Als im September 1867 in Hamburg das ‹Kapital› erschien, hatte sich Karl Marx seit 23 Jahren intensiv mit der kapitalistischen Ökonomie auseinandergesetzt.

Marx versuchte zu zeigen, dass der Kapitalismus alles andere als «natürlich» ist

1844 im Exil in Paris hatte er sich zum ersten Mal mit den berühmten englischen Ökonomen Adam Smith, David Ricardo und James Mill beschäftigt. Während diese den Kapitalismus für eine «natürliche» Wirtschaftsordnung hielten, versuchte Marx in den erst lange nach seinem Tod veröffentlichten ‹Ökonomisch-philosophischen Manuskripten› zu zeigen, dass der Kapitalismus alles andere als «natürlich» ist. Die Menschen seien im Kapitalismus von ihrem eignen menschlichen Wesen «entfremdet». Was den Menschen vom Tier unterscheide, dass er mit Bewusstsein und nach eigenem Plan produziere, dass er in der Produktion seine eigenen Fähigkeiten entwickle, alles das sei den kapitalistischen Lohnarbeitern genommen. Sie könnten weder ihre Produkte, noch ihren Arbeitsprozess kontrollieren. Statt ihre Fähigkeiten zu entwickeln, würden sie in der kapitalistischen Produktion auf ihre physische Existenz reduziert.

Schon ein Jahr später, jetzt im Exil in Brüssel und dort in engem Kontakt mit lokalen Arbeitervereinen, kritisierte Marx diese Entfremdungslehre als zu philosophisch und zu abstrakt. Wie tiefgehend diese Kritik war und ob er sich damit gänzlich von jeder Entfremdungstheorie verabschiedet hatte, ist in der Literatur über Marx umstritten. Im ‹Kommunistischen Manifest›, das Anfang 1848 erschien, ging es nicht mehr um die Entfremdung des Menschen, sondern um die historische Entwicklung des Kapitalismus und den Klassenkampf zwischen «Bourgeoisie» und «Proletariat». Das ‹Manifest› war eine Kampfschrift von ca. 40 Druckseiten. Zur Ausarbeitung seines geplanten ökonomischen Werkes fand Marx jedoch keine Zeit: 1848 war das Jahr der europäischen Revolutionen. Marx kehrte nach Deutschland zurück und gab in Köln die «Neue Rheinische Zeitung» heraus, die im Revolutionsjahr 1848/49 eine wichtige Rolle spielte.

Nach der Niederlage der Revolution musste Marx erneut ins Exil, zunächst nach Paris, und nur wenig später, weil die preußische Regierung die französische unter Druck setzte, nach London. Hier lebte Marx, der bei seiner Ankunft kaum Englisch konnte, mit seiner Familie in den 1850er Jahren in bitterster Armut. Überleben konnte die Familie nur dank der großzügigen Hilfe von Friedrich Engels, der ebenfalls nach England emigrieren musste, der aber in Manchester in einer Firma, an der seine Familie beteiligt war, eine Anstellung fand.

Nirgendwo sonst als in London hätte Marx das ‹Kapital› schreiben können

Für Marx‘ Studien war London ein Glücksfall. Das britische Empire mit seinem weltumspannenden Kolonialreich war im 19. Jahrhundert die mit Abstand führende Macht. Die Entwicklung des Kapitalismus war in England am weitesten fortgeschritten und London war das ökonomische und politische Zentrum. Hier gab es ökonomische Zeitschriften, parlamentarische Untersuchungsberichte zu ökonomischen Fragen und vor allem die Bibliothek des Britischen Museums mit der damals weltweit größten Sammlung englischer aber auch internationaler ökonomischer Literatur. Nirgendwo sonst als in London hätte Marx das ‹Kapital› schreiben können. Hier begann er 1850 seine ökonomischen Studien noch einmal ganz von vorne.

Das ‹Kapital› war nicht die erste Frucht dieser Studien. Bereits 1859 war in Berlin ‹Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft› erschienen. Es sollte den Anfang eines auf sechs Bücher (Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, Außenhandel und Weltmarkt) angelegten Werkes bilden. In diesem ersten Heft hatte Marx lediglich den Zusammenhang von Ware und Geld untersucht und damit nicht nur die allgemeinsten Kategorien der kapitalistischen Ökonomie analysiert, sondern auch die Unhaltbarkeit einer damals vor allem in Frankreich einflussreichen sozialistischen Strömung aufgezeigt, die die private Warenproduktion beibehalten, das Geld aber abschaffen wollte.

Marx zeigte, dass Warenproduktion ohne Geld gar nicht möglich war. Das dünne Buch hatte nicht viel Erfolg: die meisten deutschen Leser wussten mit den recht abstrakten Erörterungen über Ware, Wertform und Geld nicht viel anzufangen. Marx konzipierte zwar eine Fortsetzung, veröffentlichte sie aber nicht. Bei der Ausarbeitung war ihm klar geworden, dass er noch längst nicht alle theoretischen Probleme gelöst hatte, und dass das anvisierte Sechs-Bücher-Projekt für eine Einzelperson zu ambitioniert war. Marx schränkte den ursprünglichen Plan ein: Das jetzt konzipierte ‹Kapital› sollte ungefähr den Stoff der ersten drei der 1859 geplanten Bücher umfassen, den Rest müssten andere ausarbeiten.

Das ‹Kapital› war ein Ereignis, auf das weder die akademische Welt noch die der Arbeiterbewegung vorbereitet war

Allerdings war Marx auch 1866, als er mit der Reinschrift des ersten ‹Kapital›-Bandes anfing, noch längst nicht fertig. Dass er trotzdem mit der Veröffentlichung seines Werkes begann, ist dem Druck seiner Freunde zu verdanken, vor allem Friedrich Engels und Wilhelm Liebknecht. Die politische Situation hatte sich verändert. 1863 war in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und 1864 in London die International Workingmen’s Association oder, wie sie später bezeichnet wurde, die I. Internationale gegründet worden. Die Arbeiter und Arbeiterinnen waren selbstbewusster geworden und begannen sich in vielen Ländern zu organisieren. Eine klare Analyse der kapitalistischen Verhältnisse war jetzt nötiger denn je.

Der erste Band des ‹Kapitals› handelte nicht mehr bloß von Ware und Geld, es wurde der gesamte «Produktionsprozess des Kapitals», so der Titel dieses Bandes, dargestellt. Zu abstrakt war das Buch jetzt nicht mehr. Marx analysierte den immer weiter um sich greifenden maschinellen Produktionsprozess und dessen Auswirkungen auf die Arbeiterklasse. Die Qualifikationen der Handwerker und der geübten Arbeiter wurden durch den Maschineneinsatz entwertet, was zu erheblichen Lohneinbußen führte. Die Arbeitsbedingungen, allein am Ziel der Profitmaximierung ausgerichtet, erfüllten oft nicht die geringsten Standards von Hygiene und Sicherheit, und damit sich die teuren Maschinen möglichst schnell amortisierten, wurde die Arbeitszeit bis an die physischen Grenzen der Arbeitskräfte und nicht selten darüber hinaus verlängert. Marx schildert nicht nur diese Verhältnisse, sondern auch den Kampf gegen sie, vor allem den Kampf für eine Begrenzung des Arbeitstages. Die begrifflich-theoretische Analyse (was ist Geld, was ist Kapital?), die Analyse der sozialen Verhältnisse und des Klassenkampfes gingen im ‹Kapital› Hand in Hand.

Trotzdem wurde dieser erste Band des ‹Kapital› nicht gerade ein Erfolg. Die 1000 Exemplare der ersten Auflage benötigten knapp vier Jahre bis sie endlich verkauft waren. Auch der zweiten Auflage, die 1872/73 erschien, erging es nicht viel besser. Ihre 3000 Exemplare waren erst 1882, kurz vor Marx‘ Tod, ausverkauft.

Das ‹Kapital› war ein Ereignis, auf das weder die akademische Welt vorbereitet war (und am allerwenigsten die deutschen Professoren der Nationalökonomie, deren große Mehrheit 1867 nicht einmal jenen Stand der ökonomischen Wissenschaft erreicht hatte, der von Marx kritisiert wurde) noch die Welt der Arbeiterbewegung. Marx selbst reihte das ‹Kapital› ein in «wissenschaftliche Versuche zur Revolutionierung einer Wissenschaft» (Brief an Ludwig Kugelmann vom 28. Dezember 1862).

Und in der Tat, das ‹Kapital› kritisiert nicht nur einzelne ökonomische Theorien, es kritisiert die Grundlagen der bis dahin bestehenden ökonomischen Wissenschaft. Marx argumentiert, dass die Grundkategorien dieser Wissenschaft – Wert, Geld, Kapital – auf einer von den kapitalistischen Verhältnissen selbst nahegelegten verdrehten Wahrnehmung beruhen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich in diesen Kategorien ausdrücken, erscheinen nicht als gesellschaftliche (und damit veränderbare) Verhältnisse, sondern als sachliche, unveränderbare Eigenschaften von Dingen. Der ökonomische «Wert» einer Ware ist aber keine sachliche Eigenschaft, wie z.B. Farbe oder Gewicht, sondern eine gesellschaftliche Eigenschaft, die nur unter den Bedingungen von Privatproduktion und Austausch existiert.

Es ging Marx nicht um eine Kritik an den einzelnen Kapitalisten

Das ‹Kapital› war aber nicht nur eine wissenschaftliche Revolution, es war auch, wie Marx in einem Brief vom 17. April 1867 bemerkte, das «furchtbarste Missile, das den Bürgern (Gründeigentümern eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist». Dabei ging es Marx aber nicht um eine Kritik an den einzelnen Kapitalisten. Er wolle keineswegs, schreibt er bereits im Vorwort, «den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.» Marx zielte auf die Kritik des kapitalistischen Systems, das alles dem Ziel der Profitmaximierung unterwirft und auch den noch so einsichtigen Kapitalisten dazu zwingt, diesem Ziel zu folgen, wenn er im Konkurrenzkampf bestehen will.

Die Marxsche Kritik ist nicht mit einer moralisch gefärbten Verdammung des Kapitalismus zu verwechseln. Im ‹Kapital› kritisierte er eine solche moralische Kritik, da sie nicht in der Lage sei, ihren eigenen Maßstab von Gerechtigkeit zu begründen. Auch der von Marx – allerdings nur beiläufig – verwendete Begriff «Ausbeutung» ist keineswegs moralisch gemeint. Er bezieht sich nicht auf besonders schlimme Arbeitsbedingungen oder auf die Zahlung eines Hungerlohns, sondern darauf, dass von den kapitalistischen Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter normalerweise ein ökonomischer Wert gebildet wird, der größer ist, als derjenige, den sie in Gestalt des Lohns erhalten, ganz egal wie hoch der Lebensstandard ist, den dieser Lohn ermöglicht. Marx selbst betont, dass dies kein «Raub» an den Arbeitskräften ist, sondern der Logik der Tauschökonomie entspricht: Die Lohnarbeiter verkaufen nämlich nicht die von ihnen produzierten Produkte, deren Wert sie also gar nichts angeht, sondern ihre Arbeitskraft, d.h. ihre Fähigkeit zu arbeiten. Und unter normalen Bedingungen erhalten sie auch den «Wert» ihrer Arbeitskraft als Lohn, nämlich diejenige Wertsumme, die nötig ist, um sich und ihre Familie (und damit auch die Arbeitskraft) auf einem gegebenen Niveau zu reproduzieren.

Krisen gibt es nicht, weil zu wenig, sondern weil zu viel produziert wurde

Dass Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen, ist keineswegs naturgegeben. Dieser Verkauf gründet in einer fundamentalen Klassenscheidung der Gesellschaft, die die Voraussetzung jeder kapitalistischen Produktion ist: Auf der einen Seite gibt es eine Klasse von Menschen, die über keine oder nur ganz wenige Produktionsmittel verfügen und die deshalb gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und auf der anderen Seite gibt es eine Klasse, die in der Lage ist, diese Arbeitskraft zu kaufen und zu beschäftigen, da sie über ausreichend Geld und Produktionsmittel verfügt. Diese Ungleichheit wird durch den Gang der kapitalistischen Produktion immer wieder aufs Neue hergestellt. Der Lohn reicht im Durchschnitt aus, damit sich die Arbeitskraftverkäufer mehr oder weniger gut erhalten können, von der Verfügung über Produktionsmittel bleiben sie aber ausgeschlossen (auch wenn es immer wieder einzelne geben mag, die es «vom Tellerwäscher zum Millionär» schaffen). Die Produktionsmittelbesitzer erhalten im Durchschnitt nicht nur ihr vorgeschossenes Kapital zurück (auch wenn einzelne immer wieder Pleite gehen), dieses Kapital wird vielmehr kontinuerlich um den Profit vergrößert.

Marx kritisiert diese Ungleichheit nirgendwo als «ungerecht», er will vielmehr zeigen, dass elementare Lebensinteressen der Mehrheit der Bevölkerung durch den Kapitalismus negiert werden. In den wohlhabenden westeuropäischen Staaten wird dies häufig vergessen oder als Randgruppenproblem abgetan. In den Wirtschaftskrisen wird es aber auch hier sehr deutlich: Krisen gibt es nicht, weil zu wenig, sondern weil zu viel produziert wurde. Zu viel, nicht etwa gemessen am Bedürfnis der Menschen, sondern an den Möglichkeiten eines profitablen Verkaufs.

Den meisten modernen Ökonomen hat Marx die Einsicht voraus, dass solche Krisen keineswegs Unfälle sind

Während Wohnungen leer stehen, weil sie sich nicht für einen ausreichend hohen Preis verkaufen oder vermieten lassen, gibt es Obdachlosigkeit und viele Familien leben in Wohnungen mit viel zu wenig Platz. Nahrungsmittel werden «zur Marktstabilisierung» vernichtet, während weltweit Menschen hungern. Von der Pharmaindustrie werden immer neue Anti-Falten-Crémes entwickelt und mit Profit verkauft, während viele Krankheiten, die nur in der sogenannten dritten Welt von Bedeutung sind, ignoriert werden, weil sich mit ihrer Behandlung kein Geld verdienen lässt.

Den meisten modernen Ökonomen hat Marx die Einsicht voraus, dass solche Krisen keineswegs Unfälle sind – sie gehören zur Normalität des Kapitalismus. In der Krise wird dann auch jede sozialstaatliche Einhegung des Kapitalismus auf den Prüfstand gestellt, schließlich soll es doch «unserer Wirtschaft» wieder besser gehen. Unter kapitalistischen Bedingungen ist solche Besserung aber nur auf Kosten der großen Mehrheit möglich.

 

Michael Heinrich war bis Ende 2016 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Er veröffentlichte Bücher und Artikel zur Marxschen Theorie, im Moment arbeitet er an einer dreibändigen Marx-Biographie, deren erster Band 2018 erscheinen wird.

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