Wo wir früher on waren, was da so ging, und was mit unseren verlassenen Accounts passiert. Fragmente aus der sozialen Überforderung einiger mitteleuropäischer 90‘s Kids.
 
Fast alle von uns sind heute bei Facebook und/oder Twitter, Instagram, Snapchat. Aber soziale Plattformen gibt es schon viel länger – um zu chatten und zu flirten, um Musik und Fotos hochzuladen und zu kommentieren, oder auch einfach nur zum Netzwerken mit Freunden und Fremden. Nur die inzwischen so entsetzlich unersetzliche Timeline ist relativ frisch.

Wir, also die Generation Y (fügen Sie dazu einen Leitartikel Ihrer Wahl ein) sind mit sozialen Plattformen aufgewachsen. Die Portale unserer ersten Online-Sozialisation sind inzwischen off und tot – oder wir sind einfach nicht mehr da, sondern hier: Was unser soziales Miteinander jetzt strukturiert, ist ein kleines kalifornisches Monopol. Aber was ging eigentlich damals, Anfang des Milleniums, als wir noch jung und naiv waren und überall Zeitungen aus Papier herumlagen? 
 
Oliver, 22, Hamburg
SCHÜLERVZ: Mit 14 habe ich mich auf schülervz an­gemeldet. Christian aus der 9B hatte gesagt, es wäre cool. Denn: da wären jetzt alle, auch die richtig hübschen Mädchen – und alle kann man anschauen. Und mitmachen, dabeisein. Schülervz war rosa. Wer mit mir befreundet war, konnte sehen, dass ich ein Mitglied der Gruppe: «Ich ziehe an Türen, auf denen dick und fett DRÜCKEN steht.» war. Konnten User*Innen dort auch schon Fotos liken? Ich erinnere mich nicht mehr. Ich habe dort meine erste feste Freundin, Luisa aus der 9A (ich war selbst noch in der 7.) das erste Mal angeschrieben. Ihr gefiel es, dass ich bei «Lieblingsmusik» die White Stripes erwähnt hatte. SchülerVz wurde 2013 abgeschaltet. Den großen Bruder, StudiVz, gibt es zwar noch – aber ich kenne niemanden, der noch dort wäre. Ich würde viel für meine damaligen Nachrichtenverläufe zahlen.

Brauche ich diese peinlichen Webcamfotos von mir mit 13 wirklich? Warum habe ich sie dann nicht irgendwo gespeichert? Oder ausgedruckt? Vielleicht hat sie ja wer anders noch; hoffentlich nicht. Werde ich mit 80 meine alten Chatverläufe mit verflossenen Liebschaften und entfremdeten Freunden lesen wollen? Soll ich meine SMS abschreiben, bevor ich sie lösche? Schreibt hier überhaupt noch jemand SMS? Ist das wieder cool? Sind Verläufe die neuen Briefwechsel? Wird das später wer herausgeben? Germanisten beim NSA? Darf ich nichts vergessen? Wollen meine möglichen Enkelkinder das später wirklich sehen? Oder darf das alles aufhören?
Darf ich einfach aufhören?

Laura, 23, Graz
MYSPACE: A place for friends. Bei Myspace lief vieles über Musik. Jede User*in konnte einen eigenen Profilsong einstellen. So konnten wir den Besucherinnen unserer Profile zeigen, mit welchem Sound wir uns gerade identifzieren – ein möglicher Anknüpfungspunkt. Wir lieben beide die Libertines, warum befreunden wir uns nicht einfach mal? Außerdem konnte jede*r User*in ihr Profil mit Hilfe von Websites wie pimp-my-profile.com relativ selbständig layouten. Easy HTML-Interfaces. Die Farben deines Lieblingsvereins, Glitzer, Totenköpfe und Bling, wild gestreift, knallbunt oder auch ganz in schwarz. Und dann war da natürlich noch das Gästebuch. Kommentare, auf die man stolz sein konnte: EY DAS BIST JA DU WIE COOL DICH HIER ZU FINDEN. Und die Top8 deiner Freunde: wer da nicht drin war, konnte schnell ziemlich angepisst auf dich sein. Myspace gibt es zwar noch, aber ich kann mein Profil nicht mehr wiederfinden. Habe ich es irgendwann, nach dem Wechsel zu Facebook, selbst gelöscht? Gut möglich. Viele meiner ehemaligen Internetbekanntschaften, die heute bestimmt ganz anders aussehen, finde ich noch, mit den alten grellen Profilbildern, bevor Photoshop Hausgebrauch wurde. Aber ihre Profile wurden inzwischen vereinheitlicht: kein persönliches Layout mehr sichtbar, ziemlich hängengeblieben und entleert. Keine Gästebücher, keine Profilsongs. Godammit, Myspace ist tot. Ein Subkulturtopia. Scheint ewig her zu sein. Und was macht Tom eigentlich inzwischen? Und bin ich vielleicht heute nur so oft depressed, weil ich damals zu lange «Fuck Forever» von den Babyshambles als Profilsong hatte?

«RIP Festzeit.ch»,
der letzte aktive Thread auf FESTZEIT:

skatergirl, Do 21.7.16, 16:32
@quix
Bitte diese Tote Seite beerdigen! Eine Seite, welche kaum mehr Fotos bringt, welche kaum mehr Aktivität hat, und welche visuell wie auch technisch anno 2001 entsprechen, begräbt man lieber!
Ich gehe schwer davon aus, dass die Seite auch finanziell nicht mehr viel generiert.
Worauf wartest Du?

quix, So 24.7.16, 19:56
numme will i nit igloggt bi, heisst das nit das i nit ume bi.
es git sehr sehr vieli wo no ihri alte föteli/chats wän aluege. i wüsst nit wieso i das söt «begrabe».

doubleu, So 31.7.16, 17:19
Also ich und viel vo mine kollege gönd abwächsligswiis all 2 johr mol uf festzeit, und schicke eus alti föteli (per whatsapp) und lache eus gegesiitig us wie mr früener usgeh hend. klar ischs en schlächte grund. Aber «d‘Nostalgie» über Festzeit-Ziite bliebt so ämel erhalte.
Und es isch au immer guet, wenn öpper hüürotet!

Thomas, 24, Bremen
KNUDDELS: Mit 11 gab ich mich das erste Mal als Mädchen aus. Das war bei Knuddels, einer süßen Chat-Plattform für Jugendliche, kostenfrei und anonym. Im Flirt-Chat fragte ich die anwesenden User, ob jemand Bock auf CS hat (Computersex). Meistens sprang sofort wer darauf an – und dann «verschwanden» wir gemeinsam in einen Privat-Chat. Dort erzählte ich den Usern, was ich so Fiktives unter meiner Kleidung trug und forderte sie währenddessen auf, zu wichsen und dann, ein paar Eingaben später, vielleicht hatte ich in der Zwischenzeit auch davon erzählt, wie ich meine Brüste berührte, gegebenenfalls zu kommen. Wenn sie dann so weit waren, kam mein großes Haha: ich deckte auf, dass ich nicht nur männlich, sondern auch ein Polizist wäre, und gleich jemand vor ihrer Tür stehen würde. Dann loggte ich mich aus. Was damals wohl mein Begehren war? Wer diese Leute waren, die wegen mir masturbiert haben? Haben sie das überhaupt? Schwer zu sagen. Macht? Kick? Es hat mich damals, glaube ich, schon auch angemacht. Nachlesen kann ich das leider nicht mehr. Jedenfalls wüsste ich nicht wo.

In einem anonymen Chat ist es nicht so wichtig, wie ich mich präsentiere – niemand weiss, wer ich bin, und ich weiss auch nicht, mit wem ich spreche. Egal ob es um Sport geht, Sexfantasien oder Alltagsmelancholien. Ich kann ja auch, wenn ich gesperrt werde oder mir mein vorhergehendes Verhalten peinlich geworden ist, einfach einen neuen Account anlegen: dafür braucht es nur einen neuen Nickname, vielleicht eine schnell erstellte Emailadresse: werichbinbinichnicht@hotmail.com.

Laura, 22, Zürich
HABBO: Habbo ist so eine Art interaktives Sims. Wir, also ich und meine Freundinnen, verbrachten sehr viel Zeit damit, uns Avatare zusammenzustellen: Frisur, Geschlecht (gab leider nur 2 🙁 ), Haarfarbe, Klamotten und 5 verschiedene Kopftypen und Hautfarbe. Bisschen so wie Legofiguren aus Pixeln. Und mit diesen Figuren konnten wir dann in verschiedene Räume gehen, wo andere Figuren waren. Mit denen konnte man schreiben. Außerdem konnten wir auch baden oder tanzen oder uns eine eigene Wohnung einrichten. Aber eigentlich ging es uns nur darum, fremde Leute anzuschreiben und sie entweder in kreativen Neologismen zu beleidigen (das Programm macht aus allen bekannteren Schimpfwörtern ein harmloses «Habbo») oder uns mit Typen zu verabreden, denen wir Bilder aus der Google Image-Search «Sexy Girl» geschickt hatten. Natürlich sind wir da nie hingegangen, sondern haben uns stattdessen vorgestellt, wie die Typen dann zum Eiscafé fahren und vergeblich auf Melanie, 16, Unterwäschemodel warten. Dummerweise mussten wir uns dann jedes Mal eine neue Figur machen, denn «WO WARST DU hast du mich verarscht??!!»

Nala1983, So 29.5.16, 16:49
Ich ha au jedesmol d Hoffnig wen i do mol wieder Online kumm, dass sich irgendöbis gändert het. Es git so viel Social Media Pages und ich bi nach wie vor Überzügt, dass e Plattform für Basler no immer Sinn mache würd.
S wär au scho lang an dr Zyt, das nur agmoldeni User Bilder & Forumbiträg könnte läse. Dateschutz isch
gleich Null so wies jetzt isch inbesondere wil die Inaktive
und glöschte Profil glich no ihri Bilder do Online hän siehe Fotocharts. Ich dänk vieli Ex User wüsse nit mol, dass ihri Bilder no immer Öffentlich zuegänglich sin.

eigeni, So 19.6.16, 09:34
nei jo nid lösche oder so!!! ich find immer wieder alti profil vo mir und fründe. mittlerwiile wär das fascht scho es usradiere vo öbbis mit gschichtlichem wärt. fz isch feste teil vonere ganze generation gse, jo nid eifd verschwinde loh!

Claricè, 24, Berlin – bis vor einem halben Jahr noch auf FACEBOOK: Facebook war blau. Blau steht im Marketingbranding für «stark», «solide» und «zuverlässig». In kulturwissenschaftlichen Studiengängen hingegen wird die Farbe oft als «melancholisch» oder «gedankenschwer» beschrieben. Hm, wer hat jetzt also Recht?

Ich habe mich auf Facebook oft blue gefühlt. Facebook hat kein Interesse an glücklichen User*innen: die brauchen nichts und haben vielleicht sogar besseres zu tun, als zu usen. Aber wenn wenn wir nicht glücklich, sondern traurig sind, dann halten wir Ausschau nach Projektionsflächen – vielleicht klicken wir sogar auf diese Add hier, dieses eine Produkt könnte uns theoretisch ja erlösen. Oder wir sind richtig wütend, ja, wir sind so unglaublich wütend, dass wir Petitionen unterschreiben und verbreiten. Wer ist wir? Naja, weißt schon, die Bubble. WIR TEILEN UNSERE WUT!1!1!! Oder scrollen stumm durch das vermeintliche Leben der Anderen. Vielleicht melde ich mich in 10 Jahren wieder an, wer weiß. Aber jetzt muss ich erstmal meine nähere Umgebung in den Griff kriegen.

Meine Profile auf den anderen Seiten habe ich, glaube ich, nie gelöscht – ich habe sie einfach immer weniger besucht und irgendwann vergessen. Darum weiss ich nicht, ob das eigene Löschen damals schon so eine Farce war, wie heute auf Facebook, wo ich eine ganze Reihe von vorwurfsvollen Fragen beantworten muss, wenn ich den Schritt wagen will: Du willst dein Profil löschen? Willst du das wirklich? Bist du sicher? Wieso willst du das? Schicke Facebook eine Begründung, und zwar jetzt.
Wir sind sehr traurig, dass du uns nicht mehr besuchen willst. Wer ist wir? Lasst mich in Ruhe.

Rick, 23, Wien
SPOILER: Der Friedhof als Netzwerk. Ich stelle mir vor, wie du an einem verregneten Tag auf meinen Grabstein klicktst und meinem Profil einen Besuch abstattest. Dir gefällt mein Grabvers «Ich ziehe an Türen, auf denen dick und fett DRÜCKEN steht.» Und vielleicht legst du ein paar Vergissmeinnicht in mein Gästebuch ab, bevor du weitersurfst. Ich werde derweil von Regenwürmern geteilt.

Clean your Mac ist ein post-nationales Kollektiv für Empathie, Bewegungsfreiheit und humanitäre Bewegung.

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