«I am just riding», sagt ein Lieferando-Fahrer am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte. Er fahre einfach nur. Er hat kein Interesse, sich mit mir für ein Interview zu treffen.Die Fahrer der Lieferdienste Lieferando, Deliveroo und des kleineren Anbieters Lieferheld gehören mit ihren unförmigen türkisen oder pinken, auf den Rücken geschnallten Kisten mittlerweile zum Berliner Stadtbild. Am Rosenthaler Platz rasen sie fast im Minutentakt den Prenzlauer Berg herunter und lassen sich oft nicht mal von einer roten Ampel stoppen.

«They treat us really badly», sagt ein anderer rider. Er ist Literaturstudent und kommt aus London. Die meisten sind aber mit ihrem Job ganz zufrieden – und das bei Temperaturen in den Gefrierpunkt. «It’s the best job I ever had», sagt Jorge. «With tips, I make 10 to 11 Euros an hour.» Er kommt aus Nicaragua. Ein anderer kommt aus Malaysia, er studiert Maschinenbau, ein weiterer aus Nepal. Die meisten sind in ihren Zwanzigern. Wenn sie älter sind, sind es meistens Deutsche. Die allermeisten sind Männer. Auf etwa 10-20 rider kommt eine Frau. An einem Interview war zunächst etwa die Hälfte interessiert, gaben bereitwillig ihre Telefonnummer raus. Dann überlegten es sich die meisten aber doch anders – auch aus Angst, ihren Job zu verlieren, obwohl ich natürlich Anonymität garantierte.

Gespräch mit Eva

Eva (Name geändert) habe ich vor einem Sushi-Laden angesprochen. Sie ist um die dreissig, kommt aus Süddeutschland und arbeitet für Foodora. Ihren eigentlichen Beruf können wir nicht verraten, da ihre Anonymität gewahrt bleiben soll. Wir treffen uns einige Tage später. Eva zeigt mir ihre Tasche. Die ist sperrig – und vor allem schwer, sie wiegt leer bestimmt sechs oder sieben Kilo.

Alexis Waltz: Wie bist du dazu gekommen, für Foodora zu arbeiten?
Eva: Ich war vorher selbst eine grosse Bestellerin. Ich wusste gar nicht, ob ich das körperlich überhaupt kann, von der sportlichen Seite her. Ich habe immer die Mädels und Jungs getroffen und fand die super nett. Dann habe ich gedacht: Vielleicht musst du das Ganze auch mal von der anderen Seite her erleben. Ich habe mich mit denen unterhalten und die sagten: Mach’s. Das kriegst du schon hin.

Wie geht die Firma mit Dir als Angestellte um?
Die waren immer super nett. Ich kann mich jetzt gar nicht beschweren. Als einziges finde ich es schwierig, dass du für Schichten eingeteilt wirst. Du kannst zwar bestimmte Tage blockieren, wenn du etwas anderes vorhast. Manchmal hast du aber spontane Sachen, die du einfach machen musst, und dann musst du jemand als Ersatz finden. Das klappt nicht gut, besonders im Winter. Und wenn du nicht zu einer Schicht kommst, kriegst du gleich einen strike, also eine Verwarnung.

Wie erlebst du die Kund*innen, die Leute, die Essen bestellen?
Die meisten sind nett. Aber du benutzt halt Google Maps, und manchmal kennst du dich in der bestreffenden Gegend nicht so aus. Ab und zu sind es auch bezirksübergreifende Sachen, für die du dich eigentlich nicht eingetragen hast, aber das gehört halt dazu. Dann fährst du und fährst und findest das Haus nicht. Dann kommt der Kunde so: «Na, stimmt was mit der Adresse nicht?» – «Ne, ich hab es halt einfach nicht gefunden. Das ist hier nicht meine Ecke.» Da innerlich nicht sauer zu werden, ist nicht so leicht. Ähnlich unangenehm sind auch Leute, die dich in den sechsten oder siebten Stock hochlaufen lassen, dir kein Trinkgeld geben und einfach sagen: Danke. Wir dürfen auch nicht nach Trinkgeld fragen.

Wie bist du beschäftigt?
Ich habe einen Vertrag und mache zwanzig Stunden pro Woche, ich arbeite meistens abends. Tagsüber kann ich dann meine andere Arbeit machen – wenn ich nicht erschöpft bin. Das Problem ist, dass es körperlich schon sehr anstrengend ist. Gestern habe ich den ganzen Tag im Bett verbracht. Davor hatte ich zum ersten Mal eine Acht-Stunden-Schicht.

Die Fahrer*innen, die man auf der Straße erlebt, wirken immer sehr geschäftig bis gestresst. Wie sieht dein Arbeitstag aus?
Nach sechs Stunden hat man eine halbe Stunde Pause. Sonst fährst du ununterbrochen. Es sei denn, es gibt keine Bestellungen. Dann wartest du. Das passiert aber selten. Es wird erwartet, dass du zwei bis drei Bestellungen schaffst pro Stunde. Das sind aber Strecken bis zu zweieinhalb Kilometer. Hin – und wieder zum Ausgangspunkt zurück. Und dann noch die Treppen.

Fährst du immer wieder zum Ausgangspunkt zurück?
Wenn du weit draußen bist, kann es sein, dass auf dem Rückweg schon wieder ein Piep kommt.

Was machst du, wenn du einen Platten hast?
Dann schreibe ich der Zentrale. Man soll sich dann ein Lidl-Fahrrad leihen und weiterfahren. Das ist so eine Sache, die andere dann nervt. Da kommt es gelegentlich zu Spannungen. Die sitzen im Büro, und du bist auf der Straße, die können sich schlecht in deine Situation versetzen. Ich persönlich habe aber noch keine schlechten Erfahrungen gemacht.

Sie kommen nicht für dein Fahrrad auf und die Arbeitskleidung.
Ich habe einen unglaublichen Verschleiß an Leggins.

Ich habe mit vielen Fahrer*innen kurz gesprochen, und ich war überrascht, was für einen zufriedenen Eindruck viele machen.
Das ist auch das Adrenalin. Ich bin kein Typ für das Büro. Du hast die Freiheit, du bist auf dich gestellt, du triffst spannende Leute. Abends durch die Stadt zu fahren, ist total spannend. Da erlebt man etwas. Und meine Kollegen sind super. Jeder grüßt sich, wir helfen uns gegenseitig. Weil die alle wissen, was du durchmachst. Das Wetter, die Kälte und die Nässe sind hart. Aber das hat auch etwas Schräges – das finde ich cool.

Was machst du im strömenden Regen bei 3 Grad?
Weiterfahren. Ich war schon mal komplett bis auf die Haut durchnässt. Da habe ich bei der Zentrale angerufen. Ich musste aber meine Lieferung noch erfüllen. Die konnte aus irgendeinem Grund nicht neu vergeben werden. Aber das überlebt man dann auch. Das nimmt man in Kauf, denn man sucht ja auch das Extrem. Das ist ein Adrenalin-Kick. Eine Freundin sagte neulich zu mir: Ich finde dich viele weniger gestresst als früher. Damals habe ich im Grossraumbüro gearbeitet. Diese ganzen Leute, die Besprechungen, das ewige Geschwätz: Wie viele Mails hast du schon bearbeitet?

Verdienst du weniger, wenn du langsamer fährst?
Bei Deliveroo würdest du weniger verdienen, weil du pro Lieferung bezahlt wirst. Bei Foodora kriegst du dann auch Probleme. Die App zeigt an, dass du zu spät bist. Dann verrutscht alles, und du bekommst Minus-Minuten angezeigt. Die App pusht unglaublich.

Du scheinst ganz zufrieden zu sein als rider. Dennoch: Was könnte besser sein?
Das Gehalt könnte etwas höher sein. Viele Fahrer*innen fühlen sich nicht wertgeschätzt. Und der Beruf wird belächelt. Es wird nicht gesehen, dass dieser Job eine extreme sportliche Leistung ist. Ein Kollege hat aufgehört und bei McDonalds angefangen, weil er ständig so erschöpft war. Ein anderer hatte gerade eine Lungenentzündung und muss Antibiotika nehmen. Und beide sind drahtige Hardcore-Sportler.

Gespräch mit Adair

Auch Adairs tatsächlichen Namen, seine Herkunft und seinen zweiten Beruf verraten wir nicht. Er fährt schon länger als Eva, 2 Jahre, für den Foodora-Konkurrenten Deliveroo.

Wie bist du zu deinem Job bei Deliveroo gekommen?
Adair: Am Anfang hatte das Fahren für mich eine therapeutische Wirkung. Es hat mir geholfen, mein Leben in den Griff zu kriegen. Es hat mir auch körperlich geholfen, denn ich habe damals viel zu viel Zeit vor dem Computer verbracht. Ich liebe das Fahren immer noch. Aber jetzt, wo ich es schon lange mache, frustriert es mich, dass ich so viel fahren muss, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, dass ich kaum noch Zeit habe, das zu tun, was ich eigentlich machen möchte.

Was hat dir am Anfang an der Arbeit Spass gemacht?
Es war eine abenteuerliche Zeit, als ich mit dem Job angefangen habe. Ich war fasziniert davon, und er tat mir so gut. Ich habe nichts anderes gemacht: Fahren, Essen, Schlafen. Fahren, Essen, Schlafen. Immer wieder. Ich habe es geliebt. Weil ich neugierig war, fuhr ich auch in anderen Bezirken. Der Schweiss lief nur so aus mir heraus. Allein die Rückfahrt zu dem eigenen Ausgangspunkt konnte da eine halbe Stunde dauern. Ich hatte viele schöne Momente, in denen ich etwa durch die Villengegend in Grunewald gefahren bin. Jetzt muss man nicht mehr zurückfahren, die App zeigt einem gleich das nächste Restaurant an.

Wie viel fährst du?
Zwischen 25 und 35 Stunden pro Woche. Ich mache den Job freiberuflich. Bei Deliveroo sind fast alle Fahrer*-innen freiberuflich beschäftigt. So muss ich meine Krankenversicherung selbst bezahlen. Letztes Jahr wurde die Unfallversicherung teurer, ohne die du nicht fahren darfst. Die kostet jetzt 70 Euro im Monat, nicht mehr 10 Euro wie bisher. Insgesamt gebe ich 350 Euro im Monat für Versicherungen aus.

Was verdienst du?
Ich bekomme 5 Euro pro Fahrt. Damit komme ich zurzeit auf etwa 15 Euro die Stunde, mit Trinkgeld auf vielleicht 18 Euro. Im Sommer kann es viel weniger sein. Da bestellen die Leute viel weniger Essen.

Wenn du 15 Euro die Stunde verdienst, heisst das, dass du drei Lieferungen pro Stunde machen musst. Wie schaffst du es, in 20 Minuten in ein Restaurant zu fahren, das Essen einzupacken, zur Wohnung des Kunden zu fahren, die Wohnung zu finden, die Treppen zu steigen und mit dem Kunden zu sprechen?
Um drei Lieferungen pro Stunde zu machen, muss ich sehr effizient sein. Alles ist an seinem Platz. Mein Schlüssel ist etwa immer hier an derselben Stelle. Diese Abläufe gefallen mir auch. Ich geniesse es, eine gute Ausrüstung zu haben und so viel draussen zu sein. Das passt zu mir. Wenn diese Arbeit für dich funktionieren soll, musst du mit Leidenschaft dabei sein. Viele tragen keinen Helm, sie haben schlechte Lichter und die Kiste hängt tief an ihrem Rücken. Ich habe auch oft Rückenschmerzen, deshalb stretche ich vor der Arbeit und danach.

Unterstützt dich Deliveroo jenseits der 5 Euro pro Lieferung?
Nein. Für die Zeit, in der ich mein Fahrrad instand halte, werde ich nicht bezahlt. Und ich zahle natürlich auch das Fahrrad selbst. Letzthin musste ich eine Tasche für 230 Euro kaufen, weil die Taschen von Deliveroo so unbequem sind. Sie könnten die Fahrer mehr unterstützen, aber das ist nicht vorgesehen. So wird sehr deutlich, was ihr Ziel ist, was für eine Beziehung sie zu den Fahrern haben wollen: Sie wollen so wenig Kontakt wie möglich. Es ist quasi unmöglich, einen Termin mit denen im Büro auszumachen.

Über was würdest du da sprechen wollen?
Ich würde gerne darüber sprechen, wie ich meine Arbeit erlebe. Ich würde sie kritisieren, und sie mich. Wie in jeder gesunden Beziehung. Wir sind aber Sub-Unternehmer, mit denen spricht man nicht wie mit Mitarbeitern. Man arbeitet mit Sub-Unternehmern, wenn man keine Verpflichtungen haben möchte.

Wie ist der Umgang mit den Kund*innen?
Sie sind nett und geben in der Regel Trinkgeld. Manchmal transportiere ich aber bis zu zwölf Mahlzeiten in ein Büro und da bekomme ich oft keinen Cent Tip. Für die Person, die die Bestellung entgegennimmt, ist es eine Lieferung an das Büro. Sie fühlt sich persönlich nicht zu Dank verpflichtet.

Wir sehen deine Schichten aus?
Ich arbeite mittags zwei bis drei Stunden. Dann mache ich Pause und koche mir mein Mittagessen und mache meine andere Arbeit. Am Abend fahre ich nochmal – vier oder fünf Stunden. Weil der Arbeitgeber nicht so verantwortungsvoll handelt, nehme auch ich mir meine Freiheiten heraus. Ich verpasse auch mal eine Schicht. Dann werde ich bestraft, indem ich erst später als andere Fahrer die Schichten für die nächste Woche buchen kann.

Du hast gesagt, dass die Arbeit eine positive Wirkung auf deine Befindlichkeit hatte. Kannst du das erklären?
Es gab ein Update, und plötzlich ist die App viel effizienter geworden. Du kommst in ein Lokal, und die Bestellung ist schon fertig. Jedes Mal, immer wieder. Es geht: Bam, bam, bam. Die App weiss, wie lang du brauchst und wie lange es dauert, die Gerichte zuzubereiten. Ich habe in einer Stunde bis zu sieben Lieferungen geschafft. Das ist faszinierend, da dran zu bleiben. Es macht Spass, wenn viel passiert. Dann verfliegt die Zeit. Wenn aber wenig los ist, wird dein Körper nicht richtig warm. Dann setzt du dich hin, und du frierst.

Was machst du bei Schnee und Eis? Wird der Dienst dann eingestellt?
Bei dem Orkan im Herbst haben sie ihn für ein paar Stunden unterbrochen. Aber nicht im Winter. Da fahre ich ununterbrochen. Ich fahre durch Schneetreiben und durch Hagel. Eis ist auch kein Problem, ich fahre einfach drüber. Für solche Belastungen ist die Bezahlung aber nicht angemessen. Mit was für einer Arbeit in einem konventionellen Wirtschaftszweig ist unser Job vergleichbar? Vielleicht nicht grad mit jemand, der in einem Bergwerk arbeitet, aber es ist schon extrem, was wir machen. Warum sollte man überhaupt noch jemand fest anstellen, wenn man mit so geringem Einsatz Leute dazu bringen kann, bei jedem Wind und Wetter ganze Tage auf dem Fahrrad zu verbringen?

Alexis Waltz ist Kulturwissenschaftler und Journalist. Besonders interessiert er sich für elektronische Musik, aber auch für die Geschichte der Gegenkulturen und Avantgarden, Kultur und Politik der USA, die Geschichte der Arbeit und die Geschichte der Geschlechter. Seine Texte sind in Groove, Spex, taz oder in der Süddeutschen Zeitung zu lesen und wurden ins Englische, Russische, Polnische und Französische übersetzt. 

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