. Labt man sich erzählend an der historischen Realität und verändert Fakten oder Parameter, verhält sich das Erzählte immer zum realen Kollektivgedächtnis. Dadurch, dass man an den Rädchen von Erinnerung und Wirklichkeit schraubt, nimmt man eine Haltung ein. Eine Haltung, der man sich entzieht, beschreibt man bloss (Selbst-)Wahrnehmung: Das Hypersincerity-Schreiben kommt ohne Haltung aus. Würde jemand mit einer politischen Haltung Hypersincerity betreiben, wäre er zu Pathos verdammt: Barack Obama’s «An American Dream» ist kein Ausgangspunkt für politische Literatur.

6. Das war auch nur Ego-Perspektive

Eine kontrafaktische Setzung ermahnt beim Schreiben: Es gibt Gesellschaft, es gibt Welt, es gibt Geschichte, es gibt das Jetzt. Man muss sich dazu verhalten. Das «Was wäre, wenn…» ist also Ausgangspunkt für politische Literatur. Mich – männlich, 28, Journalist, Schweizer – hat die Setzung davor bewahrt, in Befindlichkeiten zu ersaufen. Sie hat mir geholfen, mit Befindlichkeiten umzugehen, die für mich als Mensch grösser würden, hätte ich sie in einen Roman gepappt.

Benjamin von Wyl ist Journalist und Autor. Sein erster Roman «Land ganz nah» erschien 2017 bei lector books.
Literaturempfehlung: Benjamin von Wyl: Land ganz nah: Ein Heimatroman, Lectorbooks, Zürich, 2017

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