Az. 5 U 15/17 OLG Hamm Lliuya ./. RWE AG. Hinter diesen Aktenzeichen verbirgt sich eine Revolution. Am Mittag des 13. November 2017 sitzt Saúl Luciano Lliuya in Saal A 005/006 des Oberlandesgerichtes Hamm. Niemand vor ihm hat je einen so weiten Weg in diesen Raum zurückgelegt: 10’522 Kilometer. Lliuya lebt in der Andenstadt Huaraz in Peru. Dort, am Rand des Gebirges Cordillera Blanca, ist Lliuya Kleinbauer und Bergführer. Nach Nordrhein-Westfalen ist er gekommen, um den Energieriesen RWE zu verklagen. Denn RWE ist der größte CO2-Emittent Europas. Und die Menschen in Peru bekommen den Klimawandel heftig zu spüren.
Lliuya begegnet ihm jedes Mal, wenn er Touristen in die 7000 Meter hohen Berge seiner Heimat führt: Die Gletscher ziehen sich zurück, während die Gletscherseen wachsen. Zum Beispiel die Lagune des Palcacocha-Gletschers, nördlich von Huaraz: Darin stehen siebzehn Millionen Kubikmeter Wasser. Der See ist heute dreissig Mal so gross wie vor vierzig Jahren, sein Volumen hat sich seit 2003 vervierfacht. Das kann Lliuya und 50’000 weiteren Bewohnern der Region zur tödlichen Gefahr werden: Die fortschreitende Gletscherschmelze oder ein Erdrutsch können den Damm zum Bersten bringen. Eine dreissig Meter hohe Flutwelle könnte die Stadt verwüsten. Das haben Wissenschaftler der Universität Texas in Austin nachgewiesen.
RWEs dreissig fossile Kraftwerksblöcke stossen in Deutschland knapp 250 Millionen Tonnen CO2 aus: fünfmal mehr als Peru mit Verkehr, Elektrizitäts- und Wärmeproduktion zusammen. Drei der fünf Braunkohlekraftwerke, die in Europa am meisten CO2 ausstossen, gehören RWE: Neurath, Niederaussem und Weisweiler. Alleine RWE ist deshalb für knapp ein halbes Prozent des globalen Klimawandels verantwortlich. Lliuya fordert deshalb, dass der Konzern entsprechend seinem Anteil am Klimawandel 0,47 Prozent der Summe bezahlt, die seine Gemeinde in den Hochwasserschutz investieren muss: rund 17’000 Euro. Ein lächerlicher Betrag, den der Konzern (Umsatz: 46 Milliarden Euro p.a.) aus der Portokasse zahlen könnte. Und wohl viel weniger Geld, als der Energieriese für den juristischen Beistand der Wirtschaftskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer LLP bezahlt. Aber um Geld geht es hier nicht, sondern um eine simple Frage mit globaler Dimension: Kann ein einzelnes Unternehmen für die Folgen des Klimawandels oder für andere Schäden am anderen Ende der Welt haftbar gemacht werden?
Selbstverständlich. Sagt Lliuyas Anwältin Roda Verheyen. Die Umweltjuristin beruft sich auf Paragraf 1004 aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch: Er besagt, dass man Anspruch auf Reparatur oder Unterlassung hat, wenn das, was einem gehört, durch jemanden beeinträchtigt wird. In diesen Fall das Haus des Peruaners, das weggeschwemmt würde, bräche der Damm. «Dieses Recht ist allgemeingültig», sagt Verheyen, «so kompliziert ist die Sache gar nicht. Mein Kläger sagt etwas sehr einfaches: Die RWE AG nutzt ihr Eigentum, insbesondere Kohlekraftwerke, seit Jahrzehnten, um Einkommen zu generieren – und sein Eigentum wird dadurch beeinträchtigt.»
Selbstverständlich nicht. Sagt RWE. Es sei in Deutschland nicht verboten, Kohle zu verbrennen. Und man könne nicht nachweisen, dass die von RWE ausgestossenen Moleküle zum Klimaschaden in Lliuyas Heimat beitragen. Das Landgericht Essen wies die Zivilklage nach der ersten Anhörung im November 2016 tatsächlich zurück.Mit breiter Brust also betreten die Juristen von RWE und ihre Anwälte ein Jahr später den Gerichtssaal zum Berufungsverfahren. Der Saal ist bis auf den letzten Platz mit Kohlekraftgegnern, Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten besetzt. In der ersten Reihe sitzt Mojib Latif vom Potsdamer Institut für Klimaforschung, er ist ein Sachverständiger der Kläger: «Die Emissionen von RWE sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit klimawirksam geworden und lassen sich auch als Anteil der Temperaturerhöhung berechnen» – sein Fazit steht in den 700 Seiten Schriftsätzen beider Seiten. Schnell wird deutlich, dass der Vorsitzende Richter Rolf Meyer den Argumenten von Lliuyas Anwältin Verheyen folgt. Das siegessichere Lächeln der RWE-Vertreter gefriert blitzartig, während sich die Gesichter auf Kläger-Seite und im Publikum aufhellen. Und ehe sich die Herren Unternehmensanwälte versehen, fragt der Richter, ob die Beklagte dem Kläger ein Angebot machen wollen, etwa einen Beitrag zur Errichtung des Damms zu zahlen.
Mechanisches Kopfschütteln. «Nein», sagt ein RWE-Anwalt. «Unsere Emissionen entstehen nicht aus sinistrer Absicht. Wir versorgen Deutschland mit sicherem Strom und sorgen damit für ein menschenwürdiges Leben. Dazu gehört auch Strom aus Kohleverbrennung, der Staat erlaubt das im Gemeinwohlinteresse. Unsere Emissionen sind nicht rechtswidrig.» Die Klage sei ein Verstoss gegen Artikel 20 Paragraf eins des Grundgesetzes. «Eine Verbindung dazu haben wir nirgends gefunden», kontert Meyer trocken, «wenn die Rechtslage so einfach wäre, dann hätte eine Kanzlei von Ihrem Format nämlich nur zehn Seiten Schriftsätze gebraucht».
Das Publikum johlt und applaudiert, es fühlt sich ja auch an, als sässe man in einem Theaterstück. Denn an diesem Tag prallen in diesem Gerichtssaal Welten aufeinander: Die des reichen Nordens, der globale Ungerechtigkeit zu seinem Vorteil stets in Rechtssprechung giesst. Und die des globalen Südens, der sich diesem faktischen Unrecht nicht länger beugen will.
Während Betroffene von Menschenrechtsverletzung kaum rechtliche Mittel dagegen in der Hand haben, sind die Profite von Konzernen und Investoren bestens juristisch geschützt: durch völkerrechtlich bindende Freihandels- und Investitionsschutzabkommen. Solche Verträge schaffen ungehinderten Zugang zu Rohstoffen, billiger Arbeitskraft und Absatzmärkten. Mehr als 180 Länder haben insgesamt 3200 solche Abkommen geschlossen.
Die enthaltenen Schutzklauseln ermöglichen transnationalen Konzernen, Staaten zu verklagen, wenn sie Gesetze zum Arbeits-, Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz einführen, die ihre Rendite verringern könnten. Allein die Androhung solcher Klagen reicht oft aus, klamme Regierungen in Ländern des Südens gefügig zu machen. Zumal Firmen die Staaten vor Schiedsgerichten klagen: Hinter verschlossen Türen verhandeln keine unabhängigen Richter, sondern private Anwälte, die weder parlamentarischer noch demokratischer Kontrolle unterliegen. Weil die Einhaltung von Menschenrechten Staatspflicht ist, können aber nur Staaten – und nicht Konzerne – vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gebracht werden.
Auf allen Kontinenten sind Länder von Konzernen verklagt worden: etwa wegen des Verbots giftiger Chemikalien oder der Einschränkung umwelt- und gesundheitsschädlicher Bau- und Rohstoffprojekte. In den vergangenen zwanzig Jahren ist die Anzahl solcher Klagen explodiert: 1995 gab es nur drei, derzeit laufen mindestens 700. Besonders betroffen: die Ärmsten. Laut der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) richten sich zwei Drittel dieser Klagen gegen Schwellen- und Entwicklungsländer. 85 Prozent der Kläger kommen aus den reichen Ländern des Nordens, ein Drittel davon aus der EU. Deutschland ist hier besonders rührig: Der Exportweltmeister hat weltweit 156 Investitionsschutzabkommen abgeschlossen und mit 139 die meisten bilateralen Abkommen der Welt. Viele davon sehen Schiedsgerichte vor. Mit 40 Klagen liegt Deutschland auf Platz vier der Staaten, aus denen Investoren und Unternehmen andere Staaten vor Schiedsgerichte zerren.
2011 verabschiedete der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen einstimmig die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Sie umfassen die völkerrechtliche Pflicht von Staaten, Menschen vor Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen zu schützen. Sie fordern von Unternehmen, Menschenrechte zu respektieren, menschenrechtliche Risikoanalysen ihres Kerngeschäfts durchzuführen, diesen Risiken entgegenzuwirken und darüber transparent zu berichten. Sie verpflichten ausserdem Staaten, Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen Rechtsmittel zu garantieren.
Alle Staaten waren dazu aufgerufen, Pläne vorzulegen, wie sie die Leitlinien umsetzen wollen. Doch der Nationale Aktionsplan «Wirtschaft und Menschenrechte» der Bundesregierung, den diese sechs Jahre später verabschiedete, setzt ausschliesslich auf die Freiwilligkeit der Unternehmen. Gesetzliche Regelungen, die Firmen dazu hätten zwingen können, ihre Sorgfaltspflichten einzuhalten, fehlen. Nicht einmal bundeseigene Unternehmen werden gesetzlich zur Einhaltung der UN-Leitlinie verpflichtet. Auch wird die Bundesregierung Firmen nicht von öffentlichen Aufträgen, Subventionen oder Aussenwirtschaftsförderung ausschliessen, wenn sie ihre Sorgfaltspflicht missachten. Die Bundesregierung weigert sich zudem, bürokratische Hürden vor dem Zugang zu Recht und Gerichten abzubauen. Damit bleibt es für Menschen in den Ländern des Südens nahezu unmöglich, deutsche Firmen für die Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen. Dabei sitzen in wenig anderen Ländern der Welt so viele Unternehmen, denen eine Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen angelastet wird, wie in Deutschland. Deutschland steht weltweit auf Rang fünf bei der Verletzung von Menschenrechten durch seine Unternehmen. Eine Studie der Universität Maastricht belegt: 87 von 1800 Menschenrechtsbeschwerden gehen zulasten deutscher Firmen.
Saúl Luciano Lliuya hat hier nicht nur dem Klimawandel ein Gesicht gegeben. Sondern auch der Externalisierungsgesellschaft, die über die Verhältnisse anderer lebt und diesen anderen die Folgen dieses Wirtschaftens und der imperialen Lebensweise wie natürlich aufbürdet: «Bei uns werden die Leute ganz selbstverständlich geschützt, hier gäbe es mit Sicherheit eine stabilen Staudamm», sagt Richter Meyer. Es sei doch kein Zufall, dass hier kein Kläger aus Deutschland oder einem anderen reichen Land Europas hier sässe, sondern einer aus Peru.
«Was heisst das denn für uns alle, wenn das hier Recht bekommt? Es käme zu einer Klagewelle aller gegen alle», bäumt sich der RWE-Anwalt noch einmal auf. Ein Jahr zuvor, im Landesgericht Essen, hat er diese Rede noch mit einem Seitenhieb auf Lliuya versehen: Es stosse ja auch jemand, der von Peru nach Deutschland fliege, CO2 aus. So lautet die arrogante Botschaft dahinter: Da könnte ja jeder kommen!
Aber natürlich: Sollen alle kommen, die Anspruch auf Wiedergutmachung haben! Dann müssten wohl künftig alle Verschmutzer das Risiko von Entschädigungen in ihren Bilanzen berücksichtigen. Würde es tatsächlich zu einer Klagewelle kommen, würde das, man wagt es sich kaum vorstellen, dazu führen, dass Unternehmen ordnungspolitisch zur Verantwortung gezwungen würden. «Dürfen wir die Leute dort wirklich alleine lassen und sagen, das geht uns nichts an? Wäre das gerecht?», fragt Meyer. «Ja, wäre es», entfährt es einem RWE-Anwalt trotzig, «die Haftung eines einzelnen Unternehmens ist ungerecht und verfassungswidrig.»
So klingt das, wenn man sich nicht mehr hinter dem moralische Geschwätz, das PR-Profis in den Nachhaltigkeitsabteilungen dichten, verstecken kann. Wenn es um Rechtsansprüche einerseits geht und um Gewinne andererseits, fällt die freiwillige Unternehmensverantwortung in sich zusammen wie eine Sandburg unter einer Flutwelle. Es ist eine historische Entscheidung, dass das Oberlandesgericht Hamm die Klage annimmt und der Beweisaufnahme zustimmt. Damit hat erstmals ein deutsches Gericht zu erkennen gegeben, dass grosse Emittenten verpflichtet sind, Betroffene von Klimaschäden in armen Ländern zu unterstützen. Natürlich haben Lliuya und Verheyen die Klage noch nicht gewonnen. Aber sie haben Rechtsgeschichte geschrieben. Oder, wie es der strahlende Saúl Luciano Lliuya nach der Verhandlung in die Presse-Mikrofone sagt: «Die Berge haben gewonnen. Die Lagunen sind die Tränen der Berge, und die Gerechtigkeit hat das gehört und hat uns recht gegeben.»