«Wehe» – das neue, unregelmässig in der Fabrikzeitung stattfindende Format des Autorinnenkollektivs Rauf. Künstlerin und Autorin Sarah E. Müller besingt hier herrliches Genie und dämliches Überreizen. Wir alle kennen die Geschichte: Ein in allen Belangen überragender Mann plant das Schreiben eines Jahrhundertwerks.
Was hat der Herr nicht alles gelesen, was hat er nicht alles an grossen Meistern intus; zitieren und reflektieren kann er, dass das Hirn sich kräuselt. Der Busen schwillt, die seichten Oberflächen weichen. Zusammen mit einem Freund, der er selbst ist, will er der Nacht, seiner einzigen Braut huldigen. Mit Kokain und Onanie. Aber zuerst ein paar triftige Sätze über das Weib. Die muss er vorher noch zu Papier bringen. Sonst könnte man noch denken, er sei von drüben, von jenseits des Flusses. Ach die fernen Ufer. Verheissungsvolles Wellengeplätscher und dort der Fährmann, ein ehrlicher Mann, ein braver Mann, ein einsamer Mann, ein weiser Mann; er gerät ins Schwärmen. Aber eigentlich hatte er sich doch das Weib vorgenommen, eigentlich. Lange halten wird es ihn nicht. Nicht lange abhalten. Von den wahren, grossen Dingen. Schlicht zu einfältig. Gekicher und Sinnlichkeit. Lästige Ephemera umschwirren die Mannesfrucht.
Der Plattenspieler knackt im Leerlauf. Notizheft und Füllfeder liegen akkurat. Unendliche Qualität, unermessliche Exaktheit und Ausgesuchtheit. Gleich wird er die Natur mit dieser Füllfeder beschreiben, gleich. Erhabene Gipfel, klare Furt und Männlichkeit. Aber da war doch noch etwas… Ach ja, das Weib. Das Weib hat eindeutig zuviel Besuch. Von zu vielen Verschiedenen. Stolzer sollte sie sein. Soweit sind sich alle einig. Aber wer kommt denn da zu Besuch? Edle Herren mit Pfeife und Mantel? Ja. Haben die Herren Würde und sind sie ganz berechtigt? Logischerweise. Blicken sie sinnierend in die Spiegelungen und Brechungen des Lichts, das sie selbst abstrahlen? Mit Bestimmtheit. Mit zuvorkommender Geste. Halten. Sie. Die. Tür. Auf. Über die Schwelle schreitet eine Sünde, weichen Fleisches und Verstandes drapiert sie sich auf dem Diwan.
Schwitzend legt er das Heft beiseite. Das hat er davon. Verpatzt sind die weitläufigen Hochplateaus der Überlegungen, durch Wolllust. Ein Glas exquisiten Starkgetränks wird Abhilfe schaffen. Ein Lob dem Getränk. Und noch eins auf die Nacht! Sie wartet bestimmt schon, sehnt ihn herbei. Seine düstere Braut, sie tanzt den Tanz der Ambivalenz. Stets weicht sie von ihm zurück, ewig strebt er ihr entgegen, auf immer wird er einsam bleiben. Sein Glied ragt in den leeren Raum. Eins unter vielen. Eine Nadel im Heuhaufen. Alles anständige Gesellen. Er nestelt an der Plastiktüte. Jetzt aber her mit dem Pulver. Nachher wird er über einen Anderen schreiben, einen fremden Helden und in dieser Form von sich selbst erzählen. Alles, was dieser Andere sagt und denkt, ist allgemeingültig und von grösster Wichtigkeit. Ein findiger Trick, falls mal jemand nachfragt. Meist aber fragen sowieso nur die Dummen. Und die Weiber. Aus Neid. Weil man sie immer mit ihren Inhalten verwechselt. Sie tragen selbst Schuld, die Austragenden. Wühlen im Konkreten, wo doch das Abstrakte erst den Geist zu öffnen vermag. Es juckt in der Nase. Jetzt spürt er es schon, wie er sein eigener Freund wird. Am Busen der Nacht.
Die Inspiration schiesst ihm wieder in den Arm. Die Natur wollte er doch noch von langer Hand heranziehen. Als Begründung und Urgrund aller Gründe. Genau, jawohl. Dort wo noch alles geregelt ist, wird es doch bestimmt noch das ein oder andere Unverrückbare geben, das herhalten kann für die weitere Konservierung des bereits Konservierten. Hoffentlich sind keine Geschlechtskeime oder Pilze ins Einmachglas geraten. Sonst könnte es zur Gärung kommen. Oder gar zur Fermentation… Ihm wird flau. Nein, niemals. Exaktheit. Kontrolle. Autorität! Und sonst der Griff zum Altbewährten. Sein Griff verengt sich. Die vor Anspannung weissen Fingerknöchel umkrallen die Füllfeder. Aber das wird nicht nötig sein. Alles wird sich von selbst regeln. Eine wohlerwogene Mischung zivilisatorischer Massnahmen und Urgewalten herrscht in der Welt. Der Herr atmet aus und ist ganz bei sich. Meisterhaft, die Kurve, die er da gerade noch gekratzt hat. Schlicht grossartig, ein genialistisch kalkuliertes Leseerlebnis.
Anerkennend umwabert ihn die Dunkelheit. Bald schon wird der Morgen grauen und der Leserschaft wird dämmern, dass ein weiterer Halbgott dem Schoss der Nacht entsprungen ist. Wieder einer, der sein eigener Freund ist und sein eigener Bruder ist, seine eigene Schwester und auch sein eigener Hund; einer, der alles in sich birgt: die Sicht auf das Weltgeschehen, die Sicht auf das Selbst und die Sicht auf die Ordnung des Selbst innerhalb des Weltgeschehens. Sein Gesichtsfeld beginnt sich zu verengen. Jetzt strebt er geradewegs auf die Vollendung zu. Das Pulver räumt alle Zweifel beiseite. Gleich dort vorne ist die Wahrheit, er spürt es. Der Winkel stimmt, die Stossrichtung – einwandfrei. Später dann wird er selbstverständlich noch ein paar relativierende Nebensätze daruntersetzen. Komplexes Wesen, das er ist. Beinahe ergiesst er sich über das Heft. Er fuchtelt mit der Lanze in der Luft. Kampf der Gedanken! Sein System, das ist er.
Was macht eigentlich das Weib, derweilen er mit seiner eigenen Grösse ringt? In träger Wärme versunken träumt sie von Tulpen und Parfüm. Dreht und wendet die Puderdose in den feingliedrigen Fingern, ein leeres Versprechen. Ihre Röcke rahmen sie wie verwelkte Blütenblätter. Beleidigt rümpft er die Nase. Sie ist schon verdorben. Sie wehrt sich nicht. Wenn sie sich weiterhin so gleichgültig verkommen lässt, wird er noch allen Respekt vor ihr verlieren. Diese Augen, gross wie Teiche. Darin versinken die Erlebnisse ohne Widerhall. Ohne dazu gedachte Gedanken, ohne Sinn. Belustigt wendet er sich ab. Darüber kann er nur lächeln. Auch etwas Liebe ist in diesem Lächeln. Auch etwas Väterliches. Und würde er sich ihr hingeben, täte er sich gleich mit belächeln. Denn selbst das Triviale an ihm lässt sich mühelos abspalten und von aussen betrachten. Mit Definitionsmacht und Selbstverständnis rückt er sich zu Leibe. Er versteht, was er meint und wer er ist, daher kann ihm kein Rückschluss schaden. Verschleierung wertvoller Absichten mittels semantischer Augenwischerei? Sackgasse, liebe Kritikerinnen, Sackgasse. Des einen Ei ist des anderen Bratpfanne, merken Sie sich das. Aber keine Abschweifung, Drohungen hat er schliesslich gar nicht nötig, im Unterton ist schon alles enthalten.
Die zukünftigen Lehrkräfte der zukünftigen Gymnasien werden sagen: Der Mann war ein Volksschriftsteller, einer der nie hätte, einer der stets hatte, einer der Relevantesten, einer, der im Kreise der anderer Relevanten gedieh und dessen Bedeutung und Welthaltigkeit nicht relativiert wurde durch die Bedeutung der anderen Kreismitglieder. Und mochte auch in seinen Untertönen ein fragwürdiges Lied über dieses oder jenes Weib mitgeklungen haben, so war er doch ein Mann seiner Zeit und jene Zeit war nun mal eine jener Lieder und Leiern, mit zeitgemässen Tönen und Subtexten, sozusagen eine Zeit wie unsere und unsere Zeit ist begrenzt. Es gibt nur so und soviel Zeit und Raum, und wüssten wir nicht, welches Volksschriftstellertum vor unserer Zeit eben diese Zeit und diesen Raum bevölkert hat, so wüssten wir nicht, welch ein Volk wir heute sind und wo wir im Lehrplan stehen und überhaupt.
Warum die Freiheit der Kunst denn stets so zeitgemäss ausfalle?, mault das Weib vom Diwan. Entsetzt dreht er sich zu ihr um. Sie ist ja noch immer da. Und zu Kommentaren aufgelegt. Sehr ungünstig. Er schweigt probehalber, aber das Weib ist bereits angeheizt: Ob die Freiheit denn nicht Bilder und Töne hervorbringen müsste, die an Vielfältigkeit nicht zu überbieten wären?, will sie wissen. Stattdessen gelange man doch ständig aufs Neue an drei Männer im Schnee, drei alte Männer, drei Männer hinter dem Vorhang oder drei Männer im Freudenhaus. Wie eine fauchende Dampfmaschine nähert das Weib sich seinem Schreibtisch. Mühsam beherrscht umklammert er seine Füllfeder. Wenn sie bloss nicht so schreien würde.
Achtlos greift sie sich das Notizheft, lässt die Seiten flattern. Leid sei sie es, zischt sie. Zwischen den Zeilen, den Seiten und auf den Bühnen, überall dieselbe Leier. Die Kulissen führen Karussell, während die Herrschaften die Plätze und Sitze der Gegenwart besetzen und besitzen, bis sie halb tot im Rollstuhl von der Bühne gekarrt werden müssten! Mit wechselnder Besetzung werde der Kanon der Selbstbesessenheit immer neu aufgeführt, mit Güte besiegelt allein schon der Tradierung wegen, besungen im eigenen Echoraum, endlose Verzückung des Narziss. Die Herrschaften schreiben jederzeit das beste Stück der Saison? Das Beste sei es allein schon, weil sie es sich vornehmen? Jawohl. Denn es stehe im Titel, im Untertitel, im Feuilleton und im Gesetz, es sei wahr und vielschichtig, es sei hochkomplex und doch mit einem Augenzwinkern in Richtung Vergänglichkeit versehen. Da der Tod, dort die Nacht, oh ewige Braut, dein werden sie sein, die genuinen Herrschaften, aber nur im fleckigen Licht verzerrter Verzehrung und ansonsten hätten sie gerne ihre Ruhe, denn sie seien schliesslich Schriftsteller, nicht wahr?
Fordernd türmt das Weib sich vor ihm auf, die Röcke rascheln bedrohlich. Warum ist sie so aufgebracht? Wenn sie wenigstens statt ihres unschicklichen Verstandes zarte Seide tragen, statt ihrer überreizten Assoziationen Perlen auf Garn aufreihen würde. Dann liesse er mit sich reden. Aber so nicht. Nicht in diesem Ton. Er weist auf die Tür. Sie weist ebenfalls auf die Tür. Sie werde ihn nicht länger aushalten, gehen solle er und sich erhalten. Sie werde sich die Freiheit nehmen, sich in der Freiheit der Kunst noch einmal kräftig zu echauffieren, bevor sie die Geschichte neu und sich selbst gleich mit einschreiben werde. Die Gönnermutter und Mäzenin habe jetzt lange genug mitverfolgen dürfen, wie er vom Pulver angeschwollen seine selbstgefälligen Runden auf dem Papier drehe.