In den letzten Jahren war in den Diskursen rund um Popmusik häufig vom Schlagwort der «Hauntology» die Rede. Anstatt den denotativ korrekten Formen von Retro, beschrieb «Hauntology» einen eher konnotativen, assoziativen Zugriff auf Popvergangenheit. Ein wichtiger Faktor dabei war die Verwendung von Sounds, deren ikonischer Status ofmals eine ganze Pop-Periode signifiziert, in der Regel eine aus einer längst untergangenen Formation aus keynesianistischem Wohlfahrtsstaat und Populärmodernismus. Aber diese Klangkonnotation funktioniert nur, weil davor etwas stattgefunden hat, was in der Erinnerung in der Regel unerkannt bleibt. Diese Sounds wurden programmiert – von Sounddesignern. Preset-Designer okkupieren die prekärste Nische in der Produktionskette von Musiktechnologie; sie haben in den letzten 40 Jahren Popmusik die Gespenster in die Maschine gebracht.
Das Ausgangsmaterial für «hauntologische» Musik sind akustische Klischees: Preset-Sounds. Das sind Sounds, die Synthesizer ab Werk mitgeliefert bekommen. Bei einem der ersten Preset-Synthesizer, dem Korg 900 PS von 1975, waren sie über einzelne Schalter abrufbar, mittlerweile werden Synths mit Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Presets ausgeliefert, die in der Regel über Drehknöpfe oder eine Verbindung zum Rechner wieder abrufbar sind. Wer sie programmiert hat, wissen meistens nur die Archive der Synthesizer-Firmen.
Fast jeder Musiker kennt dagegen die Namen der Synthesizer-Pioniere: den von Robert Moog, den von Roger Linn, der mit der AKAI S60 den Sound der goldenen HipHop-Jahre geprägt hat. Tadao Kikumoto, der Designer der Roland TB-303 und der Roland TR-909, hat mittlerweile seinen eigenen Wikipedia-Eintrag. Und selbst Dr. Andy Hildebrand, der nerdige Erfinder der Software Auto-Tune, gibt regelmäßig Interviews. Aber wer hat den E-Piano-Preset des Yamaha DX 7 programmiert, der Mitte der 1980er auf fast jeder Popballade zu hören war?
Presets sind überall in der Popmusik, sie können sogar stilbildend sein. Auf frühen Techno- und Jungle-Stücken wie Joey Beltrams «Mentasm» (1991) oder Goldies «Terminator» (1993) war ein relativ heller, etwas nach einer Sirene klingender Sound zu hören. Es war einer der Presets aus dem Alpha Juno Synthesizer von Roland. Rolands Sounddesigner Eric Persing hatte ihn als Jux für seine japanischen Kollegen programmiert, um die Möglichkeiten des Synthesizers aufzuzeigen. Britische Dance-Musiker fanden den Sound so großartig, dass sie ihn regelmäßig einsetzten und er zum Signature Sound für eine ganze Periode wurde. Gerade weil diese Zeit für viele Beobachter mit einem starken Drang in Richtung Zukunft verbunden war, ist der Synth-Sound von «Mentasm» für immer mit der Aufbruchsstimmung der frühen Rave-Ära verbunden und diente als retrofuturistische Inspirationsquelle für die ersten Formulierungsversuche dessen, was heute unter dem Begriff «Akzelerationismus» als selbstbewusste Theorieströmung auftritt.
Aber zurück zum Sound. Zu diesem Zeitpunkt verloren sowohl Persing als auch Roland die Kontrolle über ihre Schöpfung: Bekannt wurde das Preset als «Hoover-Sound», weil er viele an das Geräusch eines Staubsaugers erinnerte. Als Persing Jahre später gebeten wurde, einen «Hoover-Sound» für einen Kunden zu programmieren, musste er erst im Internet nachschauen, was damit gemeint war und fand heraus, dass es sich um seinen eigenen Preset für den Roland Alpha Juno handelte. Schlauer beim Marketing war die Berliner Firma Native Instruments. Als sie in ihrem Software-Synthesizer «Massive» den metallisch klingenden Bass-Sound nachbilden wollten, den der britische Dubstep-Producer Coki auf seinem Track «Spongebob» zum ersten Mal präsentierte, nannten sie ihr Preset einfach wie den Begriff, der sich unter Dubstep-Fans für diesen Sound längst durchgesetzt hatte: Wobble. Ab dem Moment war klar, dass wer einen Wobble-Bass möchte, bei «Massive» fündig werden wird.
Presets sind für Hardware- und Softwarefirmen entscheidend für den Erfolg ihres Produktes. Native Instruments hat daraus mittlerweile ein erfolgreiches Geschäft gemacht. Die Firma begann mit einem modularen Software-Synthesizer namens Generator (später Reaktor), mittlerweile verkauft sie Hardware und mit Reaktor erstellte Standalone-Instrumente, also Preset-Software, die nicht weiter modifiziert werden kann. Damit sind sie typisch für die Ökonomie, die Presets zugrundeliegt. In der Regel werden Sounddesigner von den Hardware- oder Softwarefirmen dafür bezahlt, dass sie auf einem Prototypen des Geräts Presets für einen Synthesizer oder ein Effektgerät erstellen. Sie sollen als Kaufanreiz dienen und erfüllen damit eine doppelte Funktion. Einerseits sollen sie die Soundpalette des Geräts abbilden und bewerben: Wie klingt der Synthesizer und wie könnte meine Musik damit klingen? Andererseits dürfen die Sounds nicht zu perfekt klingen, sondern sollen dazu einladen, die Sounds zu modifizieren und sich mit der Programmierung des Synthesizers auseinanderzusetzen.
In dieser Ökonomie kann sich ein erfolgreicher Preset-Designer jedoch selbst überflüssig machen. Während auf den meisten Dancetracks das Sounddesign, das Arrangement und der Mix aus einer Hand kommt und höchstens das Mastering von jemand anderem vorgenommen wird, funktionieren große Album- oder Filmproduktionen stärker arbeitsteilig. In dieser Arbeitsteilung ist auch Platz für einen Sounddesigner, der eigens Synthesizersounds programmiert, wofür ein anderes technisches Verständnis nötig ist als beispielsweise für das Abmischen in einem Sequenzer. Eric Persing hat in einem Interview einen Moment in den frühen 1990ern beschrieben, an dem es billiger wurde, einen Roland Synthesizer mit seinen Presets zu kaufen anstatt ihn selbst für das Sounddesign auf einem Album anzuheuern. Anders sieht es in der Filmproduktion aus – hier sind die Sounds stark mit der Filmdramaturgie verknüpft und nicht so leicht ersetzbar. Die Ausnahme sind die dramaturgisch stark standardisierten Trailer.
Der ökonomische Druck auf Preset-Designer hat in den letzten Jahren zugenommen. Zum einen ist das Programmieren von Synthesizern zu einer Massenbeschäftigung geworden, die mit Webseiten und YouTube-Tutorials auch technisch eher unbedarften Menschen nahegebracht wird. Zum anderen öffnen Audiosoftware-Firmen ihre Produkte, so dass um sie herum eine «Community» aus größtenteils unbezahlten Enthusiasten entstehen kann. In der «Reaktor User Library» von Native Instruments stellen Reaktor-Nutzer ihre eigenen Patches für die Software bereit – inklusive Presets. Native Instruments nutzen die «User Library» auch zum Talentspotting und heuern talentierte Patchprogrammierer und Sounddesigner an, wenn deren Kreationen sie überzeugen.
Der Markt für Presets ist digital. Sie werden über das Netz vertrieben und gelangen dann als Datei oder – bei Hardware-Synths – per USB auf die Synthesizer. Für ihre eigene Musik oder Auftragsarbeiten ist es aber ebenso wichtigt, dass Sounddesigner eine gewisse Nicht-Reproduzierbarkeit ihrer Sounds sicherstellen. In den letzten Jahren war der Modularsynthesizer dafür das Werkzeug der Wahl. Richard Devine, der für Native Instruments einige komplexe Patches und Presets programmiert hat, arbeitet in seiner eigenen Musik mittlerweile fast ausschließlich mit einem analogen Setup, bei dem die einzelnen Module über Steckkabel verbunden sind. Das sorgt dafür, dass seine Sounds nur schwierig zu kopieren sind, weil man dafür die Verschaltungen per Kabel nachbauen müsste.
Presets sind das Verdrängte der elektronischen Musik. Sie sind ikonisch, aber kaum ein Musiker würde öffentlich erklären, sie zu nutzen. Im Gegenteil, es gehört zur stillen Abmachung aller Beteiligten, zwar mit der eigenen Synthesizersammlung zu prahlen, aber nicht über die genutzten Sounds zu reden. Auf dem Artwork seines letzten Albums «Syro» veröffentlichte Aphex Twin neben den Ausgaben für Marketing und Herstellung auch eine umfangreiche Equipmentliste. Welche Sounds er nutzt? Das bleibt sein Geschäftsgeheimnis – bis eine neue «Hauntology» auch die Ghostwriter elektronischer Popmusik würdigen wird.