Heute vor vierzig Jahren entluden sich die Spannungen zwischen jugendlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Strukturen in ihrem grössten Ausbruch. In der bis heute als Opernhauskravalle bekannten Nacht entlud sich die Frustration über die Untätigkeit der Stadtregierung mit einer solchen Heftigkeit, dass selbst internationale Medien darüber berichteten.

Wir haben zehn damalige Bewegte (und Unbewegte) nach ihren Erinnerungen an den 30. Mai 1980 befragt, und auch danach, was in ihren Augen von der Bewegung geblieben ist. Was ist ihr «Verdienst», was hat sie «angerichtet» und wann ist sie zum Erliegen gekommen? Erhalten haben wir persönliche und reflektierte Zeitzeugnisse, die helfen, das Geschehene einzuordnen – und mehr oder weniger explizite Forderungen und Fragen für heute: «Wo ist die nächste Bewegung?»

Miklós Klaus Rózsa

Der 30. Mai 1980 wird mir immer in Erinnerung bleiben. Detailreich, auch heute – 40 Jahre danach…..

Bellvue, 30. Mai 1980. Bild: Miklós Klaus Rózsa


Ich war als Fotojournalist unterwegs. Leute rund um die Gruppe «Luft und Lärm» hatten zu einer Demo aufgerufen gegen einen Umbaukredit für das Opernhaus. Über 60 Millionen sollten dort verbaut werden. Das nervte – und wie!
Man muss sich vorstellen (es braucht dazu, aus heutiger Sicht, viel Vorstellungskraft!): 60 Millionen mal so hopp, in einer Stadt, dessen Stadtpräsident erst gerade noch verlauten liess: «Popmusik ist keine Kultur». In einer Stadt, wo es keine Freiräume gab für Jugendliche, keine Räume ohne Konsumzwang, wo es gerade mal zwei oder drei Nachtkaffees gab – wobei die «Nacht» um 2 Uhr dann zu Ende war – in die man aber kaum reinkam, weil die Security niemanden mehr reinliessen (ausser gegen Bestechung). In einer Stadt, in der eine «Rasen betreten verboten»-Mentalität herrschte, in der die Polizei die Hippies an der «Riviera» und die Kiffer jagte und jede Demo im Keim erstickt hat.
Nun, es versammelten sich die üblichen Verdächtigen: 200 bis 300 Menschen, mit einem Fronttransparent «Wir sind die Kulturleichen». Über das Bellevue kommend überquerte der überschaubare Zug die Sächsilüüte-Wiese und breitet sich auf den Treppen zum Opernhaus aus. Es war alles und alle friedlich, Transparente, eine Kuhglocke, Seifenblasen und ein Megafon. Schon kamen sie aus dem Gebäude gestürzt, die Trachtengruppe Urania im Vollwichs, die uns im Innern des Opernhauses erwartet hatte. Nun ja, es kam wie es kommen musste, die Leute flüchteten und – aber stopp! Sie kamen zurück! Zum ersten Mal war so etwas wie Widerstand zu spüren: Steine und Baulatten wurden von der NZZ-Baustelle angeschleppt und flogen gegen die Polizisten. Wow! Das gab es noch nie! Die Polizei zog sich fast zurück, sammelte sich und schoss dann mit Tränengas zurück. Aber die DemonstrantInnen gaben nicht auf. Das Ganze verlagerte sich Richtung Niederdorf. Dort ging es weiter: Leute aus den Spelunken kamen heraus und machten mit, plötzlich wurden Geschäfte geplündert! Und dann das auch noch das: Im Hallenstadion war am selben Abend ein Bob Marley Konzert. «Get up stand up, fight for your right!» war das letzte Lied, die Leute strömten von Oerlikon direkt ins Dörfli und schlossen sich der Demo an. Es gab eine regelrechte Strassenschlacht, der die Polizei überhaupt nicht gewachsen war. Dann holten die Schmier ihre Geheimwaffe aus der Urania: Gummigeschossgewehre mit entsprechender Munition. Die Leute waren überrascht und entsetzt. Aber in der verwinkelten Altstadt und gegen die riesige Übermacht, hatten die Polizisten auch so keine Chance. Erst gegen Morgen früh beruhigte sich die Lage.
Es wurde ein langer, heisser Sommer. Ein Sommer, der zwei Jahre dauern sollte, der viele Schmerzen, noch mehr Freude und grosse Erfolge bringen sollte. Wer hätte gedacht, dass diese Nacht meine nächsten zwei Jahre bestimmen wird und mein Leben auf den Kopf stellt!

Demonstrationszug zur Zur Teileroeffnung der Roten Fabrik am 25. Oktober 1980. Bild: Miklós Klaus Rózsa

Miklós Klaus Rózsa (*1954) dokumentiert seit den 1970er Jahren als politischer Aktivist und Fotograf gesellschaftliche und kulturelle Bewegungen. Aufgrund seiner Tätigkeit wurde er jahrelang von der Schweizerischen Bundespolizei, Kantonspolizei und Stadtpolizei Zürich überwacht.

Josy Meier

Für uns hiess sie schlicht «d’Bewegig». Nichts mit Zürcher Unruhe, Jugendunruhe oder Jugendbewegung 80. Angefangen hatte d’Bewegig mit einem Paukenschlag am 30. Mai 1980 vor dem Zürcher Opernhaus, wo für 60 Millionen ein Fleischkäse gebaut werden sollte. Wo ich damals war, weiss ich genau, aber es ist mir etwas peinlich. Ich war auf jeden Fall weit weg und ein Greenhorn.
D’Bewegig, das war für mich eine gewaltige Eruption, die das an den Tag beförderte, was damals in vielen jungen Menschen schlummerte: das schiere Bedürfnis nach Lust, Lebensfreude, nach Gleichaltrigen, nach Gruppengefühl, nach Lossagung von Autoritäten, nach Gerechtigkeit, eigener Lebensgestaltung und gaaanz viel Freiraum.
Vor ein paar Tagen fragte mich eine deutsche Freundin, die schon lange in Zürich lebt, aber nicht lange genug, warum die Jugendbewegung von 1980 für Zürich so bedeutsam ist, dass sie alle zehn Jahre gefeiert wird, aber die Studentenbewegung von 1968 nicht, obwohl letztere die ganze Welt erschüttert hat. Die Antwort ist schon oft gegeben worden, aber immer noch stimmig: D’Bewegig hat Zürich komplett verändert. Sie war ein lokales Phänomen, sie hat einer Provinzstadt einen nachhaltigen Tritt in den Hintern gegeben. Bis 1980 war Zürich eine verbunkerte, triste Banken- und Wirtschaftsstadt mit einer Handvoll bürgerlicher, ewiggestriger Kulturtempel. Die Trottoirs waren nach Arbeitsschluss hochgeklappt, die wenigen netten Treffpunkte wurden von der Polizei argwöhnisch beobachtet und öffentlicher Raum war ein Fremdwort. Damit machte d’Bewegig Schluss. Mit ihrer lauten Forderung nach Freiräumen und wilden Strassenprotesten brachte sie das langweilige und konservative Zürich zuerst ins Wanken und dann – langfristig – zu Fall.
Für mich dauert d’Bewegig in einem gewissen Sinne bis heute an. Aus dem AJZ-Spunten wurden der Tessiner Keller und das Chinazelt im Theaterspektakel. Aus dem AJZ-Kino das Xenix, das Riffraff und das Kosmos. Aus dem AJZ und der Besetzung am Stauffacher die neuen Wohngenossenschaften Dreieck, Kraftwerk, Karthago und Kalkbreite. Die bunten, wilden und militanten Strassenproteste führten zur Eroberung des öffentlichen Raumes. Viele Musikerinnen, Zeichner, Filmerinnen und Schreiberlinge von damals sind auch heute mit ihren Arbeiten präsent. Ebenso einige Politaktivist*innen mit ihren vielfältigen Aktionsfeldern.
D’Bewegig war wild, kompromisslos und überbordend. In meinem Herzen trage ich Erinnerungen an aussergewöhnliche Momente, aber auch an Freundinnen und Freunde, für die das Versprechen nach Freiheit zu gross war.

Josy Meier ist selbstständige Drehbuchautorin und war während vieler Jahre Teil der anarchistischen Buchhandlung Paranoia City.

Dominik Landwehr

1980 war ich in meinem zweiten Jahr an der Uni und studierte mit mässiger Begeisterung Germanistik. Nebenbei hatte ich begonnen für die Neuen Zürcher Nachrichten zu arbeiten, eine katholische Tageszeitung, die es heute nicht mehr gibt. Ich kam zwischen 18 und 19 Uhr von der Redaktionssitzung an der Holbeinstrasse im Seefeld und bemerkte vor dem Opernhaus ein grosses Polizeiaufgebot. Vor dem Eingang hatte sich eine kleine Demonstration mit vielleicht 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern versammelt. Bald flogen die ersten Steine, dann kam das Tränengas. Das Geschehen verlagerte sich vom Opernhaus zum Bellevue und die Sache geriet ausser Kontrolle.
Später wechselte ich zum Regionaljournal von Radio DRS und arbeitete auch für die Nachrichtenagentur DDP/AP. Bei einem Einsatz vor dem AJZ wurde ich einmal von einem Gummigeschoss getroffen und musste im Spital verarztet werden. Einmal wurde ich verhaftet und einige Stunden von der Kriminalpolizei verhört. Zur Anzeige kam es nicht, Kollege Koni Tönz – er war auch der Schweizer Korrespondent von «Aktzenzeichen XY» – konnte das mit seinen Kontakten verhindern.
Ich wundere mich heute über die distanzlose Art, in der wir jungen Journis damals über diese Unruhen berichtet haben. Umgekehrt war die Antwort des Staates jenseits jeglicher Verhältnismässigkeit. Mir scheint, diese Zeit werde heute etwas überhöht.
Das wichtigste war für mich rückblickend die Entfaltung der Kreativität – Punk war damals angesagt und punkig war die ganze Bewegungs-Ästhetik. Das Strassenblatt «Iisbrecher», der Film «Züri brännt» und die Musik jener Zeit – alles scheint mir heute ikonografisch. Ich glaube diese Zeit hat den Weg für die Kreativszene geebnet, die dann in den 90er Jahren mit den illegalen Bars wichtig wurde.

Dominik Landwehr, *1958, ist nach Jahren bei Radio DRS, IKRK und Migros-Kulturprozent heute als selbständiger Autor und Erwachsenenbilder tätig.
www.sternenjaeger.ch

Richi Wolff

«Get up, stand up, stand up for your rights» (Bob Marley, 30.5.1980, Hallenstadion Zürich)

Am 30. Mai 1980 war ich am historischen Bob Marley Konzert: Heisscoole Reggae-Songs, politisch-lyrische Texte, ein charismatischer Bob Marley, Party-Stimmung, Ganja-Schwaden. Nach dem Konzert sollte der Abend gemütlich ausklingen, wir wollten schwelgen, mehr Musik hören. Den laut geschrienen Aufforderungen «Chömed alli i d‘Stadt – a d‘Demo gäge s‘Operehuus und für di Rot Fabrik» folgten wir deshalb nicht. Schade. Aber was wir verpasst hatten, holten wir in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten nach.
Durch d‘Bewegig wurde ich massiv politisiert. Ich hatte nicht geglaubt, dass a) so etwas in der Schweiz möglich wäre, b) von Staates wegen so darauf reagiert und c) Zürich sich dermassen verändern würde.
D‘Bewegig war eine eigentliche Kulturrevolution und gleichzeitig eine geballte Ladung angewandter Staatskunde. Es war unglaublich bereichernd, so viele unterschiedlichste Menschen kennen zu lernen, die gewaltigen Kräfte mitzuerleben, die mobilisiert wurden. Ein süchtig-machendes Gefühl der Befreiung ging durch Zürich und löste gewaltige Energien aus, Energien, die Zürich zu einer anderen Stadt machen sollten. Das Grau war plötzlich weg, die Starre auch.
Für mich persönlich war «1980» ein Wendepunkt: Mein Studieninteresse verlagerte sich auf das Thema Stadtentwicklung und beruflich engagierte ich mich im 80er Projekt Rote Fabrik. Von hier aus konnte ich den kulturpolitischen Aufbruch Zürichs miterleben und mitprägen. Was ich hier lernte und die Beziehungen, die ich hier knüpfen konnte, sind massgeblich verantwortlich dafür, dass ich heute da bin wo ich bin.

Richard Wolff (*1957) ist Stadtentwicklungsforscher und Mitbegründer des International Networks for Urban Research and Action INURA. Ab den 80er Jahren war er über mehrere Jahre als Sekretär und Vorstand in der Roten Fabrik engagiert. 2013 wurde er in den Zürcher Stadtrat gewählt, wo er aktuell dem Tiefbau- und Entsorgungsdepartement vorsteht.  

Regula Bochsler

«Get Up, Stand Up!»

Ja, ich war am legendären Bob Marley-Konzert. Und ja, ich habe mein Feuerzeug geschwenkt, als er «No women, no cry» gesungen hat. Wir haben ja damals ausnahmslos alle geraucht, die meisten wie die Bürstenbinder. Ich «MARY Long – sie ist so mild». Folglich hatten wir auch alle ein Feuerzeug in der Tasche. Das Lied hat mich sehr gerührt, daran erinnere ich mich noch gut. Hätte ich gewusst, dass Bob Marley in weniger als einem Jahr tot ist, hätte ich wohl geheult. Dann musste ich mich hinsetzen. Nicht aus Rührung, ich war die ganze Zeit auf einem Fuss gestanden.
Mein Freund und seine Kumpels fuhren schon damals Rollbrett. Das war sehr cool. Wenn ich mich richtig erinnere, sagten wir damals jedoch nicht «cool», sondern «läss», das war die coole Form von «lässig». (Der Ngram Viewer, eines meiner Lieblingstools von Google, zeigt einen leichten Anstieg der – geschriebenen – Anwendung von «cool» in den 70er Jahren und einen steilen in den 80er Jahren. Na also!) Wir sagten auch «groovy», was im Nachhinein schwer verständlich ist. Aber zurück zum Rollbrett. Ich wollte auch. Also suchten wir an einem schönen Sonntagnachmittag eine kleine, leicht abschüssige Strasse irgendwo auf dem Land, ohne Verkehr. Ging ganz gut das erste Mal. Bin nicht hingefallen. Nur bremsen ging nicht. Musste also abspringen. Am Abend war mein rechter Fuss doppelt so gross wie mein linker. Ohne Übertreibung. Der Arzt diagnostizierte eine schwere Bänderzerrung.
Ich bin dann an Krücken ins Hallenstadion gehumpelt. War sau-anstrengend. Und sehr uncool. Nach dem Konzert fuhren wir nachhause, in die WG. Eine Altbauwohnung unter dem Dach. So alt, dass wir die Küche im Winter mit dem Gasbackofen heizen mussten. Wir hörten Radio. Piratenradio. Ich glaube, es war Radio Banana. So erfuhren wir, was in der Innenstadt los war. Anscheinend hatten auch Konzertbesucher*innen das «Get Up, Stand Up!» von Bob Marley recht wörtlich genommen. Ich war wie elektrifiziert. Mein Freund verliebt genug, dass er bei mir zuhause blieb. Aber gab es sie tatsächlich, die Live-Berichterstattung vom Opernhaus-Krawall? Vielleicht war es ein anderer Abend, an dem ich dank dem Schwarzsender dabei war, bei der «äkschen» auf der Strasse. Fuss hochgelagert. Krücken neben mir. Was ich ganz sicher weiss, es gab diesen Abend. Und dass ich, kaum waren die Krücken weg, auch auf der Stras­se war.

Regula Bochsler (*1958) ist Historikerin, Journalistin und Künstlerin. Sie arbeitete 25 Jahre für das Schweizer Fernsehen, zuletzt als Redaktionsleiterin des Kulturplatz. Zur Zeit forscht sie schwerpunktmässig zur Geschichte der Emser Werke. 

Hans X. Hagen

Am 30. Mai war ich, soweit ich mich erinnere, in München, ich bin dazumals viel per Autostopp herumgereist. Zurück in Zürich war ich erst 2,3 Tage später. Es gab zu dieser Zeit ja immer wieder Demos in Zürich, deshalb dachte ich im Voraus auch nicht daran, dass es genau am 30. Mai so eskalieren würde. Ich wohnte seit Herbst 1979 in der Stadt Zürich an der Brandschenkestrasse 38, in einer der damals als «Drahtzieher-WG» bezeichneten Wohngemeinschaft; obwohl ich noch nicht lange in der Stadt wohnte, fand ich dadurch relativ rasch Zugang zum «aktiven» Teil von Zürich.
An den Demos selber war ich selten zuvorderst dabei. Wir hatten zu Beginn nichts gegen die Polizei an sich. Wir wehrten uns aber gegen die Politik, die so stark auf Repression setzte. Die Polizei hatte dabei die undankbare Rolle, diese Politik durchzusetzten und wir sahen es als legitim an, uns dagegen zu wehren.
Als eigentliche «Jugendbewegung» habe ich d’Be-wegig nie wahrgenommen. Es gab so viele Menschen unterschiedlichen Alters, die sich für die Sache einsetzten, für Theater, für Konzerte, für Film. Damals gab es ja in der Stadt nur sehr wenig Angebote.
Zum Erliegen kam d’Bewegig in meinen Augen bereits ab Mitte 1981. Viele engagierte Aktive wurden ja bereits 1980 regelrecht kapputt- oder fertiggemacht. Gleichzeitig waren einzelne Forderungen inzwischen erfüllt; die Rote Fabrik hatten wir da bereits bekommen, das AJZ war nicht mehr zu halten. 1982 hatte für die Stadt, aber auch für mich persönlich, die grosse Depression begonnen. Viele haben sich zurückgezogen und waren häufiger an Sachen in kleineren Gruppen engagiert, andere sind aus der Stadt weggezogen.
Heute sind vor allem noch die Institutionen sichtbar, die durch und aus der Bewegig entstanden sind: die geforderte Rote Fabrik, das aus dem AJZ-Kino entstandene Xenix oder der Musikladen RecRec. Auch das Theaterspektakel, das zwar unabhängig davon entstanden ist, aber auf demselben Leidensdruck basierte, hat sich wohl parallel zur Bewegig entwickelt. Und letztlich gibt es viele andere Sachen, die zu dieser Zeit begonnen und durch den kollektiven Geist der Bewegig bestärkt wurden: Kollektiv verwaltete Betriebe wie z.B. die Wochenzeitung WOZ, die Druckerei Ropress oder der Videoladen, dank dem wir heute den Film «Züri brännt» haben. Und letztlich ist wohl auch die Festhütte Zürich, 24h, 7-Tage-die-Woche eine Folge der Bewegig. Die Forderung nach Freiraum kann in gewissem Sinne auch als übererfüllt angesehen werden.

Hans X. Hagen (*1955) ist inoffizieller Archivar des Areals der Roten Fabrik und Mitbeteiligter am ersten Open-Air-Kino in Zürich: «Film am See».

Louis Froelicher

Am 30.Mai 1980 weilte ich tagsüber in einem kleinen Bündner Bergdorf, um einen Vertrag als Alphirt für den kommenden Sommer zu unterzeichnen. Spät in der Nacht kehrte ich nach Zürich zurück. Die Innenstadt pulsierte und bebte und explosionsartig entlud sich da ein seit Jahren aufgestauter Frust über die in Sachen Jugendkultur uneinsichtige Stadtbehörde. Ein gemeinsames Gefühl des Ausbruchs aus diesem biederen und kleinkarierten Zürich lag förmlich in der Luft. Und endlich bewegte sie sich doch, diese Stadt, in der bis anhin auf vielen Grünflächen «Rasen Betreten Verboten» war, die keinerlei umkommerzielle kulturelle Freiräume duldete und offiziell verkündete, dass «Rock und Jazz keine Kultur» sei. Die entstehende 1980er Bewegung versprach einen lang ersehnten verheissungsvollen kulturellen Aufbruch.
Einiges veränderte sich, aber lange nicht alles ward gut, wie wir erhofft hatten. Vergessen wir nicht die vielen Jugendlichen die voller Träume und mit viel Herzblut aufbrachen und schon bald an einer Überdosis staatlicher Repression und harter Drogen zerbrachen. Und immer noch haben kreative nichtkommerzielle kulturelle Freiräume (wie es z.B. Wohlgroth, Binz und Juchhof Areal waren) kaum Überlebenschancen in dieser so konsumfreudigen Stadt.

Louis Frölicher (*1951) war in der Roten Fabrik von 1981 bis 2016 im Kollektiv-Restaurant Ziegel Oh Lac (1981-1984 «Zum Rote Ziegel») aktiv.

Michel Fries

Wo warst Du am 30. Mai 1980? 

Weiss ich nicht mehr. auf jeden fall nicht an der demo und vor dem opernhaus auch nicht.

Was ist von der Bewegung geblieben? 

• links-alternative stadtregierung
• ein grosses, lockeres netzwerk von mitbewegten
• alternative + kulturelle freiräume: provitreff, rf, kaserne, clubs, xenix
• spünten fürd lüüt
• fixerstübli
• indirekt: zhdk als ausdruck massiv erweiterter kultureller selbstverwirklichung

Was ist ihr «Verdienst»?

• sie hat verkrustete strukturen aufgesprengt
• geschlechterrollen und hierarchien hinterfragt
• fokus auf unterentwickelte länder erweitert
• sozialistische bruderstaaten kritisch hinterfragt
• ich habe gelernt, selbständig zu denken: persönlich, sozial, politisch
• ich habe gelernt, mich von autoritäten nicht beeindrucken zu lassen

Was hat sie «angerichtet»? 

• kollateralschäden an unbeteiligten
• nischen für alternative
• dogmatisches denken

Und, (wann) ist die Bewegung Deiner Meinung nach zum Erliegen gekommen? 

• natürlich (87, 88?)
• letzte zuckungen: vor 10 jahren war ich an einer igrf-gv, da stellte das betriebsbüro den antrag, dem ziegel das stimmrecht zu entziehen 

Michel Fries (*1954) ist selbstständiger Grafiker. In den 80er Jahren war er Teil der Bewegig, dokumentierte diese fotografisch und arbeitete in der Pressegruppe mit. 

Beat Locher

Als Mitglied der SP Zürich 2 engagierte ich mich schon seit 1973 für die Rote Fabrik. Nachdem das Volk 1977 die Schaffung eines Kultur- und Freizeitzentrums mit grosser Mehrheit angenommen hatte, ist die Ausarbeitung einer konkreten Vorlage in der Stadtschublade verschwunden. Die Vorlage für den Umbau des Opernhauses für 60 Millionen Franken war denn auch für linke Genossinnen und Genossen 1980 ein Affront. Mit der bevorstehenden Abstimmung über den Opernhauskredit sahen wir eine Chance, die Anliegen der sogenannten «alternativen» Kultur in die Öffentlichkeit zu tragen. Zu diesem Zweck wurde 1980 die IGRF gegründet, mit dem Ziel einen Teil der Roten Fabrik in Betrieb zu nehmen. Unser Anliegen fand bei den Stadtbehörden keine Gnade und der damalige Stadtpräsident Widmer behauptete, mit der bestehenden Vermietung der Räume sei das Anliegen eines Kulturzentrums bereits erfüllt. Bereits am 1. Mai-Umzug gab es Protestplakate und Parolen gegen den Opernhausumbau. Ich war deshalb über die heftige Auseinandersetzung vor dem Opernhaus nicht überrascht. Nach meiner heutigen Einschätzung trifft die Stadt eine grosse Schuld. Sie war nicht fähig, die Zeichen der Zeit zu erkennen.
Die Frage, ob Gewalt zu Veränderung beitragen kann, muss ich im Falle der Opernhauskrawalle mit einem klaren Ja beantworten. Was bisher unmöglich war, ist plötzlich Realität geworden. Drei Tage nach den Auseinandersetzungen auf der Strasse, wurde der Verein IGRF von der Stadt zu Vertragsverhandlungen eingeladen. Eine Teilinbetriebnahme der Roten Fabrik für den Hebst 1980 war das Ziel. Wir wurden mit allen Ehren empfangen und es gab Wein aus dem Staatskeller zum Anstossen. Beschämt sass ich im Sitzungszimmer, mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass es ohne den Aufstand der Jugend keine Verhandlungen geben würde. Der ausgehandelte Vertrag für die Teilinbetriebnahme war in der IGRF umstritten. In einer Abstimmung votierte eine Mehrheit für die Annahme. Nach der kurzfristigen Schliessung des AJZ war es wichtig, einen Fuss in der Roten Fabrik zu haben.
Im Oktober 1980 eroberten die Jugendlichen die Rote Fabrik mit einem für mich unvergesslichen Eröffnungsfest. Tausende kamen und verhalfen der Roten Fabrik mit Farbe zu einem neuen Aussehen. Endlich konnten sie ihrem Frust freien Lauf lassen. Dabei wurde auch der Fundus des Opernhauses geplündert. Wir hatten grosses Glück, dass es am Fest zu keinen Unfällen kam. Viele Jugendliche haben die Nacht in der Roten Fabrik verbracht. Am Sonntag fuhren die Eltern mit dem Mercedes vor und wollten ihre Kinder abholen. Diese verweigerten ihnen den Zutritt, sagten, dass sie alles Materielle bekommen hatten, aber wenig Liebe und Zuwendung erfahren durften. Die Eltern gingen ohne Kinder weinend heim. Diese Erlebnisse haben mir öfters schlaflose Nächte bereitet. Heute bin ich sicher, dass die Realisierung des Kulturzentrums nur dank dem Jugendaufstand möglich wurde.
Fazit: Es war damals wie heute mit den Klimaaktivisten: Erst als die Jungen auf die Strasse gingen, fanden unsere politischen Forderungen Gehör. Der Jugend sei Dank.

Beat Locher (*1948) war als Mitglied der SP Zürich 2 einer der Mitbegründer der IGRF.

Esther Eppstein

Am 30. Mai 1980 war ich 12 Jahre alt und im Probelokal vom Zirkus, wo ich unter anderem als Schlangenmensch auftrat. Ich sympathisierte schon bald mit der Bewegung, ich war an Demos mitgelaufen, ich musste vor prügelnden Polizisten fliehen. Doch ich war noch zu jung, um aktiv zu sein. Als Teenager bekam ich die Stimmung in der Stadt, den abgrundtiefen Hass auf Jugendliche, auf Künstlerinnen, Hippies, «Gammler», «Drögeler», auf alles was aufmüpfig und leicht unangepasst daher kam, zu spüren. «Ad Wand stelle!» oder «Moskau einfach», «söll mal go schaffä» hörte man täglich, im Tram, am Kiosk, auf der Strasse.
Was die «Spiesser» in Rage brachte, war die Unverfrorenheit, die Respektlosigkeit gegenüber der nicht in Frage zu stellenden Autorität, die blühende Fantasie und die grosse dadaistische Lust, ja überhaupt die Selbstermächtigung und das Selbstbewusstsein der Subkultur. Es ging um unabhängige Kulturräume und Freiräume, Orte der Zusammenkunft, der Gemeinschaft, der Auseinandersetzung, der Experimente.
Dies hat mich und meinen Weg in der Kultur zutiefst geprägt und beeinflusst, später in meinem Kunstraum message salon und in der Perla-Mode schwang das immer mit. Für mich war die Bewegung insofern nie zum Erliegen gekommen, weil sie mir immer ein prägender Einfluss und Reservoir war, in meiner Haltung und in meinem Selbstverständnis als Künstlerin.
Es dauerte allerdings noch eine Weile, bis das in der Zürcher Kulturpolitik ihren Niederschlag fand. Die Kreativität der Bewegung wurde brutal niedergeknüppelt und zersplittert, die achtziger Jahre leuchteten dunkel trotz neuen Räumen wie der Roten Fabrik, es kam zu einer kollektiven Depression mit Drogenelend hinterm Hauptbahnhof, und es dauerte eine Weile bis sich eine Erholung anzeigte.
Die Kulturstadt Zürich, die freie Szene, wäre ohne «D’Bewegig» nicht, was sie heute ist. Allerdings gerät dieser paradiesische Zustand nun ebenfalls in eine Starre mit einer Kulturpolitik, die mit Vereinnahmung, Return on Invest und Fördergremien ihre Kulturschaffenden unter Kontrolle zu halten vermag. Wo also ist die nächste Bewegung?

Esther Eppstein (*1967) aka Madame l’Ambassadeur, ist Künstlerin und Gastgeberin in ihrem Kunstprojekt message salon, an wechselnden Standorten in Zürich ohne Berührungsängste zu unterschiedlichsten Szenen. Seit 2015 erweitert zur Artist-Run Artist-Residence, lädt Madame l’Ambassadeur internationale Künstlerfreunde nach Zürich.

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