Die letzten Monate in der IGRF waren durch viele Veränderungen, Krisen und Umstrukturierungen geprägt. Die Fabrikzeitung wurde abgeschafft und dem Zeitungsteam gekündigt. In der gleichen Zeit durchlief die IGRF einen Öffnungsprozess mit der Diversity-Coach Handan Kaymak. Da wir ihre Perspektive auf die Geschehnisse relevant finden, veröffentlichen wir dieses Interview als letzte Amtshandlung.

Handan Kaymak begleitet Kulturinstitutionen, die diverser und inklusiver werden möchten. Im Interview spricht sie darüber, inwiefern ein linkes Selbstverständnis diese Prozesse beeinflusst, weshalb Diversität keine Modeerscheinung ist und was für ein angenehmes Zusammenarbeiten für alle notwendig ist.

Fabrikzeitung: In den letzten Jahren zeigen sich viele Kulturbetriebe engagiert, sich intern bezüglich Diversität und Inklusion weiterzubilden. Woran liegt das?

Handan Kaymak: Viele Kulturbetriebe verstehen sich selbst als gesellschaftskritisch. In ihrem Selbstverständnis interessieren sie sich also ohnehin für gesellschaftsrelevante Themen. Diese Prozesse gibt es nicht erst seit gestern, nur weil der Begriff Diversität gerade als eine Modeerscheinung verstanden wird. Schon immer haben Menschen in Institutionen für Veränderung und Gerechtigkeit gekämpft.

Nun stellen einige Betriebe eine Dissonanz zwischen dem eigenen Selbstanspruch und der Aussenwirkung fest. Also zum Beispiel, dass man gerne ein sogenanntes diverses Publikum ansprechen möchte, dies aber nicht gelingt. Das ist ein entscheidender Moment: Die Erkenntnis, dass man es eigentlich gerne anders hätte, aber nicht dorthin kommt und deswegen Hilfe von aussen braucht.

Da kommen Sie ins Spiel. Was erhoffen sich die Betriebe und Personen, wenn sie sich an Sie wenden?

Meiner Meinung nach gibt es zwei Hauptanliegen, die gleichzeitig motivieren. Das erste kommt aus einer Verwertungslogik heraus: Es müssen mehr Tickets verkauft werden und man will ein breiteres Publikum ansprechen. Für viele Kulturstätten ist es über die Jahre immer schwieriger geworden, ihre Besucher*innen zu halten. Dem möchten sie entgegentreten, indem sie ihr Publikum erweitern.

Das zweite ist das ehrliche Interesse an Gerechtigkeitsfragen. Viele Kulturinstitutionen streben danach, den Betrieb für alle Menschen zugänglich zu machen. Sie wollen einen Ort des politischen und kulturellen Austauschs ermöglichen, wo die Menschen angeregt werden, durch kulturelle Angebote mit gesellschaftsrelevanten Themen in Kontakt zu treten.

Was erleben Sie, wenn Sie das erste Mal mit den Kulturbetrieben arbeiten?

Interessant ist, dass sich die Anfragen und die tatsächliche Arbeit häufig stark unterscheiden. In den Anfragen geht es oft um die Erweiterung des Publikums. Die Hoffnung dabei lautet: Wenn wir ein diverses Publikum erzeugen, wird auch unser Programm diverser und so automatisch auch unser Personal. Das klingt dann wie eine Win-win-Situation, aber überspringt die eigentliche Reflexionsarbeit. 

Erst müssen wir die internen Prozesse verstehen, analysieren und reflektieren, bevor wir feststellen können, ob unser Ziel in erster Linie überhaupt sein sollte, ein breiteres Publikum anzusprechen und wer das überhaupt sein soll. 

Woran liegt diese Differenz zwischen den anfänglichen Wünschen und dem realen Prozess?

Oft werden Gruppen als Adressaten gedacht, die gar keine homogenen Gruppen sind. Manchmal liegt es dann vermeintlich schon wieder an dem vermissten Publikum selbst, dass Personen mit bestimmten Merkmalen oder Identitäten wenig darin auftauchen. Aber viele Menschen haben auch andere Interessen und gute Gründe, weshalb sie nicht in den Kulturinstitutionen sind. Die Frage nach diesen Gründen, nach den zugrundeliegenden internen Strukturen und den Zugangsvoraussetzungen, wird zu wenig gestellt, weil man diese vielleicht selber gar nicht mehr wahrnimmt, da sie bereits normalisiert sind.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Niemand möchte die «eine Person» sein. Sei es aufgrund von Hautfarbe, von unterschiedlichen körperlichen oder geistigen Voraussetzungen, Geschlecht oder bestimmten anderen Merkmalen.

Der Betrieb möchte gerne «diverse» Mitarbeiter*innen oder eine bestimmte Gruppe Menschen neu beteiligen. Das heisst aber, zu realisieren, dass die Menschen die erreicht werden wollen, sich die besagten Orte genau angucken werden. In der Regel haben marginalisierte Personen gewisse Mechanismen bereits verinnerlicht und merken ziemlich schnell, dass sie dort nur zu einer Spielfigur gemach werden und einen bestimmten Zweck erfüllen sollen.

Wie beeinflusst das politische Selbstverständnis vieler Kulturinstitutionen die Öffnungsprozesse?

Eine Eigenheit liegt meiner Meinung nach in der Differenz zwischen Anspruch und Selbstbild. Zum Beispiel die Annahme, dass man in seinem eigenen Betrieb Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern geschaffen hätte, weil man sich als linker, alternativer, gesellschaftskritischer Betrieb versteht. Dabei gehen aber die konkreten Fragen nach Deutungshoheit, Redeanteil oder Entscheidungsfragen oft verloren. 

Dasselbe gilt für den Anspruch, ein «Safe Space» für Personen mit Rassismuserfahrung zu sein. Es wäre wichtig, der Frage nachzugehen, inwiefern ein solcher «Safe Space» in einer ungleichen Gesellschaft überhaupt möglich ist.

Ein weiterer Faktor ist die Geschichte der Kulturinstitutionen. Sie mussten sich ihre Daseinsberechtigung eigentlich immer erkämpfen. Nun beobachte ich, dass gewisse Personen aus diesen Generationen, die wirklich stark gekämpft haben, heute interessanterweise oft auf die Bremse treten, wenn es um neue Entwicklungen geht.

Haben Sie eine Theorie dazu?

Es kann sein, dass man aufgrund des ständigen Kampfes um Ressourcen vergessen hat, sich weiterhin mit seiner eigenen Entstehungs- und Herkunftsgeschichte zu beschäftigen. Sodass man sich heute zu wenig fragt, wofür die eigene Institution überhaupt da ist, wofür man gekämpft hat und was die heutigen Ziele sind.

Viele Kulturinstitutionen wurden auch in der Schweiz als antifaschistische Reaktion auf den Nationalsozialismus gegründet. Sie haben also eine sehr linksalternative Entstehungsgeschichte. Heute sind sie oft so professionalisiert und haben ihre gesamten Abläufe daran ausgerichtet, dass sie erhalten bleiben und genügend Geld da ist, um die Angestellten bezahlen zu können. Aber die Sinnfragen werden wenig bearbeitet: Warum gibt es uns eigentlich? Und braucht es uns heute überhaupt noch?

Weshalb gehen diese wichtigen Fragen meist unter?

Ich glaube, es liegt an einem Mangel an politischer Praxis. Es gibt wenig Raum und Zeit, sich alltagspolitischen Fragen innerhalb der Institution zu stellen. Was heisst es denn konkret, politisch für die Themen wie soziale Gerechtigkeit oder Solidarität einzustehen? Was bedeutet das in unserer Alltagspraxis, in unserer Arbeit? 

Diese Frage zeigt sich an ganz banalen Alltagsbeispielen, wenn jemand schlecht über Kolleg*innen spricht, wenn wir Kritik nicht dort adressieren, wo sie eigentlich hingehört, oder auch, wie wir auf ungerechte Situationen reagieren. Wenn beispielsweise ein Finanzloch entsteht, die Konsequenzen davon aber andere tragen, als diejenigen, die dafür verantwortlich sind. In solchen Momenten geht es ganz konkret um politische Arbeitspraxis.

Wie erleben die Personen, die Sie begleiten, diese Prozesse?

Interessant sind die Momente, in denen Klarheit darüber entsteht, wer aus welchen Gründen welche Entscheidungen getroffen hat und wie dies mit Privilegien zusammenhängt.

Die Klarheit, die dann entsteht, ist natürlich nicht für alle gleichermassen vorteilhaft. Wenn ich zum Beispiel immer in einer Entscheidungsposition war, werde ich die Frage nach dem «Warum?» möglicherweise als einen Kontrollmoment erleben, der Verunsicherung auslöst und eine Erklärung einfordert. Diese Reaktion hat wiederum damit zu tun, dass wir Reflexionsprozesse in unserer Arbeit selten als etwas Positives erleben.

Was wir in diesen Prozessen auch gemeinsam lernen, ist, nicht länger auf unser sogenanntes «Bauchgefühl» zu hören, das von unbewussten Vorurteilen und Annahmen geprägt ist. Es ist wichtig, sich bewusst zu werden, dass unsere Entscheidungen stets im Kontext unserer Person, unserer Geschichte und unseres Daseins stattfinden. 

Welche Rollte spielen flache Hierarchien, mit denen Kulturbetriebe oft arbeiten?

Ich bin überhaupt kein Fan von flachen Hierarchien. Das ist zwar ein schönes Wort, aber flache Hierarchien gibt es nicht. Entweder haben wir Hierarchien, dann sind die Strukturen hierarchisch geordnet, oder wir haben eine andere Form des Zusammenseins. Dann muss man den Mut haben, zu definieren, wer die Entscheidungsträger*innen sind. 

Auf Diversität bezogen ist es viel hilfreicher, wenn man Gruppen mit verschiedenen Entscheidungskompetenzen hat, anstatt eine bestimmte Anzahl Einzelpersonen, die für eine gewisse Zeit die Leitungsfunktion übernehmen. Denn so werden Entscheidungskriterien immer weniger hinterfragt. Es geht nicht nur um die Frage, ob irgendjemand der oder die Chef*in ist, sondern darum, wer wann die Verantwortung trägt.

Welche weiteren Aspekte sind essentiell, wenn es um die Förderung von Diversität geht?

Die sogenannte Work-Life-Balance zum Beispiel. Es ist ein Kriterium, das Zugangsbarrieren stark beeinflusst. Wenn erwartet wird, dass ich dauernd präsent bin, Nachtarbeit oder Überstunden leisten muss, kommt ein Arbeitsplatz für mich nicht in Frage, wenn ich beispielsweise meine kranke Mutter pflegen muss.

Hinzu kommt eine junge Generation mit einem neuen Arbeitsethos, die versucht, eine sinnvolle Work-Life-Balance durchzukämpfen und sich auf Überarbeitung nicht mehr einlassen möchte. Dem gegenüber steht eine ältere Generation – oft sind es Männer –, die eine andere Vorstellung von Arbeit haben und häufig sehr lange in ihren Anstellungen bleiben. All das beeinflusst die Diversität in den Betrieben.

Erleben Sie in ihrer Arbeit, dass Kulturbetriebe stark auf die intrinsische Motivation der Angestellten setzen?

Beide Seiten setzen darauf, auch die Angestellten. Noch immer gelten Kulturinstitution mit renommierten Namen als attraktiver Arbeitsort, auch wenn sich dort viele überarbeiten. In anderen grossen Firmen ist es üblich, dass mehr Leistung auch finanziell entlohnt wird – in Kulturinstitutionen gibt es sowas nicht. Dort bedeutet Work-Life-Balance, dass man zusätzlich zur Arbeit in der Mittagspause Yoga macht. Doch bisher können sich die Kulturinstitutionen trotz des Diskurses über Arbeitszeit auf dieses Überengagement der Mitarbeitenden verlassen.

Dabei sehen viele Personen in Kulturbetrieben die kapitalistische Leistungsgesellschaft kritisch. Wie passt daszusammen?

Überhaupt nicht, finde ich. Intrinsische Motivation in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft ist ein Widerspruch in sich. Die Arbeitsleistung jeder Person ist das Kapital, das sie mit einbringt. Die Frage ist, wie der Betrieb mit diesem Kapital umgeht und wem es nützt, wenn die Angestellten auch ihre Freizeit an dem Arbeitsort verbringen. 

Meiner Meinung nach brauchen die Leute andere Hobbys. Denn viele würden sagen, dass Theater, Musik, Literatur oder mit was sie sich beim Arbeiten beschäftigen, auch ihr Hobby ist. Dann stellt sich die Frage, was diese starke Verknüpfung von Arbeit und Hobby macht und wer für den Schutz der Arbeitnehmer*innen verantwortlich ist.

Wer ist in einem kollektiven Betrieb dafür verantwortlich?

Das Kollektiv ist dafür verantwortlich, psychologische Sicherheit herzustellen, dass Personen nicht zu viel arbeiten. Da wären wir aber wieder beim Thema Kontrolle, das wir in diesem Kontext weniger negativ besetzen müssten. Mehr Abstand zur eigenen Arbeit zu haben, ist eine Grundlage für wichtige Reflexionsprozesse.

Von Kira Kynd und Sara Arzu Hardegger

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