Wovon sprechen wir, wenn wir von Öffentlichkeit sprechen? Zum einen von Institutionen, vom Parlament, von Schulen oder Museen. Doch interessanter als diese klar definierten Formen des Öffentlichen, ist das, was man die gefühlte Öffentlichkeit nennen könnte. Denn mehr als alles andere ist es dieses Gespür für das, was öffentlich ist, das sich derzeit auf erstaunliche Weise verändert. Es ist eine Veränderung, die vor allem von den digitalen Techniken vorangetrieben wird und die das öffentliche Leben vieler Städte, ihre Urbanität, tiefgreifend verändert.
Im urbanen Raum wird plastisch, was gefühlte Öffentlichkeit bedeutet – und wie sich diese mit Beginn der Digitalmoderne deutlich wandelt. Das Internet hat eine bewusstseins-, eine wahrnehmungsverändernde Wirkung, es wandelt unsere Vorstellungen von dem, was privat und von dem, was öffentlich genannt wird. Es wandelt nicht zuletzt unsere Vorstellung von Gesellschaft und damit die Gesellschaft selbst.
Hoch hinauf und weit hinaus, das waren die Bewegungsrichtungen der Moderne. Es galt, den Raum zu weiten, ihn zu überbrücken. Oft schien das Wegkommen entscheidender als das Ankommen. Und schon deshalb war es der Traum vieler Menschen, insbesondere der jungen, ein Auto zu besitzen: Es versprach die Freiheit, sich fahrend der Geographie des eigenen Lebens zu entziehen. Erwachsenwerden hiess: selber lenken.
Die Digitalmoderne mit ihren technischen Erfindungen mobilisiert die Stadt abermals und verschiebt ihre Geographie, allerdings auf andere Weise als zuvor. Bewegung und Beschleunigung münden nicht länger zwingend in ein Fort und Weg, denn beweglich ist der Mensch nun auch, ohne sich vom Fleck zu rühren. Er bewegt sich im Raum des Digitalen, überbrückt dort mühelos Distanzen, erfährt zu weit entfernt lebenden Mitmenschen eine Nähe – dank der Videotelefonie von Skype zum Beispiel –, die keinen Ortswechsel verlangt. Beschleunigung bleibt wichtig, doch reicht es schon, die Datenübertragungsrate und Prozessorgeschwindigkeit zu erhöhen. Die Ich-Kapsel des Automobils bekommt Konkurrenz durch das Ich-Phone, durch mobile Kommunikationsgeräte, die auf vergleichbare Weise dem Individuum ein Gefühl der Souveränität und Grenzenlosigkeit zu vermitteln wissen. Entsprechend hat das Statussymbol von einst, das eigene Fahrzeug, viel von seinem Glanz eingebüsst, gerade bei den Jüngeren. Die Zulassungszahlen in Deutschland sind besonders bei den Unterdreissigjährigen rapide gesunken, seitdem die ersten Smartphones kostengünstig angeboten werden. Erwachsenwerden heisst nun, so könnte man sagen: selber surfen.
Ähnlich wie hier am Beispiel der Mobilität gezeigt, wirken der urbane und der digitale Raum auch auf vielen anderen gesellschaftlichen Feldern aufeinander ein. In dieser Wechselwirkung befördern sie mal Anonymität und Abstumpfung, mal Neugierde und die Bereitschaft, sich die Stadt neu zu erschliessen. Das Interesse aber an der urbanen Erfahrung, so viel lässt sich mit Gewissheit sagen, wird weiter wachsen, allein schon aus kompensatorischen Gründen: Je stärker sich Teile des Lebens ins Reich des Digitalen verlagern, je mehr Menschen das Gefühl anweht, in der eigenen Echokammer gefangen zu sein, weil ihnen das Netz immer nur das zeigt, was sie ohnehin schon kannten, umso grösser scheint das Bedürfnis nach Realräumen zu werden, nach zufälliger Begegnung und jener «Kraft der Intersubjektivität», von der Jürgen Habermas spricht, und die nicht zuletzt auch eine körperliche Erfahrung ist. Das Anfassen wird wichtiger, das Dabeisein, die Realpräsenz, und nicht zuletzt deshalb zieht es viele wieder hinaus in die Arenen des Öffentlichen, in denen es lärmt und stinkt und blinkt und alle Sinne gefordert werden.
Auch das Internet möchte gerne instantan sein, live-tickernd und echtzeitig. Doch kann es lediglich das vorführen und vermitteln, was sich in Bilder, Töne und Text übertragen lässt. Die Gestimmtheit eines Raums, alles Intuitive, mit dem ein Mensch die Atmosphäre eines Platzes erspürt und sein Gegenüber erfasst, bleibt der Wirklichkeit existierender Orte vorbehalten. Erst im Körper der Stadt bekommt der Mensch die eigene Körperlichkeit zu spüren. Erst hier verspürt er Öffentlichkeit als unmittelbare, von vielen getragene Erfahrung.
Allgemein scheint so die Bereitschaft gewachsen zu sein, sich im Internet auf mal mehr, mal weniger politische Art zu weithin ungewohnten Spielformen des Öffentlichen im Realraum zu verabreden. Manche begeistern sich für Flash- und Smartmobs, bei denen sich Massen von einander oft unbekannten Menschen zu skurrilen Kurzaktionen verabreden, etwa zum Polkatanzen vor der chinesischen Botschaft oder zu Kissenschlachten auf städtischen Plätzen, solange bis wilde Federwolken fliegen. Andere verlegen sich auf das Guerilla-Knitting, bei dem sie Baumstämme oder Brückengeländer bestricken und so dem rauen, abweisenden Körper der Stadt eine zweite, wärmende Haut verleihen. Wieder andere statten den öffentlichen Raum mit selbst gebauten Bänken und Stühlen aus, eine Unternehmung, die in den USA unter dem Namen Chair-Bombing bekannt ist. Und fast immer ist das Internet, sind Facebook und Twitter der Katalysator. Das Netz prägt das Verhalten im öffentlichen Raum. Die Bereitschaft sich einzumischen, sich mit anderen kurzzuschalten, etwas gemeinsam zu gestalten, die Erfahrung, dass sich hier etwas verändern und dort etwas überarbeiten lässt, das Bedürfnis, sich selbst als handelndes Subjekt zu erfahren, all das gehört zur Kultur des interaktiven Internets – und all dem verdankt die Stadt der Digitalmoderne, die Öffentlichkeit viel von ihrer wachsenden Vitalität.
Vielleicht liesse sich sogar behaupten, dass dieses Gemeinschaftsgefühl, das in Crowd-Sourcing-Projekten wie Wikipedia zum Ausdruck kommt, und erst recht jene Freiheit der Meinungsäusserung, jenes Moment der Selbst-
ermächtigung, das aus der Nutzerin eine Produzentin macht, dass all diese Internetphänomene auch die Psychologie des Öffentlichen verändern und sich auch deshalb das Verhalten vieler Menschen in den realen Räumen der Öffentlichkeit wandelt.
Ausgerechnet die Stadt erweist sich im sogenannten Zeitalter des Postmaterialismus als besonders vital, denn nirgendwo sonst scheinen jene Bedürfnisse, die sich mit Geld nur selten befriedigen lassen, einen besseren Ort zu finden: das Bedürfnis nach Kreativität und Vielfalt, nach Zugehörigkeit, nach geistigem Austausch, auch das Bedürfnis nach Kontemplation und nach dem Gefühl, etwas verändern zu können. Die Stadt wird zum Möglichkeits- und Projektionsraum – und sie wird es auch deshalb, weil sich die Wahrnehmung dieses Raums geweitet hat.
Längst hat man sich daran gewöhnt, dass es die eine Öffentlichkeit so wenig gibt wie den einen Raum. Es gibt eine Marktplatz- und eine Sportplatzöffentlichkeit, eine Fernseh- und eine Facebook-Öffentlichkeit, und ebenso formen die neuen urbanen Bewegungen eine eigene, temporäre Ausprägung von Öffentlichkeit. Darin mögen manche einmal mehr die segmentierte Gesellschaft erblicken, die keinen Begriff mehr von sich selber hat. Gleichwohl fällt auf, dass zumindest einige dieser Bewegungen gerade deshalb in die Stadt drängen, weil sie dort Räume für ihre geteilten, kollektiven Interessen finden. Es sind Gemeinschaften, die frei sind von den üblichen Gewinnabsichten. Nicht um Konsum, nicht um materielle Vorteile geht es ihnen, sondern um ideelle Werte. Mal teilen sie eine politische Überzeugung, mal die Freude am gemeinsamen Gärtnern und Turnen, mal fühlen sie sich durch ein öffentliches Essen verbunden oder durch die kollektive Erfahrung der künstlerisch-kreativen Gestaltung einer Strassenkreuzung.
Es sind auch dies keine starken Formen von Öffentlichkeit, hier geht es anders als in Parlamentsausschüssen nicht um komplexe Entscheidungsfindung, nicht um Argument und Gegenargument. Doch immerhin ist das gesellschaftliche Wir, das in den meisten urbanen Bewegungen zusammenfindet, nicht auf Ab- und Ausgrenzung bedacht. Es schliesst nicht aus, es schliesst auf. Und das ist gerade im «Zeitalter des Access»(Jeremy Rifkin), in dem Zugang und Zugriff wichtiger werden als Besitz, nicht gering zu schätzen. Es unterscheidet dieses urbane Wir von den kommerziellen Sonderzonen des Öffentlichen, von den Lounges und Spas und Erlebnisparks, diesen «Blasen der Immanenz» (Marc Augé), die den Zutritt nicht selten an Wohlstand, Besitz oder Status koppeln. Ob Flashmob, Geocaching oder Urban Gaming – immer sind es einladende, gestaltungsoffene Öffentlichkeiten, jeder ist willkommen, der sich auf die kollektiven Regeln einlassen oder sie in der Auseinandersetzung mit anderen verändern mag.
Nicht zuletzt darin offenbart sich die Bedeutung, die solche temporären, posttraditionalen Gemeinschaften für das Gesellschaftliche haben können. Sie prägen Verhaltensmuster, die ein freies, nicht auf den Vorteil des Einzelnen zielendes Zusammenspiel von Fremden erstens als denkbar und zweitens als lustvoll erscheinen lassen. Während in der Moderne die geistige Haltung der Grossstädter als «Reserviertheit» (Georg Simmel) beschrieben wurde und der öffentliche Raum primär als Raum der Koexistenz divergierender Lebensentwürfe galt, ermutigt die Digitalmoderne eine Überwindung der Blasiertheit, ohne den Wert der Pluralisierung aufzugeben. Der Raum wird zum Raum der Kooperation.
Es spricht daraus, egal wie ephemer solche Kooperationen mitunter sind, ein Verlangen nach Verständigung und auch nach Einverständnis. Daraus erwächst noch kein stabiles Gemeinwesen, doch weil die urbane Erfahrung immer auch eine plurale ist, wird so zumindest das kollektive Empfinden begünstigt. Denn ein starkes öffentliches Bewusstsein bedeutet ja auch: eine grundsätzliche Einsicht darin, dass es eben nicht nur urbaner Wahlverwandtschaften, sondern auch steter gesellschaftlicher Regeln und Institutionen bedarf, ohne die Demokratie kaum mehr wäre als nur ein Wort.