Immer wenn der Himmel über mir zusammenbricht, sich die Erde unter mir auftut wie am letzten Tag, dann flüchte ich zu ihm. Meine nackten Füsse klatschen über das nasse Laub, es donnert in der Ferne. Irgendwo auf einem Hügel zwischen Bäumen und Sträuchern, weit weg von Häusern und neugierigen Blicken, liegt er da wie ein schlafender Riese. Seine Haut ist aus grauem Stein, sein Fleisch seit Jahrtausenden unberührt. Er schweigt und weiss, wie sich der Regen unter seiner Haut anfühlt. Er liegt da, weise und schwer, wie immer. Er wartet auf mich und flüstert mir zu, aus der Ferne, leg dich zu mir, hier ist es still, hier steht die Zeit, hier kannst du für immer schlafen, genau wie ich.
Ich renne auf ihn zu, renne und renne, meine Beine überschlagen sich, der Wind peitscht, die Augen tränen. Immer wenn mein Schädel brennt, komme ich zu ihm, wenn sich das Menschsein in meine Haut frisst, an meinen Knochen nagt und die bösen Trolle auf meinen Schultern sitzen um mir den Lebensmut zu nehmen, dann liegt er da und schweigt. In seinem Schweigen liegt das Wissen der Jahrtausende, über die Geburt der Sterne und den Untergang der Sonne.
Wäre er ein anderer, wäre seine Haut nicht aus Stein und sein Körper nicht durch schweres Eis geformt, dann würde ich ihm kein Wort glauben. Ich würde ihn für einen Schwätzer halten, für einen mit viel Platz zwischen Zunge und Gaumen und wenig zwischen Ohr und Ohr. Ich würde ihn für einen halten, der sich wichtig macht, seine Geheimnisse trägt wie ein schillerndes Kleid, in dessen Pailletten sich die Geschichte der Barbaren spiegelt wie das Sonnenlicht im frischen Tau. Ich würde ihn treten und brüllen, dass er nur mit mir spiele, das ewige Spiel um Haut und Haar, damit ich dort liege, für immer aus Stein, schweigend mit ihm.
Doch immer wenn mir der Himmel droht und die Dämonen aus ihren Höhlen kriechen, sich um meine Waden werfen, mit ihren langen Krallen über meine Kehle kratzen, dann renne ich. Meine Beine springen über die schlafenden Wurzeln, klettern über das grinsende Holz und suchen den Weg zu ihm, der immer dort liegt. Ich atme schwer, mein Herzschlag klingt in meinen Ohren nach, die Dämonen flüstern Gemeinheiten in meine Augenhöhlen, krächzen hässliche Gedichte in meine Nase. Ich strample mit den Beinen, versuche sie abzuschütteln, sie kichern und grölen, amüsieren sich prächtig. Mit voller Wucht haue ich meinen Ellbogen in ein grinsendes Gesicht. Kind, hast du nichts gelernt, wir sind dein Fleisch und Blut, deine Mutter und dein Vater, wir leben in dir und haben dich geboren, säuselt es in mein Ohr, während ich renne, renne, renne.
Der Himmel ist bald schwarz. Ich sehe ihn in weiter Ferne, er schläft wie immer tief und fest, träumt von grossen Göttern und alten Kriegern. Gleich habe ich es geschafft, schleppe mich über die letzten Meter des feuchten Waldbodens. Du wirst ausrutschen und deinen Kopf auf dem harten Stein aufschlagen, dein hübscher Schädel wird zerspringen und dann fressen wir dein Gesicht, lächelt mir ein Troll entgegen, der sich wie ein Schal um meinen Hals geschlungen hat. Ich keuche und schnappe nach Luft, sein kratziges Fell bohrt sich in meine Haut, seine langen Finger schnüren mir die Kehle zu, ich huste, huste und renne bis mir schwindlig wird, meine Beine überschlagen sich auf dem feuchten Waldboden, die Wurzeln lachen, der Wind peitscht mir ins Gesicht, ich rutsche auf dem feuchten Laub, die Wurzeln kreischen, ein Dämon nagt an meinem Ohr, singt ein Lied von tausend Leiden, singt und krächzt, der Himmel ist schwarz und ich stolpere, falle über die lachenden Wurzeln, stürze mit dem Gesicht nach vorne und falle, falle und falle bis alles schwarz ist, vom Boden verschluckt.
Ich wache auf, mein Gesicht liegt auf Stein, ist aus Stein, kann mich kaum von ihm lösen, meine Haut klebt auf seiner. Kleine Kiesel bohren sich in meine felsigen Wangen, ich öffne die Augen und sehe nichts, es ist stockdunkel. Ich spüre seinen Atem unter mir, wie sich seine alte Haut wölbt, sie ist warm und hart. Es ist still, die Dämonen zurück in ihren Höhlen, die Trolle in der Dunkelheit verschwunden. Ich liege auf dem Bauch und atme in seine Haut, streiche mit den Fingern über seinen massigen Körper, er ächzt, ich rutsche über seinen Rücken, drücke mich an ihn, inhaliere den Geruch von Regenwasser und Jahrtausend altem Schweigen. Sein schwerer Leib scheint unendlich weit, er ist der Boden unter meinen Füssen, er ist meine Beine, mein Bauch, meine Brust, die Unendlichkeit über meinem Schädel.
Vor tausenden Jahren fiel er herab, ungefragt, wie ein Engel, für immer auf Erden verbannt, einsam im Wald, wartend, ewig schlafend. Seit dann liegt er hier, trägt die schlummernden Körper in seinem Leib, hält die Toten warm und fest umschlungen, wiegt sie in seinen steinigen Armen. Jetzt liegt mein Leib auf seinem, er flüstert mir alles tröstliche zu, hält mich liebevoll und fest, ich atme in ihn hinein, in mich hinein, er summt ein Lied in mein Ohr, das Lied von Haut und Haar, niemand sieht, nur der schwarze Himmel glotzt von oben auf uns herab.
In der Dunkelheit ist sein Leib unendlich, in seiner Mitte ist eine Wiege, eine Liege, ein Sarg, ein Trog, eine Wanne, ein Grab, ein Loch, ein Brunnen, ein Bett für all die ewig schlafenden. Ich rutsche an die Kannte, schwerfällig wie ein Fels, der Rand ist rund und glatt, ich gleite in die Wanne hinein, lege meinen schmerzenden Körper in seinen, den Kopf auf das Kissen aus Stein, auf sein Herz, die Beine gestreckt. Hier ist es noch dunkler, noch stiller, nur sein Atem und meiner, unsere Herzen klopfen rhythmisch, wie Verliebte vor dem ersten Kuss. Ich liege ruhig auf meinem Rücken. Über mir der schwarze Himmel, wie eine Decke aus Samt, ein offener Mund, er lächelt uns zu.
Ich liege und warte auf einen neuen Tag, auf einen Tag der nicht hier ist, nie da war, nie sein wird. Ich liege in ihm und vergesse die Welt, berühre die kühlen Wände der Wanne, liege still im Grab und denke an die Kriegerinnen und grossen Herrscher. Hier lagen sie und schliefen, und die Menschen kamen und beteten für ein Morgen, das es nie geben sollte. Ich liege und warte, er verschluckt mich, hält mich in sich fest, atmet mich ein, saugt mich auf, leckt mir über das Gesicht, die Finger, die Stirn. Lieg mit mir, schlaf bei mir, sei für immer still.
Bewege mich keinen Millimeter, höre auf zu schlucken, halte den Atem an. Meine Hände pressen sich an die Wände aus Stein, so fest, bis sie daran haften bleiben. So liege ich und presse, schweige und werde langsam zu Stein, erst die Fingerspitzen, dann die Knöchel, Handgelenke, schliesslich der ganze Unterarm. Ich spüre nichts, ausser die kühle Nachtluft auf meinem Gesicht. Langsam frisst er meinen Rücken, macht sich meinen Leib zu eigen, durchborht meine Haut, mein Blut, meine Knochen. Haut und Haar werden hart und rau. Meine Füsse sind an die Wand gedrückt, kleben fest, die Schädeldecke versteinert, Beine werden zu Fels, Luft zu Wasser, mein Körper zu seinem, der Himmel bleibt schwarz.
Es fängt an zu regnen, die Tropfen legen sich schützend auf meine Augen, laufen in das steinerne Bett und verwandeln es in einen Trog. Die Wanne füllt sich bis unter meine Nase. Ich schliesse die Augen voller Wasser, meine Stirn ist versteinert, ich will etwas rufen, meine Lippen sind erstarrt, er verschlingt mich, kriecht unter meine Haut. Mein Körper hat keinen Anfang und kein Ende, ich habe keine Haut, keine Hände, verschmelze mit den Wänden, verschmelze mit ihm, bin zum Fels geworden.
Nun liege ich hier, immer. Die Sonne geht über mir auf, tausendmal, geht unter, es regnet, die Vögel kreisen über meinem Kopf, trinken aus meinem Bauch, baden sich in meiner Mitte. Laub bedeckt meinen Körper, ich liege da, still, liege und liege, Moss wächst mir zwischen den Zehen. Schnee fällt auf mein Gesicht, der Wind pfeift um meine Ohren, das Wasser friert in meinem Bauch. Die Sonne wärmt meine Haut bis die Knospen spriessen, Bäume strecken ihre Arme in den Himmel, bejubeln das Leben.
Wir haben viel gemeinsam, er und du und ich und die Krieger und Könige. Wir haben viel gemeinsam, unsere Herzen aus Stein, unsere Stirn in Falten gelegt, die Hände zu eisernen Fäusten geballt. Nun liegen wir hier, weit weg von allen, zwischen jammernden Bäumen und schimmerndem Tau.
Nur selten kommt Besuch. Es sind Getriebene, Träumer und Liebende, suchen die Stille, rufen Gott und wollen ihren Kopf verlieren, fliehen vor den Stimmen, von Dämonen gejagt, von den Bäumen umarmt, gehalten, in der Dunkelheit gewiegt, finden mich für immer liegend, still.
Manchmal klingen Schritte in der Ferne, der Boden ist feucht, Stimmen hallen in der warmen Luft, kommen näher und näher. Ein Gruppe Menschen umzingelt mich, tätscheln meinen Kopf, beugen sich in meinen Bauch hinein. Sie steigen auf meine Hüften, schmiegen sich an mich, werfen neugierige Blicke, verlieren bewundernde Worte. Andere setzen sich neben mich, schweigen, beten leise zum schwarzen Himmel. Ihre Wanderstöcke bohren sich in den weichen Boden neben mir, ihre Stimmen streichen über meine Stirn, sie zücken ihre Handys und Fotoapparate, posieren, ich halte ruhig und lächle, ein Foto fürs Familienalbum. Kinderhände erklimmen meine Schultern, klettern über meinen Kopf.
Ein Mädchen kommt alleine, endlich, leise läuft sie Stunden durch den Wald, die Sonne hängt tief und droht vom Himmel zu stürzen, seit Jahren liege ich hier und warte. Ihre Füsse suchen den Weg auf dem feuchten Boden, verlangen nichts, nur Ruhe. Ich höre die Dämonen jaulen, die Trolle kichern, der Himmel ist schwarz. Sie läuft und hat die Welt vergessen, hofft, die Welt tue es ihr gleich, streift mit ihren Fingern über das Moss auf meinen Wangen, schmiegt sich an mich, legt sich auf mich, in mich, kommt zur Ruh. Ich greife nach ihren Fingern, die sich in meinem Nacken festkrallen, wachse langsam über ihre Nägel, lasse sie zu meiner werden. Sie liegt auf mir wie frischer Schnee, ist kalt und weiss, vergraut wie Stein, löst sich auf, Haut und Haar, liegen für immer still mit mir.
Kira Kynd ist Redakteurin bei der Fabrikzeitung
und beim Onlinemagazin das Lamm.