Vor 150 Jahren hat Karl Marx Band 1 von ‹Das Kapital› veröffentlicht. Heute ist das Kapital überall. Bildung ist Investition in Humankapital. Politiker*innen schlagen aus Ereignissen politisches Kapital. Im Showbiz macht man (und erst recht frau) Karriere mit erotischem Kapital. Greenpeace warnt vor der Zerstörung des Naturkapitals von Mutter Erde. Die Krankenversicherung ruft dazu auf, in unser Gesundheitskapital zu investieren. Und so weiter und so fort.
Das Kapital hat sich entgrenzt und vervielfältigt
Es gibt nicht mehr nur die traditionellen Kapitalformen, auf denen der Kapitalismus seit jeher beruhte: Handelskapital, Industriekapital, Finanzkapital. Das Kapital hat sich entgrenzt und vervielfältigt. Es ist in alle Poren der Gesellschaft eingedrungen, sogar in unser Innerstes. Es überschreitet alle Grenzen, nicht nur die Geografischen. So jedenfalls sieht die heutige Welt auf den ersten Blick aus.
Hatte nicht Marx den Schlamassel vorausgesehen? In seiner Analyse der kapitalistischen Finanzwelt im dritten ‹Kapital›-Band schreibt er Folgendes: «Mit der Entwicklung des zinstragenden Kapitals und des Kreditsystems scheint sich alles Kapital zu verdoppeln und stellenweis zu verdreifachen durch die verschiedne Weise, worin dasselbe Kapital oder auch nur dieselbe Schuldforderung in verschiednen Händen unter verschiednen Formen erscheint.» Aha. «So geht aller Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozess verloren.» Und: «Die Form des zinstragenden Kapitals bringt es mit sich, dass jede bestimmte und regelmässige Geldrevenue als Zins eines Kapitals erscheint, sie mag aus einem Kapital entspringen oder nicht. Erst wird das Geldeinkommen in Zins verwandelt, und mit dem Zins findet sich dann auch das Kapital, aus dem es entspringt.»
Oje, was soll denn das nun heissen?
Vereinfacht gesagt hängt zum Beispiel mein Lohn von meiner Ausbildung ab, und deshalb wird diese Ausbildung als Kapital betrachtet. Als Humankapital, das einen Zins abwirft: ein höheres Einkommen. Genauso gilt: Ein Fussballer verdient viel Geld, weil er trainiert, das heisst in sein Körperkapital investiert hat. Und so weiter. Marx hingegen hielt an der Vorstellung fest, Ausbildung oder Körper seien kein Kapital, auch wenn sie als solches wahrgenommen werden können.
Wer soll denn heute noch in den Ring des Klassenkampfes steigen?
Kein Wunder hielt er die Finanzwelt für die «Mutter aller verrückten Formen». Deren Analyse hat es ihm erlaubt zu antizipieren, dass in unserer Gesellschaft irgendwann einmal (fast) alles als Kapital betrachtet werden könnte. An dem Punkt sind wir nun angekommen. Die Spezialisten nennen es «Ökonomisierung». Alles wird durch die Brille der Ökonomie betrachtet. Die Ökonomisierung verwischt politische Gegensätze, vor allem zwischen rechts und links.
An den Universitäten wehren sich linke und rechte Professor*innen gemeinsam gegen den Einfluss der Hochschulmanager und Sponsoren. Im Gesundheitswesen beruft sich die SP wie die FDP auf ökonomisches Expertenwissen. Noch schlimmer: Die Ökonomisierung bringt traditionelle Klassengegensätze zum Verschwinden. Wer soll denn heute noch in den Ring des Klassenkampfes steigen, wenn sich alle als «Ich AG» oder «Selbstunternehmer*innen» verstehen und fleissig in Humankapital investieren? Selbst die unter der Armutsgrenze lebenden indischen Bäuerinnen werden mit Mikrokrediten zu Unternehmerinnen ihrer selbst gemacht!
Wo ist sie also geblieben, diese Eindeutigkeit, diese Übersichtlichkeit, die wir mit dem Namen von Marx verbinden? Proletariat gegen Bourgeoisie; Klassenkampf führt zur Revolution; Sozialismus tritt an die Stelle des Kapitalismus; etc. Bietet sein Hauptwerk wenigstens den rettenden Anker, an dem wir uns festhalten können, um den Kampf gegen die Ökonomisierung aufzunehmen? Gibt Marx uns die Instrumente an die Hand, mit deren Hilfe wir die Macht des ökonomischen Denkens begrenzen und die Ökonomie als Wissenschaft des Kapitals vom hohen Ross stürzen können? Immerhin trägt ‹Das Kapital› ja den Untertitel «Kritik der Politischen Ökonomie».
War Marx Ökonom oder Ökonomiekritiker?
Ganz eindeutig ist die Sache aber nicht. Es stellt sich nämlich die Frage, was Marx eigentlich vorhatte: Wollte er die «bürgerliche Ökonomie» kritisieren, um diese durch eine bessere ökonomische Theorie zu ersetzen? Oder ging es ihm darum, die Ökonomie als eigenständige, von den anderen Disziplinen getrennte Wissenschaft «auf den Müllhaufen der Geschichte» zu werfen? Anders gefragt: Wollte er die Ökonomie «vom Kopf auf die Füsse stellen», oder wollte er sie «aufheben» und «überwinden»? War Marx Ökonom oder Ökonomiekritiker? Oder war er beides in Einem?
Klar ist: Seine einflussreichsten Anhänger wie seine wichtigsten Kritiker haben ihn als Ökonomen betrachtet. Die Marxisten haben aus ihm den grössten Ökonomen aller Zeiten gemacht. Die Liberalen haben ihn in die Schublade der überholten klassischen Arbeitswertlehre gesteckt. Beide Seiten hatten ein gemeinsames Interesse: Sie wollten über einen eindeutigen Marx verfügen, den man entweder gut oder schlecht finden konnte. Also bitte en bloc: entweder «für Marx» oder «gegen Marx», wie der marxistische Philosoph Althusser sagte. Der neoliberale Ökonom Friedman sah es genauso. Doch was ist, wenn sich die Frage nicht so eindeutig beantworten lässt?
Marxisten wie Antimarxisten haben 150 Jahre lang geflissentlich darüber hinweggesehen, dass ‹Das Kapital› ein unvollendetes Werk ist. Marx hat nur den ersten Band selbst veröffentlicht, und auch diesen wollte er vor seinem Tod nochmals grundlegend überarbeiten. Band zwei und drei wurden durch Engels publiziert. Seit dem Ende des Kalten Kriegs hat die Marx-Forschung grosse Fortschritte erzielt. Heute ist bekannt, wie unvollständig und zum Teil in sich widersprüchlich die umfangreichen Manuskripte waren, die Marx seinem Freund Engels hinterliess. Dieser bereitete sie in einer Weise zur Publikation auf, die Marx als überragenden Ökonomen erscheinen lassen sollte, dessen «wissenschaftlicher Sozialismus» (der Begriff stammt von Engels) der Menschheit den Weg in eine bessere Zukunft weisen würde. Auf diesen kanonischen Marx sollte sich später der sowjetische Staatssozialismus berufen (Marx hätte sich vermutlich im Grabe umgedreht). Die marxistische Produktion eines eindeutigen und der «bürgerlichen Ökonomie» überlegenen Marx beruhte auf der Fiktion, Engels habe nichts Anderes getan, als ein im Grunde bereits fertiges Werk editorisch zu vollenden, und er sei dazu – als Einziger – in der Lage gewesen, weil die innersten Gedanken der beiden Freunde «eins» gewesen seien. So beruht die marxistische Tradition nicht zuletzt auf der Erfindung einer romantischen Liebesgeschichte!
Marx hätte sich im Grabe umgedreht
Eine realistischere Sicht der Dinge legt nahe, dass Marx sein Werk auch deshalb nicht abzuschliessen vermochte, weil er in gewissen Fragen an Grenzen stiess oder sich in Widersprüche verwickelte. An der fehlenden Zeit allein kann es nicht gelegen haben: Immerhin arbeitete er mit Unterbrüchen 30 Jahre am Hauptwerk! Eine genaue Lektüre der Schriften zeigt auch, dass Marx’ in seiner Haltung gegenüber der Politischen Ökonomie schwankte: An manchen Stellen reproduziert er rein ökonomistische Sichtweisen; andere Abschnitte sind durch die Ambition geprägt, ökonomische Theorien zu verbessern; und nochmals andere Teile des Werks lassen das Ziel durchschimmern, die ökonomische Wissenschaft als solche hinter sich zu lassen.
Warum die vorherrschenden Strömungen des Marxismus den Ökonomen Marx in aller Regel dem Ökonomiekritiker Marx vorzogen, liegt auf der Hand: Sie wollten eine Theorie besitzen, mit der sich die Wirtschaft planen und politische Macht unter Berufung auf den wissenschaftlichen Sozialismus ausüben liess. Dafür eignete sich die Arbeitswertlehre hervorragend. So wurde aus Marx’ Schriften eine Staatsdoktrin, ja eine richtige Regierungswissenschaft gemacht: ein theoretisches Gebilde mit wissenschaftlichem Anstrich, auf das sich jene Techniken der Macht zu stützen vermochten, mit denen versucht wurde, Fünfjahrespläne umzusetzen, Kolchosen zum Funktionieren zu bringen, soziale Kontrolle auszuüben und Widerstände niederzuschlagen. Die Stimme der Ökonomiekritik wurde zum Schweigen gebracht, und der «real existierende Sozialismus» brachte seine eigene Ökonomisierung hervor: eine weitgehende Unterordnung des Lebens unter wirtschaftliche Ziele, um den Kapitalismus «ein- und überzuholen».
Gott Vater, Gott Sohn und der Heilige Geist treten in den ökonomischen Lehrbüchern auf
Für Regierungszwecke lässt sich der Ökonomiekritiker Karl Marx dagegen nicht einspannen. Oft spricht er in Rätseln, zum Beispiel im so genannten Fetisch-Kapitel: «Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. (…) [S]obald er als Ware auftritt, verwandelt [der Tisch] sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füssen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.»
Der Ökonomiekritiker liebt es zudem, Ökonomen und Theologen zu vergleichen. Wie ihm die Religion als «Opium des Volkes» erscheint, so die Ökonomie als «Religion des Alltagslebens», welche die realen Verhältnisse ver-rückt, das heisst verkehrt darstellt und vernebelt. Im dritten ‹Kapital›-Band vergleicht er die drei Produktionsfaktoren der kapitalistischen Ökonomie mit dem christlichen Theorem der Dreiheiligkeit: Gott Vater, Gott Sohn und der Heilige Geist treten in den ökonomischen Lehrbüchern auf und zeichnen das Bild einer «verzauberten, verkehrten und auf den Kopf gestellten Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als blosse Dinge ihren Spuk treiben». Dem Alltagsverstand wie dem durchschnittlichen Ökonomen «wird alles klar», je mehr «der innere Zusammenhang verborgen ist»; er «fühlt nicht mehr das Bedürfnis, weiter nachzudenken». Was wäre dem hinzuzufügen, wenn nicht der Hinweis, dass der monotheistische Charakter der kapitalistischen Religion sich heute dahingehend äussert, dass die Dreiheiligkeit in den Hintergrund tritt und alle erdenklichen Produktionsfaktoren unmittelbar als Kapital, in der Gestalt des Gott Vaters, auftreten.
Ein pragmatischer Vorschlag: Erstens wird der Wirtschaftsnobelpreis abgeschafft
Wer sich auf Marx beziehen will, um gegen die Ökonomisierung anzukämpfen, kann in seinem Werk also ökonomiekritische Konzepte aufspüren und für die heutige Zeit tauglich machen. Allerdings stehen wir vor der Herausforderung zu klären, was dies konkret heissen könnte: «die Ökonomie aufheben» oder «überwinden». Wie Marx die Philosophie aufheben wollte, ist ja bekannt. Die Philosophen sollten aus dem Elfenbeinturm herausgetrieben werden und sich in der Praxis die Hände schmutzig machen: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern», so lautet die elfte Feuerbach-These. Allerdings war sich Marx der potenziellen Wirkungsmacht von Theorien sehr bewusst, sonst hätte er kaum Jahrzehnte lang intensiv Theoriearbeit geleistet. Heute jedenfalls sind die Theorie-Effekte der Ökonomisierung in unserem Alltagsleben ebenso wie in Politik und Öffentlichkeit mit Händen zu greifen.
Deshalb sei zum Schluss ein pragmatischer Vorschlag skizziert, mit dem wir die ersten drei Schritte in Richtung «Aufhebung der Ökonomie» machen könnten: Erstens wird der Wirtschaftsnobelpreis abgeschafft. Zweitens werden alle wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Welt aufgelöst und die Ökonomie in das breite Spektrum der kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen eingereiht. Drittens werden überall «soziale Tribunale» eingerichtet, welche alle wirtschaftlichen Aktivitäten und Organisationen auf ihre sozialen Auswirkungen hin kritisch überprüfen. Selbstverständlich darf diese Aufgabe nicht spezialisierten Beamten oder Juristen überlassen bleiben, sondern erfordert breite Partizipation aller Bevölkerungsgruppen. Diese drei Schritte hätten dem Ökonomiekritiker Marx wohl gefallen, dem Ökonomen Marx hingegen nicht.