Zählt man die Jahre, könnte einem schwindelig werden: Wir kennen uns jetzt ein halbes Jahrhundert. Es muss im Januar ʼ70 gewesen sein, dass eines verabredeten Tages Jürgen Ploog vor meiner Tür in Göttingen stand, aus Frankfurt am Main angereist mit einem Buckel-Volvo und begleitet von einem stillen jungen Mann, der sich Doc nannte. Anlass der Reise war eine Lesung im «Centre», einem Studentenclub der Stadt mit viel live Jazz und Galeriebetrieb. Es war unsere erste persönliche Begegnung. Bis dahin kannte ich Ploogs im Melzer-Verlag erschienenes Buch ‹Cola Hinterland› – nach einer Auseinandersetzung mit dem Getränkehersteller wurde das «Coca» aus dem Titel gestrichen –, von dem ich vorbehaltlos begeistert war und dessen Autor ich mir als einen Typen vorgestellt hatte, der als Frank Zappas Zwillingsbruder hätte durchgehen können. Wie gross war mein Erstaunen, als da ein Mensch, etwa Mitte Dreissig, mit Trenchcoat und Hut und glatt nach hinten gekämmtem Haar mir gegenüber stand. Cool im Erscheinungsbild, im Wesen aber gänzlich anders und gewöhnungsbedürftig. Aber eben, das liegt nun gut und gern fünfzig Jahre zurück.
Jürgen war damals ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch Pilot, er gehörte zu den ersten hundert der nach dem Zweiten Weltkrieg neugegründeten Lufthansa. In seiner Dienstuniform bekam man ihn allerdings nie zu Gesicht, auch nicht in Begleitung von Berufskollegen. War man an die Ulmen-, die Hansa-, später dann die Friedrichstrasse eingeladen, hing die Uniform im Schrank, und Jürgen empfing die Gäste im Freizeit-Look, gelegentlich mit elegantem Seidenschal als schmückendem Accessoire. Äusserlichkeiten, gewiss, aber von uns anderen flog doch sonst keiner, mit EasyJet und Konsorten noch in weiter Ferne, und die allwöchentliche Peter Stuyvesant-Reklame auf der SPIEGEL-Rückseite hatte ihre Wirkung nicht verfehlt und durchaus Appetit gemacht, schmuck gewandetes Flugpersonal mal in echt zu sehen. So aber liess man sich in ausgesprochen gediegener Atmosphäre in die tiefen Polster der schneeweissen Sitzgruppe sinken und von Anna Ploog Tee einschenken. Eigentlich schade, dass Jürgens Beruf und Berufung stets fein säuberlich getrennt und die Fliegerei betreffende Fragen zumeist aussen vor blieben. Das Handwerk des Piloten unterliegt nun mal einer ganz besonderen Faszination, allein wenn man bedenkt, wie viele hundert Passagiere das Flugpersonal bei den damals immer grösser werdenden Maschinen im Rücken hatte. Doch nicht allein flugtechnische Details hätten manche Neugier gestillt, gab es doch noch ganz andere, aufregend ungewöhnliche Aspekte: Etwa Jürgens Beobachtungen zur Zeit des Krieges in Vietnam, wenn er seine Boeing 747 in gut 30ʼ000 Fuss Höhe durch die Nacht steuerte, mit dem Kreuz des Südens über dem Horizont, und gleichzeitig dem deutlich sichtbar aufblitzenden Kriegsgeschehen tief unten.
Die geballt gehobene Faust, Rotfront, RAF und dergleichen, war unsereins durch und durch fremd, ja stiess einen ab. Da bewegte man sich lieber im Milieu der ab Mitte der 1960er Jahre aus dem Boden schiessenden «small presses», dem literarischen Underground mit seinen Protagonisten William Burroughs, Brion Gysin, Kerouac, Ginsberg und einer Handvoll anderer Exponenten der Beat Generation. Ein vertrautes und kritisch à la J.G. Ballard und seinem ‹Love & Napalm: Export USA› bewertetes Territorium. Die wichtigsten Mitstreiter, die ab ca. 1970 bei den Ploogs zusammenkamen, waren Carl Weissner, Jörg Fauser und, als einzige Frau, Pociao aus Bonn.
Ideen- und praktisches Material, mit dem man arbeiten und sich austauschen konnte, war reichlich verfügbar: Angeregt durch die unter Anleitung von Ian Sommerville im Pariser Beat Hotel zehn Jahre zuvor durchgeführten Tonbandexperimente, erweitert durch den Einsatz der soeben aufgekommenen Kassetten-Recorder von Philips, und eigene Versuche mit der von Brion Gysin gefundenen Cut-Up-Methode. Ich erinnere mich genau, wie eines Nachmittags in Frankfurt statt eines Joints eine der ersten mobilen japanischen Video-Kameras herumgereicht wurde. In diesen Jahren ausgeheckt wurden schliesslich anarchisch angehauchte Publikationen wie das bei Expanded Media Editions erschienene Underground-Blatt ‹UFO› – die dritte Nummer, «Radio 23», veröffentlicht als Tonbandkassette, damals ein absolutes Novum – und später dann die von Ploog, Fauser und Weissner redigierte Zeitschrift Gasolin 23.
Dass Jürgen bei zahlreichen Unternehmungen initiativ beziehungsweise federführend auftrat, hatte natürlich mit dem unbestreitbaren Charisma zu tun, das ihn auszeichnet, und mit dem er sein Umfeld in seinen Bann zu ziehen und manche Veranstaltung allein durch seine Präsenz für sich zu entscheiden vermochte.
Wir, Jürgen und ich, sind uns an so manchem Koordinatenpunkt begegnet: Göttingen, Frankfurt, Hamburg, Amsterdam, Berlin, Stuttgart, Arosa, Karlsruhe, Zürich, Basel, Aix-en-Provence, Mannheim, Paris (allesamt im Kurzstreckenbereich, Ausnahme: New York, zu Nova Convention und Bunker), was meiner Erfahrung nach Beziehungen einiges hinzufügt.
Wir haben uns in New York und Hamburg gegenseitig mit Burroughs fotografiert, der für uns beide – und wir für ihn –, jedem auf spezifische Weise, von weitreichender Bedeutung war.
Wir haben es auch über Phasen von Funkstille, von unregelmässigem Kontakt hinaus immer wieder hingekriegt, die Verbindung nicht vollständig abreissen zu lassen. Natürlich konnte es, wenn man sich so lange kennt, nicht ausbleiben, dass es immer mal wieder nachdenklich stimmende Situationen, ja von offenen Reibereien geprägte Momente gab. Das gehörte schlicht dazu und war in keiner Weise ungewöhnlich. Wie man durchaus auch unterschiedliche Auffassungen von Freundschaft pflegte. Wenn ich jetzt, nach all den Jahren darüber reflektiere, frage ich mich höchstens, ob Jack Black, der von Burroughs gepriesene und auch von uns hochgeschätzte Autor des biografischen Romans ‹You Can’t Win›, uns akzeptiert, uns als Mitglieder der Johnson Family vorgeschlagen hätte? Man weiss es nicht und wird es nie erfahren.
Wir hatten es auch unterhaltsam miteinander. Beispielsweise wie wir einen ausgedehnten Frankfurter Buchmesse-Abend lang im Austin Mini seiner Frau Anna zu viert, mit Pit Engstler und Kiev Stingl an Bord und Jürgen am Steuer, ausgelassen und übermütig von einem Verlagsempfang zum anderen düsten und Stimmung machten.
Mit ein bisschen Glück konnte man Ploog aber auch rein privat, etwa als einen liebenden, fürsorglichen Vater erleben. Unvergesslich, wie er seinen damals noch kleinen, vom Kindergarten nach Hause kommenden Buben begrüsste, der ganz stolz erzählte, er sei nun zwischen zwölf und elf heimgekommen, und der Vater, dem Knaben still einen Arm um die Schulter legend, ganz ruhig erklärte, das sei wunderbar, aber es hiesse: zwischen elf und zwölf, wobei er ihm das Zifferblatt seiner Armbanduhr und den Lauf der Zeiger erläuterte. Das ist mir angenehm und als besonders wertvoll in Erinnerung geblieben.
Was das Schreiben anging, haben wir immer wieder unterschiedliche Auffassungen vertreten. Durchweg einig war man sich eigentlich stets nur bei allem, was Burroughs anging. Brion Gysin in seiner ganzen Tragweite hat Ploog nach eigener Aussage erst kürzlich erkannt und schätzen gelernt. Schade, dass er zu Gysins Lebzeiten niemals einer meiner Einladungen folgte, Brion in Paris zu besuchen, wenn auch ich vor Ort war. Unvergessliche Situationen wie auch anregende und äusserst unterhaltsame Gesellschaft in wechselnden Besetzungen waren stets garantiert.
An Bord einer von Jürgen gesteuerten Maschine bin ich nie geflogen. Dieses Privileg blieb allein Burroughs und seinem Sekretär James Grauerholz vorbehalten und wurde erst viele Jahre später mit einem im Frühjahr 1990 verabredeten Flug von Chicago nach Düsseldorf, bzw. nach Hamburg eingelöst. Beide waren auch eingeladen, Jürgen an seinem Arbeitsplatz, im Cockpit des Jumbo Jets zu besuchen. James war der Einladung begeistert gefolgt, Burroughs hingegen liess sich entschuldigen, if my memory serves me right, und liess ausrichten, er bedaure, fühle sich aber unwohl und zöge es vor, an seinem Platz zu bleiben. Übrigens ist es gut möglich, dass es Burroughs’ letzter Transatlantik-Flug war, seit einiger Zeit schon war ihm der Gedanke an lange Flugreisen abhold. Und wenn es der letzte war, dann galt er dem abschliessenden Probenblock und der Premiere von Robert Wilsons Musiktheaterstück «The Black Rider: The Casting of the Magic Bullets» am Thalia Theater Hamburg am 31. März. Musik: Tom Waits, Buch: William Burroughs. Jürgen und ich waren beide anwesend.
In ‹Western Lands› schreibt Burroughs gegen Ende des Romans: «Der alte Schriftsteller konnte nichts mehr schreiben, denn er hatte das Ende aller Worte erreicht, das Ende dessen, was sich mit Worten beschreiben lässt.» Da war er 74 Jahre alt. Wünschen wir dem Jubilar Ploog, der im Januar 2020 «dem Alten» um ein Beträchtliches an Jahren überflügelt hat, dass ihm die Worte noch lange nicht ausgehen, auf dass er ihnen mit Schere und bewährtem Wagemut zu Leibe rücken kann.